Neoliberal wird zu neofeudal

Behörden Häufig dauert es Monate, bis bei den Berliner Ämtern ein Termin frei ist. Gegen Geld geht es schneller
Ausgabe 32/2015
Algorithmus müsste man haben. Auch für das Bürgeramt
Algorithmus müsste man haben. Auch für das Bürgeramt

Foto: Hohlfeld/Imago

Strukturelle Inkompetenz war ein wesentliches Merkmal mittelalterlicher Amtsträger. Damals erwarben die meisten Staatsdiener ihre Position nicht per Qualifikation, sondern durch Erbe. Oder sie bezahlten einfach dafür. Die Abgaben, die sie für ihren Status entrichten mussten, trugen hübsche Namen, die nach Singvögeln klangen: Bei Staatsbeamten war es die „Paulette“, beim Klerus die „Simonie“. Die vormodernen Verbraucher duldeten diese institutionalisierte Korruption lange Zeit.

Heute mag uns solch aristokratische Schattenökonomie wie ein Übel absolutistischer Zeiten vorkommen. Aber wie man dank Karl Marx weiß, tragen sich historische Ereignisse immer zweimal zu: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Letztere zeigt sich dieser Tage in Berlin. Durch die Amtsstuben der Hauptstadt weht wieder der Wind des Kapitals. Diesmal liegt das indes nicht an korrupten Beamten, sondern an der, zugegeben, raffinierten Geschäftsidee eines privaten Online-Portals.

Nun muss man wissen: Berlin ist praktisch ein failed state, jedenfalls was seine Bürgerämter anbetrifft. Selbst bei einfachen Anliegen wie der Ummeldung des Wohnsitzes muss man mitunter monatelang auf einen Termin warten, weil die Behörden chronisch unterbesetzt sind. Vor diesem Hintergrund wird auf der Internetplattform buergeramt-termine.de nun ein buchstäblicher Terminhandel aufgezogen. Die Gründer Jörn Kamphuis, Martin Becker und Mateus Kratz haben einen Algorithmus programmiert, der die Terminkalender der Ämter rund um die Uhr scannt, um kurzfristig frei werdende Slots aufzuspüren. Die „Servicegebühr“ für die Vermittlung eines Termins an einen Bürger innerhalb der nächsten fünf Tage kostet 25 Euro, für einen Termin innerhalb von 48 Stunden fallen 45 Euro an. Seit das Portal Anfang Juni online gegangen ist, gab es nach Aussage der Betreiber über 150 Anfragen, von denen immerhin 70 erfolgreich bearbeitet werden konnten.

Die Senatsverwaltung ist von diesem Geschäftsgebaren freilich nicht begeistert. Momentan versucht man von dort aus, mit technischen Mitteln gegen den Algorithmus vorzugehen. Denn rechtlich hat man, wie es aussieht, keine Handhabe. Schließlich, so betonen es jedenfalls die Online-Betreiber, handele es sich um eine ganz normale Dienstleistung. Es würden keine Bürgertermine gezielt von den Onlinehändlern blockiert, sondern es werde lediglich für eine „effizientere“ Organisation der Terminvergabe gesorgt.

Also doch irgendwie eine dufte Sache? Mitnichten. Denn für diejenigen, die sich die kostenpflichtige Vermittlung nicht leisten wollen oder können, werden die Chancen, einen einigermaßen zeitnahen Behördentermin zu bekommen, nun noch kleiner. Macht das Schule, wäre es schlichtweg der Anfang einer Zweiklassen-Bürokratie.

Gleichwohl ist das besagte Online-Portal eher ein Symptom als das eigentliche Problem. Die dialektische Pointe besteht darin, dass sich in der gewinnorientierten Ausnutzung eines Systemfehlers – der chronischen Unterfinanzierung der Berliner Behörden – letztlich die Logik des Systems selbst offenbart: Bürger sollen zu Kunden werden. Dieser Imperativ des neoliberalen New Public Management prägt spätestens seit der Schröder-Ära auch hierzulande das Leitbild öffentlicher Verwaltungen. Setzt sich diese ökonomische Kolonisierung öffentlicher Güter noch weiter fort, wäre man am Ende tatsächlich wieder bei Marx: Der Spätkapitalismus, eine neo-feudale Farce.

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