Der 22-jährige Hedi war in der Nacht zum 2. Juli bloß neugierig. Was ihm in Marseille passierte, geschah in keiner Straßenschlacht, an der er beteiligt war. Hedi stand abseits, als ein Geschoss aus einer LBD40 ihn niederstreckte. Die Waffe, ursprünglich fürs Militär gedacht, kann einen Menschen auf 40 Meter Distanz treffen – Polizisten nennen die Wirkung „subletal“. Der Schwerverletzte wurde nach dem Schuss mit Fäusten und Schlagstöcken traktiert. Dies hat ein Untersuchungsrichter rekonstruiert und eine Liste der Blessuren verfasst, die drei Seiten lang ist, angefangen mit schweren Kopfverletzungen. Überlebt hat Hedi nur, weil ein Freund ihn fand, zum Hospital fuhr und eine Notoperation die Hirnblutung stoppte. Mohamed hatte weniger Glück, er fiel tot von seinem Scooter. Die Autopsie zeigte zwei LBD-Einschläge, einen davon direkt in der Herzgegend. Der Junge wurde von der Anti-Terroreinheit RAID beschossen – vom Turm eines RAID-Panzers aus, mit einer nicht konformen Waffe. Diese Elitetruppe ist für Unruhen weder ausgebildet noch ausgerüstet, Innenminister Darmanin hatte trotzdem ihren Einsatz befohlen.
Diese Bilanz ist informeller Natur, keine offizielle Statistik. Frankreichs Polizei hat das Aufbegehren der Vorstadtjugend in diesem Sommer mit einiger Brutalität unterdrückt. Ihr grober Umgang mit den Bürgern, für deren Sicherheit sie eigentlich sorgen sollte, ist bekannt. Treten die Beamten gar in Robocop-Vollmontur auf – doppelsinnig „Reizwäsche“ genannt –, bewegt man sich besser gar nicht mehr. Bei Verkehrskontrollen erschossen die Ordnungshüter seit 2020 zwei Dutzend Menschen, bei Demonstrationen wurden zwischen November 2018 und Februar 2022, also noch vor den Protesten gegen die Rentenreform, fast 1.000 teils schwer verletzt.
Alarmiert hinterfragen seither Europarat, UN und Menschenrechtler eine Einsatzdoktrin der „exzessiven Gewalt“ und ein rassistisches Profil der Ordnungskräfte. Der Polizist, der nach vier Wochen des Leugnens den Schuss auf Hedi gestand („Er trug einen Kapuzenpulli“), enthüllte die geltende Order: „Man hat uns gesagt: Verhaftet niemanden, die Zellen sind voll, aber schafft Ordnung, mit allen Mitteln.“ Wie üblich in solchen Fällen decken sich Beamte gegenseitig, fälschen Protokolle und kriminalisieren ihre Opfer. Agnès Naudin, aktive Polizeioffizierin im Rang eines Capitaine, hat diese Praktiken in ihrem Buch Police: la loi de l’omerta (Polizei: das Gesetz des Schweigens), erschienen 2022, beschrieben. Die Polizeihierarchie, zumeist auch die Justiz deckten das Treiben, wie sie zugleich Rassismus im Korps tolerierten.
Bewaffnete Proletarier
Als die Täter nach dem Vorfall in Marseille verhört worden waren und das Büro des Richters verließen, standen Polizisten applaudierend Spalier. Nur der Schütze blieb in Untersuchungshaft. Da musste der Kontrast zu den in über 1.000 Eilverfahren abgeurteilten jugendlichen Rebellen ins Auge fallen, von denen 600 sofort in Haftanstalten abwanderten. Inzwischen stellt sich der Generaldirektor der Polizei hinter die Flics: Er könne nicht schlafen, sagt er zum „Fall Hedi“, solange ein Polizist in Arrest sitze. Der Polizeipräfekt von Paris sekundiert, sodass Staatsrechtler entsetzt reagieren. Statt die beiden Männer zu feuern, solidarisiert sich Innenminister Gérald Darmanin mit ihnen und hält Polizeigewalt für eine „linke Erfindung“. Ein Grund für Emmanuel Macron, den Minister abzusetzen? Keineswegs, der Präsident hat schließlich „Ordnung, Ordnung, Ordnung“ befohlen.
Für Demokraten ist das verstörend, aber erhellend. Die Polizei sollte das verbriefte Recht aller sichern, besonders das Recht auf Leib und Leben. Niemals dürfe sie Sonderinteressen dienen, so steht es in Artikel 12 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Theatralisch fragt Olivier Faure, Chef der Sozialisten: „Hat Frankreich noch einen Staatschef?“ Und der Kopf der Linken, Jean-Luc Mélenchon, ergänzt, Macron habe die Kontrolle über die Polizei verloren. Wenn manche vermuten, sie hätte die Macht im Staat übernommen, ist das zu wohlfeil gedacht. Nicht die Polizei regiert – Macron regiert allein, aber mit und über die Polizei. Emmanuel Blanchard, Ko-Autor eines Standardwerks zur Geschichte der Polizeikorps, kennt die Regel: „Je geringer die Legitimität der Regierenden, desto stärker stützen sie sich auf die Polizei, die sie brauchen, um die sozialen Bewegungen zu unterdrücken.“ So gesehen sind die Polizisten die bewaffneten Proletarier eines zunehmend radikalisierten Staates.
Polizeioffizierin Agnès Naudin spricht vom Zwang zur ständigen Konfrontation mit der Bevölkerung. „Wir sollen die Regierung schützen, nicht die Menschen.“ Die Jagdszenen während der Rentenreform, als Polizisten friedliche Demonstrationen zusammenschlugen, liefern den Film dazu. Macron regiert gegen Frankreich, da ist es nur logisch, wenn das Land in seiner bisherigen Amtszeit permanent in Wallung ist. Der Präsident hat novellierte Sicherheitsgesetze auf den Weg gebracht, redet über „Verlierer“ und eine grassierende „Entzivilisierung“, was augenscheinlich eine militarisierte Polizei zur Folge hat. Das sei zwar bedenklich, heißt es allenthalben, aber eine Tendenz in beinahe allen Ländern Europas. Nicht wirklich ein Trost.
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