Emmanuel Macron musste einen Deutschland-Besuch absagen. Es verbietet sich, in einer „Dresdner Rede“, die es geben sollte, als Chefvisionär Europas aufzutreten, während Frankreich seit einer Woche in Flammen steht und die Regierung quittiert bekommt, was unerschrockene Arroganz anrichten kann. Sie hat regiert und sich Unregierbarkeit eingehandelt.
Einmal mehr wird deutlich, wie sehr die Macht des Staates an Grenzen gerät, wenn sie Gewalt mit Gewalt beantwortet. Je mehr die Polizei im Kombattanten-Modus dem Staat Geltung verschafft, umso weniger kann sie den Bürger schützen. Das Ausmaß der Zerstörung, bei dem soziale Existenzen in Größenordnungen untergehen, ist dafür Ausweis genug. Sei es in Marseille, Lyon, Dijon oder der Pariser Banlieue.
Es wurden bisher 750 Läden, Supermärkte und Restaurants geschleift bei einem für Tage tobenden Sturm der Verwüstung. Der hat in seiner Spontaneität nichts Zielgerichtetes, umso mehr Flächendeckendes, weil ein Jugendaufstand das zu seinem Markenzeichen erhob. Der Dimension des Fanals entspricht die temporäre Unregierbarkeit Frankreichs, es sind nicht Inseln, über die der Sturm hinweggeht, es ist die Republik an sich.
Sarkozys Hochdruckreiniger
Was ihn anfachen hilft, das ist auch die rhetorische Aggressivität mancher Regierungsmitglieder. Woraus sich schließen lässt, dass Wert darauf gelegt wird, aus der Situation vom Spätherbst 2005 nichts gelernt zu haben. Seinerzeit waren zwei Jugendliche – von der Polizei gejagt – bei Paris in eine Transformatorenstation geraten und dort durch einen Stromschlag gestorben. Es kam zu wochenlangem Aufruhr an gut hundert Orten, der dem augenblicklichen in manchem glich.
Das neue Partisanentum der Halbwüchsigen trat erstmals und erstmals virulent als kollektives Phänomen in Erscheinung. Seine Avantgarde war weniger mit Ideen als mit Nihilismus, Wut und Lust an der Wut gut gerüstet. Ihr Wille zur Aktion wurde im buchstäblichen Sinne des Wortes zum Lauffeuer. Der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy hatte die Partisanen mit einer Kampfansage vor sich her und in den Kampf getrieben. Als am 19. Juni 2005 ein Elfjähriger bei einer Schießerei im Pariser Vorort La Courneuve getötet wurde, hielt er es für angebracht, „de nettoyer la cité des 4000 au Kärcher“ – das betroffene Quartier mit dem Hochdruckreiniger zu säubern.
Wenn wie in den vergangenen Tagen Innenminister Gérald Darmanin die Law-and-Order-Posaune bläst oder Justizminister Éric Dupond-Moretti die Eltern strafrechtlich zur Verantwortung ziehen will, wenn sie ihre Kinder nicht daran hindern, sich Krawallen anzuschließen, wird das dem eskalationsfreudigen Geist der Sarkozy-Ansage von einst durchaus gerecht. Und zeigt Wirkung.
Klassenkämpferische Wucht
Seit der Revolution von 1789 sind in Frankreich immer wieder soziale und politische Konflikte als Straßen- und Barrikadenkampf ausgetragen worden. Man denke an die „glorreichen Tage“ der Julirevolution von 1830, an die Februarrevolution von 1848, vor allem aber die Pariser Commune im Frühjahr 1871. Auch die Studentenrevolte vom Mai 1968 ließe sich dem zuordnen, als im Namen der Arbeiterklasse, aber weitgehend ohne sie, die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft ins Wanken gebracht werden sollte.
Mussten dabei Niederlagen verkraftet werden, so bestanden erst recht kaum Zweifel an der politischen Legitimität des Aufbegehrens. Lässt sich dem heutigen Partisanentum von größtenteils Minderjährigen in Frankreich Ähnliches bescheinigen? Sind sie Klassenkämpfer ohne Klassenbewusstsein, aber voll klassenkämpferischer Wucht? Immerhin eint und motiviert sie die soziale Erfahrung, mit ihren Milieus derart verwachsen zu sein, dass es kaum ein Entrinnen gibt, das zumeist lebenslang und inzwischen seit Generationen. Führt das zu brachialer Animosität, ist brachiale Angriffslust die Folge.
Deren Irrationalität endet dort, wo sich die Aufrührer sozialer Netzwerke bedienen, um in Echtzeit zu streamen, wen und wie sie angreifen. Die Akteure stellen sich zur Schau, als wären sie um den eigenen Steckbrief besorgt und zugleich von ihrer Unangreifbarkeit überzeugt. Die digitale Komponente entfaltet eine potenzierende Wirkung, weil der Staat einer provokanten Konsequenz ausgesetzt ist. Nachahmer werden angestachelt, aus der Nische zu rutschen und mitzumachen. Plötzlich werden sie zu Akteuren von Videospielen, die sonst gegen die Langeweile am Bildschirm ausgetragen, nun aber in die Realität verlagert werden. Die lange schon medial inhalierte Bereitschaft zur Gewalt erlebt eine handgreifliche Probe aufs Exempel. Eine dystopische Spielart der Gewissheit, dass die Idee zur materiellen Gewalt wird, wenn sie die Massen ergreift.
In Echtzeit und Echtheit
Lässt sich das irgendwie wieder einhegen? Vorerst kaum. Frankreich in Flammen, das zeugt auch von einem lange schon schwelenden und sich nun entladenden Kulturkampf: das Westeuropa der Einwanderer und Migranten gegen das Westeuropa eines latenten, institutionalisierten Rassismus. Ein Konflikt, der so tief wurzelt, dass er ausgetragen sein will und nicht nur über die sozialen Medien in Echtzeit und in unübertroffener Echtheit ausgetragen wird.
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