Strukturelle Inkompetenz war ein wesentliches Merkmal mittelalterlicher Amtsträger. Damals erwarben die meisten Staatsdiener ihre Position nicht per Qualifikation, sondern durch Erbe. Oder sie bezahlten einfach dafür. Die Abgaben, die sie für ihren Status entrichten mussten, trugen hübsche Namen, die nach Singvögeln klangen: Bei Staatsbeamten war es die „Paulette“, beim Klerus die „Simonie“. Die vormodernen Verbraucher duldeten diese institutionalisierte Korruption lange Zeit.
Heute mag uns solch aristokratische Schattenökonomie wie ein Übel absolutistischer Zeiten vorkommen. Aber wie man dank Karl Marx weiß, tragen sich historische Ereignisse immer zweimal zu: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Letztere zeigt sich dieser Tage in Berlin. Durch die Amtsstuben der Hauptstadt weht wieder der Wind des Kapitals. Diesmal liegt das indes nicht an korrupten Beamten, sondern an der, zugegeben, raffinierten Geschäftsidee eines privaten Online-Portals.
Nun muss man wissen: Berlin ist praktisch ein failed state, jedenfalls was seine Bürgerämter anbetrifft. Selbst bei einfachen Anliegen wie der Ummeldung des Wohnsitzes muss man mitunter monatelang auf einen Termin warten, weil die Behörden chronisch unterbesetzt sind. Vor diesem Hintergrund wird auf der Internetplattform buergeramt-termine.de nun ein buchstäblicher Terminhandel aufgezogen. Die Gründer Jörn Kamphuis, Martin Becker und Mateus Kratz haben einen Algorithmus programmiert, der die Terminkalender der Ämter rund um die Uhr scannt, um kurzfristig frei werdende Slots aufzuspüren. Die „Servicegebühr“ für die Vermittlung eines Termins an einen Bürger innerhalb der nächsten fünf Tage kostet 25 Euro, für einen Termin innerhalb von 48 Stunden fallen 45 Euro an. Seit das Portal Anfang Juni online gegangen ist, gab es nach Aussage der Betreiber über 150 Anfragen, von denen immerhin 70 erfolgreich bearbeitet werden konnten.
Die Senatsverwaltung ist von diesem Geschäftsgebaren freilich nicht begeistert. Momentan versucht man von dort aus, mit technischen Mitteln gegen den Algorithmus vorzugehen. Denn rechtlich hat man, wie es aussieht, keine Handhabe. Schließlich, so betonen es jedenfalls die Online-Betreiber, handele es sich um eine ganz normale Dienstleistung. Es würden keine Bürgertermine gezielt von den Onlinehändlern blockiert, sondern es werde lediglich für eine „effizientere“ Organisation der Terminvergabe gesorgt.
Also doch irgendwie eine dufte Sache? Mitnichten. Denn für diejenigen, die sich die kostenpflichtige Vermittlung nicht leisten wollen oder können, werden die Chancen, einen einigermaßen zeitnahen Behördentermin zu bekommen, nun noch kleiner. Macht das Schule, wäre es schlichtweg der Anfang einer Zweiklassen-Bürokratie.
Gleichwohl ist das besagte Online-Portal eher ein Symptom als das eigentliche Problem. Die dialektische Pointe besteht darin, dass sich in der gewinnorientierten Ausnutzung eines Systemfehlers – der chronischen Unterfinanzierung der Berliner Behörden – letztlich die Logik des Systems selbst offenbart: Bürger sollen zu Kunden werden. Dieser Imperativ des neoliberalen New Public Management prägt spätestens seit der Schröder-Ära auch hierzulande das Leitbild öffentlicher Verwaltungen. Setzt sich diese ökonomische Kolonisierung öffentlicher Güter noch weiter fort, wäre man am Ende tatsächlich wieder bei Marx: Der Spätkapitalismus, eine neo-feudale Farce.
Kommentare 5
"Kundenzentren": ein sicherster Beweis dafür, dass man Bürger als "Kunden" nicht nur einzuseifen versucht: sondern nachgeradezu einbalsamieren möchte mit einem bekennerhaft wirkenden Enthusiasmus, der sich am Telefon bereits meldet mit:"Willkommen in Ihrem Bürgerkundenzentrum".
Termine, wie beim Frisör, zu dem man wenigstens noch hingehen möchte um sich barbieren zu lassen.
"Aber wie man dank Karl Marx weiß, tragen sich historische Ereignisse immer zweimal zu: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. "
....(tolles) "Wechsel-Spiel"...immer wieder!
.....und/aber:"WEHE dem, DER....!!!"
....und die OPFER und das LEID "spielen" offenbar "da" keine "Rolle"!
...und stellt sich "nur" die Frage, wo(rin) Wir uns gerade befinden?
....und/aber...(eigentlich/"wohl") egal?!....oder!?
"Setzt sich diese ökonomische Kolonisierung öffentlicher Güter noch weiter fort, wäre man am Ende tatsächlich wieder bei Marx: Der Spätkapitalismus, eine neo-feudale Farce."
Wer es etwas moderner mag, kann die Prozesse auch in R. Luxemburgs "Die Akkumulation des Kapitals" von 1913 nachlesen.
Danke für den Beitrag. Schön auch: "Berlin ist praktisch ein failed state,....."
War in Berlin nicht die Linke mit an der Macht/Senat (wie immer das in Berlin organisiert ist?)
Oder worauf sind die katastrophalen Zustände in der Hauptstadt zurückzuführen? Und wie sieht das eigentlich mit dem in Berlin residierenden Bundes-Politadel aus? Muss die auch warten oder bekommen die Vorzugsbehandlung?
Hilfloses Feuilleton und primitive Wutbürger versus raffinierte Algorithmen und hilflose Administration
Feuilleton:
"Heute mag uns solch aristokratische Schattenökonomie wie ein Übel absolutistischer Zeiten vorkommen. Aber wie man dank Karl Marx weiß, tragen sich historische Ereignisse immer zweimal zu: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce."
"Die dialektische Pointe besteht darin, dass sich in der gewinnorientierten Ausnutzung eines Systemfehlers – der chronischen Unterfinanzierung der Berliner Behörden – letztlich die Logik des Systems selbst offenbart: Bürger sollen zu Kunden werden."
Algorithmen:
"Die Gründer Jörn Kamphuis, Martin Becker und Mateus Kratz haben einen Algorithmus programmiert, der die Terminkalender der Ämter rund um die Uhr scannt, um kurzfristig frei werdende Slots aufzuspüren."
"Es würden keine Bürgertermine gezielt von den Onlinehändlern blockiert, sondern es werde lediglich für eine „effizientere“ Organisation der Terminvergabe gesorgt."
Ungläubiger "Kunde" Bürger: Ich würde mir einen einfachen (undialektischen) Bericht des LKA wünschen wie das alles zusammengeht. Welche Software greift wo an? Wie sehen diesbezügliche Screenshots aus? Angeblich werden keine Scheintermine unter Verwendung falscher Mailadressen vereinbart. Wie geht das vor sich, wenn der raffinierte Algorithmus dem "primitiven" (weil informatisch ungebildeten) Bürger den Termin wegschnappt? Kennt der Algorithmus Gnade, etwa, daß er sich mit einem Scan bis 2020 begnügt? Wie schlau sind die Algorithmen der Administration, wenn sich jemand online mit Personalausweisnummer oder Führerscheinnummer oder einer sonstigen zuordbaren Dokumentennummer anmelden würde und pro Nummer auch nur EIN kostenpflichtiger Termin (Online-Buchung führt zur Zahlungsverpflichtung) vergeben werden könnte? Wäre es eine gute "Pointe", wenn man die Berliner Verwaltung noch vor den schlauen Algorithmus-Leuten zur Rechenschaft zieht?