Arbeit Sie bringen Essen und Einkäufe an die Haustür, doch einen Tarifvertrag enthält Lieferando ihnen vor: Kuriere aus ganz Deutschland streiken, die Gewerkschaft NGG legt sich ins Zeug – eine nicht immer leichte Kooperation
„Hallo, ich hatte 17 Euro Stundenlohn, Sonderschichtzulagen und einen Tarifvertrag bestellt, ist denn da niemand?“
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Besorgt blickt Leonard M. in den bewölkten Himmel über Berlin-Kreuzberg. „Hoffentlich regnet es heute nicht“, sagt er. Seit zwei Jahren arbeitet Leonard M. als Rider, also als Kurierfahrer für Essensbestellungen bei Lieferando. Statt seiner orangen Arbeitskleidung trägt er heute eine schwarze Streikweste, auf deren Rückseite das orange-weiße Lieferando-Logo – ein Haus mit Messer und Gabel – zur schwarz-weißen Piratenflagge abgewandelt ist, darunter der Schriftzug „Streikerando“.
Leo ist einer der Organisatoren des Warnstreiks der Lieferando-Kurierfahrer in Berlin an diesem Donnerstagvormittag im August. Kuriere aus ganz Deutschland reisen extra an, Regen könnte schlecht sein für die Beteiligung. Bundesweit ist
sweit ist dies schon die fünfte Arbeitsniederlegung 2023, diesmal soll es am Nachmittag noch einen mehrstündigen Protest vor der Lieferando-Deutschlandzentrale geben. Bereits im März waren etwa 200 Rider hier zusammengekommen – der Auftakt der Tarifkampagne der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), einer der acht großen Einzelgewerkschaften im Deutschen Gewerkschaftsbund. Die NGG will einen Tarifvertrag bei Lieferando erkämpfen.In Deutschland ist die Tarifbindung seit vielen Jahren rückläufig, laut DGB haben 1998 noch 76 Prozent der Beschäftigten im Westen und 63 Prozent derer im Osten von einem Tarifvertrag profitiert – 2022 waren das bundesweit nur noch 51 Prozent.Tarifverträge in Tech-Unternehmen wie Lieferando, wie sie in den vergangenen 20 Jahren entstanden, sind rar. Ein Gewerkschafter, der Tech-Beschäftigte vertritt und anonym bleiben möchte, sagt: „Mittlerweile akzeptieren einige Unternehmen zähneknirschend Betriebsräte, aber meistens sind gar nicht so viele Beschäftigte bereit, in eine Gewerkschaft einzutreten, dass sich der Kampf um einen Tarifvertrag lohnt. Die meisten Gewerkschaften schrecken vor so einem Kampf zurück.“ Die Lieferdienst-Kuriere aber sind heute aktiver und besser organisiert als viele andere Beschäftigte der Tech-Branche. 2016 gab es in London den ersten wilden Streik. Seitdem formiert sich immer wieder Protest, auch in Deutschland. Bereits 2017 gründete sich die Deliverunion-Kampagne, damals unter Schirmherrschaft der Freien Arbeiter*innen-Union (FAU), einer kleinen basisdemokratischen Gewerkschaft in anarchistischer Tradition.Auf dem Markt der Lieferdienste selbst herrscht, ob der dynamischen Konkurrenzsituation und des prekären Geschäftsmodells, ein Kommen und Gehen. Die Unternehmen sammeln bis heute unglaubliche Beträge ein, um zu wachsen und mit anderen Lieferdiensten um eine Monopolstellung in ihrem Marksegment zu konkurrieren. Konkurrenzfähig bleiben sie unter anderem durch geringe Kosten, die sie durch niedrige Löhne, wenig Betriebsstätten, kaum Arbeitsmaterialien und durch algorithmisch gesteuerte Arbeit erreichen.Von Uber Eats bis GetirDeliveroo hat seinen Betrieb in Deutschland bereits 2019 eingestellt. Aktuell teilen sich Lieferando, Wolt und Uber Eats den Markt der Essensauslieferungen auf, Getir und Flink den der Supermarkt-Lieferungen. Lieferando, das zum niederländischen Konzern Just Eat Takeaway gehört, sei aber das einzige wirklich profitable Unternehmen, sagt der Sozialwissenschaftler Janis Ewen von der Universität Hamburg. Er beschäftigt sich schon lange mit den Arbeitsbedingungen in der Plattformwirtschaft. Die schwarzen Zahlen hätten aber weniger mit dem Rider-Geschäft zu tun, so Ewen, „sondern der absolute Großteil der Bestellungen, die bei Lieferando eingehen, wird von den Restaurants selbst abgewickelt. Das ist das Geschäftsmodell, mit dem Lieferando am Ende Geld macht.“ Nur acht oder neun Prozent aller Bestellungen würden überhaupt mit eigenen Ridern abgewickelt, der Rest von den Restaurants, die also auch an diesem Streik-Donnerstag störungsfrei ausliefern werden. Noch etwas unterscheide Lieferando von seiner Konkurrenz, sagt Ewen: Lieferando stellt seine rund 7.000 Beschäftigten fest an, also auch die Kuriere.Um 15 Uhr scheint in Berlin-Kreuzberg die Sonne. 100 Kuriere aus ganz Deutschland, dazu 50 aus Berlin, sind gemeinsam mit Leo in den Streik getreten und vor der Lieferando-Zentrale angekommen. Die Stimmung ist gut. Ein Kurierfahrer trommelt, laute Punkmusik und alte Gewerkschaftslieder dröhnen im Wechsel aus den Boxen, immer wieder schallt es: „Riders unite, together we strike!“ Mark Baumeister, Verhandlungsführer der NGG, macht lauthals Stimmung für den Tarifvertrag. Aber wofür braucht es den überhaupt? Reichen die 20 Betriebsräte, die es mittlerweile in Deutschland gibt, nicht aus, um die Probleme der Kuriere mit Lieferando zu regeln? „Die Betriebsräte kümmern sich vor Ort um Arbeitsschutz und -sicherheit, um die Einhaltung der Dienstpläne, aber nur der Tarifvertrag kann der Willkür Lieferandos entgegenwirken“, sagt der Gewerkschaftssekretär. „Ohne Tarifvertrag können wir niemals Lohnverbesserungen für die Beschäftigten erreichen.“Erst kürzlich berichtete Report Mainz, Lieferando zahle den Kurieren lediglich Mindestlohn, zusätzlich intransparente Boni mit enormen Schwankungen der Zahlungen. Ein Tarifvertrag würde einen einheitlichen Lohn regeln, und nicht nur das, wenn es nach Baumeister geht: „Wir wollen mindestens 15 Euro Stundenlohn als Einstieg im ersten Jahr, dann jedes Jahr einen Euro mehr, bis es im dritten Jahr 17 Euro sind, dann Sonderschichtzulagen und Zahlungen für besondere Erschwernisse wie Regen und Entfernungszulagen. Das ist in anderen Unternehmen normal, warum sollte es bei Lieferando anders sein?“ Die NGG fordert zudem ein 13. Monatsgehalt, die Einberechnung der Heimfahrt nach der letzten Lieferung und eine Kilometerpauschale von 50 Cent netto für Mitarbeitende, die das eigene Auto zur Auslieferung nutzen.Baumeister will aber auch die intransparente algorithmische Steuerung, die Unternehmen wie Lieferando auszeichnet, durch den Tarifvertrag regeln lassen. Das wäre ein Novum in Deutschland. Die Algorithmen gelten als Geschäftsgeheimnisse der Tech-Unternehmen. „Dabei wäre es ganz einfach“, sagt Baumeister, „man müsste rechtsverbindliche Paragrafen für den Algorithmus erarbeiten. Bei einer Änderung, die zur Folge hat, dass sich die Arbeitsweise, die Arbeitsform oder der Betrieb ändert, ist das eben mitbestimmungspflichtig. So ein Algorithmus ist kein Hexenwerk. Das ist auch wichtig, wenn das Unternehmen mal verkauft oder übernommen wird und es auf einmal eine neue Taktung der Auslieferung gibt. Dann müssen die Betriebsräte Einblick in die Dienst- und Personalpläne, also in den Algorithmus bekommen, um zum Beispiel mehr Personal fordern zu können.“Lieferando zeigt bisher keinerlei Bereitschaft, über einen Tarifvertrag zu verhandeln. Schon bei manchen Betriebsratswahlen hatte die NGG Lieferando vorgeworfen, Mitbestimmung zu verhindern; mit der sozialpartnerschaftlichen Einvernehmlichkeit, bei der Gewerkschaft und Arbeitgeber alle paar Jahre hinter verschlossenen Türen etwas aushandeln, hat der Konflikt nicht viel zu tun. Um Lieferando an den Verhandlungstisch zu zwingen, braucht es Druck, also viele organisierte Kuriere. Nur als Gewerkschaftsmitglied dürfen sie streiken und erhalten Streikgeld, nur mit vielen Streiktagen kann die NGG Lieferando wirtschaftlich empfindlich treffen. An ihren Stehtischen vor der Firmenzentrale werden an diesem Tag viele neue Mitgliedsformulare ausgefüllt. Wie viele Kuriere der NGG inzwischen beigetreten sind, will Baumeister nicht offenlegen, sagt aber: „Die Kampffähigkeit, die wir haben müssen, um eine Tarifauseinandersetzung zu führen, ist jetzt hergestellt.“Die Gewerkschaft bewegt sichDer Lieferando-Fahrer Moritz W. hat gemischte Gefühle, was den Tarifkampf der NGG angeht. Er ist Mitglied des Betriebsrats und zurzeit vor allem in dessen Büro in Kreuzberg anzutreffen. W. hat die Kollektive mit aufgebaut, in denen sich die Kuriere in Berlin schon seit längerem auf lokaler Ebene eng vernetzen. Es gibt Workers Collectives bei Getir, Lieferando und Wolt.Wenn einer das Kurierunternehmen wechselt, was häufig passiert, dann tritt er einfach in ein anderes Kollektiv ein. Die Kollektive agieren sehr offen, jemand kann sich auch einbringen, wenn er kein Deutsch spricht oder noch nicht weiß, ob er sich wirklich zum Kurierjob oder zur Gewerkschaftsarbeit verpflichten will. Gerade die Sprachbarrieren hätte die NGG lange ignoriert, kritisiert Moritz W.: „Die meisten Kuriere kommen nicht aus Deutschland. Wir haben viele Fahrer aus Indien, Pakistan und Nordafrika.“ Zwischen dem Lieferando Workers Collective und der Gewerkschaft NGG kam es bei den Betriebsratswahlen 2022 zum Konflikt, berichtet W., damals hätten sie sich nicht darauf einigen können, mit einer gemeinsamen Liste anzutreten, zu unterschiedlich seien die Ansätze zu gewerkschaftlicher Politik gewesen. Vor einem Jahr sei die NGG in Berlin noch sehr „in der alten Gewerkschaftslogik“ verhaftet gewesen, sagt W., „bei der jemand eben erst vertreten wird, wenn er auch Mitglied ist“. Aber er erkennt an, dass sich bei der NGG etwas bewegt. „Es gibt jetzt Flyer in mehreren Sprachen.“ W. selbst ist sowohl Mitglied im Lieferando Workers Collective als auch in der NGG. Das seien nicht viele.NGG-Sekretär Baumeister weiß um die Konflikte und kennt Vorbehalte seiner eigenen Gewerkschaftskollegen, teilt sie aber nicht: „Beschäftigte, die sich selbst organisieren, wo ich also nicht erst hinfahren und das mühsam anstoßen muss – das ist doch eine großartige Situation für uns als Gewerkschaft!“ Die NGG könne auch von den Kollektiven lernen, „wie man ausländische Communitys erreicht. Das schaffen wir noch nicht gut, dabei sind das gerade die, für die wir was erreichen müssen.“ Der Nachholbedarf ist an diesem Nachmittag vor der Firmenzentrale kaum zu merken: Arabisch, Spanisch, Englisch, Deutsch und Schwäbisch sind zu hören, ein Fahrer, der vor drei Jahren aus Indien nach Deutschland gekommen ist, erzählt: Dies sei seine erste positive Erfahrung mit einer Gewerkschaft überhaupt. Er will für einen Tarifvertrag kämpfen: „Lieferando hat die schlechtesten Arbeitsbedingungen in der Gastrobranche. Das muss sich ändern.“ Was aber, wenn Lieferando einfach weiter auf stur schaltet? „Wir haben einen langen Atem“, sagt Leonard M. – den werden sie brauchen; bei Amazon dauert der Kampf um einen Tarifvertrag schon zehn Jahre. Auch am Tag nach dem Streik bewegt sich Lieferando nicht. Eine Unternehmenssprecherin sagt dem Freitag: „Ein Inseltarifvertrag würde Wettbewerbsunterschiede weiter verschärfen, sodass noch weniger Anbieter direkt anstellen, zulasten der Rechte und Bezüge von Kurierfahrenden branchenweit.“Inzwischen erhielten laut NGG 20 Kuriere eine Mail von Lieferando, der zufolge sie erklären sollten, warum sie an dem Donnerstag „unentschuldigt“ gefehlt hätten. Lieferando widerspricht: „Wir wenden uns standardmäßig per E-Mail an Fahrer, die ihre Schicht ohne Angaben von Gründen oder ohne Abmeldung nicht antreten, um ihnen die Möglichkeit zu geben, eine Begründung nachzureichen. Bei einem Streik ist diese E-Mail selbstverständlich gegenstandslos und kann unbeantwortet bleiben, da streikende Mitarbeiter von ihrer Arbeits- und Abmeldepflicht entbunden sind.“ Die NGG wertet die Mails dennoch als Einschüchterungsversuch – und plant als Nächstes Streiks von bis zu 48 Stunden.