Aufstand in Frankreich: Die Gräben werden sich nicht mehr schließen, wissen die Aufrührer
Ausnahmezustand An vielen Hauswänden in Frankreichs Hafenstadt Marseille steht nicht nur das übliche „ACAB“ (all cops are bastards) und „Gerechtigkeit für Nahel“, sondern auch die Drohung: „Ohne Gerechtigkeit nie mehr Frieden!“
Frankreichs Polizeigewerkschaften sehen sich im „Krieg gegen die wilden Horden“, gegen „Schädlinge“
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Eigentlich war es ein fast schon alltäglicher Vorgang: Am 27. Juni erschoss die Polizei in der Pariser Vorstadt Nanterre den 17-jährigen Nahel Merzouk. Der habe sich einer Anordnung entziehen wollen und das Leben der Beamten gefährdet, hieß es. In der Regel kommen Polizisten bei derartigen Fällen mit der Notwehr-Vermutung davon, fatale Routine eben. Doch im Fall Nahels tauchten Bilder auf. Blitzartig verbreitete sich über die sozialen Netzwerke ein kurzes Handy-Video. Das gelbe Fahrzeug steht an einer Ampel, die Polizisten daneben, einer droht Nahel mit der Schusswaffe, das Auto rollt langsam einen Meter weiter, ein Schuss fällt. „Knall ihn ab!“ ist wahrscheinlich das Letzte, was Nahel hört. Einige Stunden später brennt Nanterre, kur
kurz darauf hat der Aufruhr gut 300 Städte erfasst.Ein Funke genügt, um eine Revolte zu zünden. Nora, angehende Biologie-Studentin in Marseille, meint: „Nahel, das könnte ich sein. Unser Lebensgefühl ...“ Der Rest geht im Lärm eines tief fliegenden Polizeihelikopters unter. Nora beeilt sich, wegzukommen, raus aus Tränengasschwaden am Alten Hafen. Die Zeit für Diskussionen ist vorbei. Nach fünf chaotischen Nächten resümiert Innenminister Gérald Darmanin zum Wochenbeginn: landesweit gut 250 Angriffe auf Kommissariate und Kasernen der Gendarmerie, zudem etwa 1.000 zerstörte oder beschädigte Gebäude, darunter Rathäuser, Einkaufszentren, Restaurants. Es gibt zu diesem Zeitpunkt zwei Tote – ein Demonstrant und ein Feuerwehrmann –, gut 10.000 Barrikaden-Feuer loderten, mehr als 5.000 Fahrzeuge brannten aus.In Marseille brüllen sie „Jetzt sind wir das Gesetz“Wer sich nach dem 27. Juni auf Frankreichs Straßen bewegt, erfährt die Explosion einer Wut, die so lange schon schwelt. Die Aufständischen handeln mit grimmiger Entschlossenheit und brüllen Sätze in die Nacht wie „Jetzt sind wir das Gesetz“. Viele sind sehr jung, fast die Hälfte der bisher ungefähr 3.000 Verhafteten ist minderjährig. In Marseille sind „Mörser“ ihre Lieblingswaffe, kurze chinesische Kartonrohre, um Feuerwerkskörper zu verschießen und Ordnungskräfte damit zurückzudrängen. An vielen Hauswänden steht nicht nur das inzwischen übliche „ACAB“ („All cops are bastards“) oder „Gerechtigkeit für Nahel“, sondern ebenso die Drohung: „Ohne Gerechtigkeit nie mehr Frieden!“An der Ecke zum Cours Belsunce, einem traditionellen Migranten-Quartier aller Nationen und Religionen im Stadtzentrum, ist ein Panzerwagen des RAID aufgefahren, der Anti-Terror-Elitetruppe. Mit dem Lauf seines Sturmgewehrs bedeutet ein RAID-Mann in Kampfmontur einer Gruppe von Straßensozialarbeitern, die als Mediatoren eingreifen wollen, dass sie nicht weitergehen sollen. Also beobachten sie aus der Distanz, der Vermittlung müde, wie sich Gruppen junger Männer mit den Polizisten ein „Hit and run“ liefern. Die Streetworker haben lange erfolgreich deeskaliert, haben in diesem Viertel Fußballturniere organisiert, Nachhilfestunden gegeben und eine kleine Rap-Combo auf die Beine gestellt. Sie konnten Hand anlegen, weil sie selbst aus Quartieren kommen, die man in Frankreich beschönigend mal „prioritär“, mal „schwierig“ nennt. Seit einigen Wochen jedoch ist der Draht zu den eigenen Leuten abhandengekommen.1.514 solcher Quartiere sind, auf das ganze Land bezogen, ausgewiesen. Neun Prozent der Bevölkerung leben in räumlicher Segregation, die weniger durch die Herkunft als die Wohnverhältnisse, fehlende öffentliche Dienste und Armut definiert ist, die dort dreimal höher ist als anderswo. Die Arbeitslosigkeit ist doppelt so hoch, und 57 Prozent der Kinder wachsen in Armut auf. Zuletzt kehrte in diese Quartiere sogar der Hunger zurück. Wegen hoher Lebensmittelpreise mussten Zehntausende zum ersten Mal in die Armenküchen, die nun ihrerseits Rückhalt brauchen.Wie Emmanuel Macron zündeltWas die Diskriminierung angeht, das haben Soziologen wie Renaud Epstein vermessen: bei der Bewerbung für Jobs, bei den Selektionsmechanismen im Bildungssystem, im Verhalten der Staatsmacht, wenn Nordafrikaner oder Araber von der Polizei 20-mal häufiger kontrolliert werden. Rassistische Schikane. Oft arten diese Checks in Übergriffe aus. Epstein sagt: „Das Problem ist die Polizei, die Polizei, die Polizei.“ Wie es um sie steht, wurde nach dem Tod Nahel Merzouks grell beleuchtet. Als der Todesschütze in Untersuchungshaft kam, drohten die beiden Polizeigewerkschaften, von denen die Mehrheit der Beamten vertreten wird, mit Aufruhr und Ungehorsam. Sie stünden im „Krieg gegen die wilden Horden“, gegen „Schädlinge“, die es jetzt zu bekämpfen gelte. In der Quintessenz: Der schießende Polizist habe nur seinen Job gemacht.Präsident Emmanuel Macron und seine Regierung scheinen entschlossen, die realen Ursachen zu ignorieren. Sie sprechen der Revolte jeden politischen Sinn ab, was die Macronisten davon entbindet, politisch zu handeln. Minister Darmanin behauptet, es bestehe kein Zusammenhang mit dem Tod Nahels. Der Aufstand sei „unverständlich“ und „durch nichts zu rechtfertigen“, so Macron. Reichlich unverfroren für einen Mann, in dessen Regierungszeit das Land nie zur Ruhe kam, hin- und hergerissen zwischen Gelbwesten, Massenstreiks und millionenfachem Protest gegen die Rentenreform. Nur eine Woche vor dem Aufstand zündelte Macron in Marseille mit der Bemerkung, er müsste nur einmal um den Alten Hafen gehen und schon hätte er zehn Jobs gefunden. 2005, bei der großen Banlieue-Revolte, war Marseille ruhig geblieben, diesmal sprang der Funke über, wenn auch mit zwei Tagen Verzögerung, als Demonstrationen schon verboten waren, um die Konvergenz mit anderen Oppositionsgruppen zu unterbinden.Dutzende Verhaftete, die ihre Unschuld nicht beweisen können, werden von Schnellgerichten reihum zu Gefängnisstrafen verurteilt. Justizminister Éric Dupond-Moretti hält die Richter zu äußerster Schärfe an, Gewaltenteilung sei etwas für Warmduscher, reden die Macronisten ultrarechten Hardlinern wie Éric Zemmour nach dem Mund. Diese sehen mit dem sozialen Protest „die Rassenfrage“ gestellt und schwadronieren vom „Rassenkrieg“.Wenn Bibliotheken brennenFreilich sorgen die Aufständischen dafür, dass Macron bei Teilen der Bevölkerung Zustimmung findet. Wenn sie in den Nordquartieren Marseilles einen Supermarkt ausnehmen und Lebensmittel nach Hause tragen, möchte ihnen das mancher nachsehen. Aber dass sie marodierend durch die Straßen ziehen und sich dabei auf Snapchat einen Wettbewerb liefern, ist heikel. Ablehnung und Abscheu sind den Tätern gewiss, wenn Busse, Kinderhorte, Schulen, Bibliotheken und Hilfszentren brennen. Mag die Ansage, einen Krieg zu führen, auch das ultimative Vokabular sein, das ihnen bleibt, trägt diese Radikalität doch die Selbststilisierung in sich.Erhebliche Zweifel sind angebracht, ob die Explosivität der Situation allein mit Repression und Ausgangssperren zu brechen ist. Schließlich handelt es sich um einen vorhergesagten Aufstand. Bereits im Mai hatten 50 Bürgermeister diverser politischer Couleur einen „letzten Notruf“ abgesetzt: „Diese Quartiere ersticken. Nichts zu tun, das hieße, Millionen Bewohner zu missachten.“ Zum Trauermarsch für Nahel fanden sich nicht nur die Köpfe der stark gewachsenen Bürgerrechtsbewegung ein, sondern auch linke Abgeordnete und die Klimajugend. Eine Premiere. Ali Rabeh, Bürgermeister der Stadt Trappes südwestlich von Paris, erklärte: „Jetzt hat die Realität Macron eingeholt.“