Ein Hauch von Verhandlungen schwebt über dem Krieg. Obwohl die Kämpfe andauern und die Positionen der Kriegsparteien kompromisslos bleiben, signalisierten zuletzt einige Akteure, dass sie sondieren wollten. So erklärte sich der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba überraschend für ein direktes Treffen mit seinem russischen Pendant Sergej Lawrow bereit, „falls die andere Seite solche Verhandlungen anfragt“. Man verzeichne militärische Fortschritte, „aber einige Erfolge der Ukraine dürften diplomatisch erreicht werden“, so Kuleba.
Ähnliches kommt aus Moskau, wenn Maria Sacharowa als Sprecherin des Außenministeriums betont, Russland sei „weiterhin für Verhandlungen, natürlich unter Beachtung der Gegebe
der Gegebenheiten, die sich gerade abzeichnen“. Vizeaußenminister Sergej Rjabkov ergänzt, man sei „offen für einen Dialog ohne Vorbedingungen“. Zugleich rufen US-Vertreter beide Staaten auf, „realistische Verhandlungspositionen“ einzunehmen.Unter manchen Kriegsreportern heißt es gar, dass amerikanisch-russisch-ukrainische Konsultationen womöglich schon begonnen hätten und es einen inoffiziellen Plan für eine Waffenruhe gäbe. Der überraschend angekündigte und innerhalb weniger Tage durchgezogene russische Abzug im Raum Cherson hinter den Dnjepr sei Teil dieses Tableaus. Es sehe vor, dass der Hauptfluss der Ukraine zu einer permanenten Trennlinie in einem eingefrorenen Konflikt werde.Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg: Worte stehen im Kontrast zu TatenWas hoffen lässt, erscheint bei genauerem Hinsehen eher als diplomatisches (Ablenkungs-)Manöver. Worte stehen im Kontrast zu realen Taten, denen zu entnehmen ist, dass an den Fronten für einen Fortgang der Kämpfe gerüstet wird. Russland lässt einen 15 Kilometer breiten Streifen entlang des Dnjepr evakuieren und baut massive Befestigungsanlagen auf dem Ostufer des Flusses, um gegnerische Offensiven abwehren zu können.Zeitgleich deutet sich eine „Winterkampagne“ an, wenn in Moskau davon die Rede ist, dass man die Kältezeit nutzen solle, um eine Offensive zu starten und wieder die militärische Initiative zu übernehmen. „General Frost“ war schon in manchem Krieg ein Verbündeter. Dementsprechend wird für die nächsten Monate eine maximal kalte Jahreszeit erhofft, die Kampfhandlungen zum eigenen Vorteil beeinflusst. Ohnehin wird damit gerechnet, dass die russischen Truppen im Januar wieder ihre volle Personalstärke erreichen, wenn bis dahin alle Mobilisierten zur Verfügung stehen.Mobilisierung in der UkraineIn Kiew wiederum brachte Präsident Wolodymyr Selenskyj am 8. November einen Gesetzesentwurf in die Rada ein, der die Mobilmachung um drei Monate verlängern soll. Es gilt als sicher, dass die Initiative auf keinerlei Widerstand stößt und demnächst bis zu 100.000 Wehrpflichtige eingezogen werden. Wer von früheren Wellen der Mobilisierung verschont blieb, müsse nun mit baldiger Einberufung rechnen, so die Tonlage in ukrainischen Medien. Laut Verteidigungsminister Oleksij Resnikow werde die ukrainische Armee über den Winter zudem mit „Tausenden Soldaten gestärkt“, die derzeit in Großbritannien eine Schnellausbildung durchliefen. „Wir nutzen die Zeit effektiv“, so Resnikow.Passend dazu gab Washington vor Tagen neue Waffenlieferungen an Kiew bekannt. Selbst wenn es in den Wintermonaten zu weniger Kampfhandlungen kommen sollte, suggerieren ukrainische Quellen, dass spätestens im Frühjahr mit einer neuen Offensive zu rechnen sei – vermutlich in der Region Saporischschja. Ziel dürfte es sein, einen Keil in das russisch kontrollierte Gebiet zu treiben und dadurch die Landverbindung zwischen der Krim und dem Donbass zu kappen. Mit anderen Worten: Im Winter wird aufgerüstet, im Frühling zugeschlagen. Dass die ukrainische Führung diese Pläne verwirft und sich an den Verhandlungstisch begibt, gilt als beinahe unmöglich, zumal mit dem Einzug in Cherson die Siegeszuversicht erneut kulminiert.USA fürchtet Ukraine-MüdigkeitSelbst wenn Kiew zu Kompromissen bereit sein sollte, steht das Ziel nicht zur Disposition, sämtliche Territorien inklusive der Donbass-Republiken und der Krim zurückzuerobern sowie Russland zu umfangreichen Reparationszahlungen zu zwingen. Insofern scheinen Ansagen hier wie dort, es gäbe eine latente Gesprächsbereitschaft, nichts weiter als politische Nebelkerzen zu sein – die klassischen Manöver, um einerseits mehr Zeit für die militärische Selbstermächtigung zu gewinnen und andererseits auf dem internationalen Parkett nicht an Reputation zu verlieren.Die Washington Post ließ unter Berufung auf die US-Regierung anklingen, dass amerikanische Aufrufe an Kiew, sich konziliant zu zeigen, ganz anders zu erklären seien als mit dem Bedürfnis nach einer Waffenruhe. Das Beteuern von Verhandlungswillen solle kein Vorspiel für den Weg zum Verhandlungstisch sein, sondern lediglich sicherstellen, dass Kiew in den Augen seiner internationalen Unterstützer „eine moralische Überlegenheit behält“.Es gehe um einen „kalkulierten Versuch“, unentschlossene Regierungen zu bewegen, ihre Hilfen weiter aufrechtzuerhalten. „Ukraine-Müdigkeit ist für einige unserer Partner eine reale Sache“, wird ein US-Beamter zitiert, der anonym bleiben wollte. Die Verhandlungsperspektive solle eine womöglich wachsende Indifferenz überbrücken. So entstehen trügerische Hoffnungen auf eine Feuerpause, während im Hintergrund ungerührt Vorkehrungen für die nächsten Schlachten getroffen werden.