500 Autos und mehrere Häuser wurden in Brand gesteckt, und das in nur einer Nacht: Es brannte in den Pariser Vororten Aulnay-sous-Bois, Neuilly-sur-Marne, Le Blanc-Mesnil und im Département Yvelines. Nein, das war nicht am vergangenen Wochenende, das war am 3. November 2005, also vor nunmehr 18 Jahren. Drei Wochen lang tobten damals die jungen Menschen gegen Rassismus, Polizeigewalt und sozialen Ausschluss. Hat sich seither etwas geändert? Erstaunlich am aktuellen Aufstand scheint derzeit einzig, dass er nicht schon früher ausbrach. Und dennoch sind die Dinge in Frankreich unter Präsident Emmanuel Macron nicht gleichgeblieben: Sie haben sich mangels einer realen Veränderung erheblich verschlimmert.
Das fängt an bei der Polizei, die heute ein echter Staat i
er Staat im Staate ist, von keiner externen Institution kontrolliert, geschweige denn sanktioniert. Als Emmanuel Macron zu Deeskalationszwecken erklärte, dass die Hinrichtung des 17-jährigen Nahel Merzouk durch nichts zu rechtfertigen sei, reagierten die zwei größten Polizeigewerkschaften empört. In einer gemeinsamen Erklärung ließen sie wissen, man befände sich doch „im Krieg“ gegen „wilde Horden“ und „Schädlinge“. Unverblümt drohten sie der Regierung, notfalls „in den Widerstand zu gehen“.Diese meuterische Rhetorik seitens angeblicher Ordnungshüter ist nicht weiter erstaunlich. Bekanntlich wählen sie ja mehrheitlich rechts. Aber sie wird immer üblicher. Grund dafür ist nicht, dass die Regierung stark, sondern dass sie schwach ist. Die aufeinanderfolgenden Innenminister haben sich als unfähig erwiesen, ihr Rudel im Zaum zu halten. Und hat sich die Polizei einmal selbstständig gemacht, wird sie sich nicht einfach mit irgendeiner Reform zurückpfeifen lassen.Jeden Monat fällt ein tödlicher SchussDer tödliche Schuss, der das Pulverfass zum Explodieren brachte, war kein Einzelfall. Seitdem die „linke“ Regierung François Hollande 2017 das Polizeigesetz zum Schusswaffengebrauch im Fall einer Befehlsverweigerung lockerte, wird jeden Monat ein (selbstredend meistens nicht-französischstämmiger) Autofahrer erschossen. Zudem werden sogenannte „weniger tödliche Waffen“ immer häufiger eingesetzt, Granaten oder Plastikgeschosse, die ursprünglich nur für den äußersten Notfall vorgesehen waren. Da verdächtige Todesfälle in Revieren oder während Einsätzen polizeiintern untersucht werden, wird in der Regel kein Beamter zur Rechenschaft gezogen.Je mehr sich die sozialen Widersprüche vertiefen und die Konflikte verschärfen, desto mehr verlässt sich die Regierung auf ihre Polizei – und macht sich von ihr wiederum erpressbar. Die islamistischen Anschläge von 2015 waren Anlass zu Antiterrormaßnahmen, die seitdem zur Alltagspraxis gehören. Auch das überwiegend repressive Management der Covid-Pandemie stützte sich auf extensive Kontrollen und Schikanen, die die Bevölkerung einschüchterten. Nicht zuletzt sind alle sozialen Proteste der letzten Jahre von entsetzlicher Polizeigewalt gekennzeichnet. Wer heute demonstrieren geht, riskiert, verstümmelt zu werden. Die Erfahrung haben auch viele Jugendliche während Schulbesetzungen und Demos gemacht. „Tout le monde déteste la police", übersetzt: „Alle hassen die Polizei“ – die in Frankreich oft skandierte Parole stimmt zwar nicht wirklich, ist dennoch plausibler geworden.Darin liegt der Unterschied zu 2005, als die Revolte in den abgelegenen Siedlungen eingedämmt werden konnte, deren Bewohner, meist migrantischer Herkunft, sich zurecht von der Restbevölkerung im Stich gelassen fühlten. Offenbar haben kumulierte Erfahrungen von Polizeigewalt zu mehr Identifikation und Solidarisierung in der übrigen Bevölkerung geführt. Betrachtet man die geografische Ausbreitung der gegenwärtigen Krawalle, ist die Konfiguration einmalig: Auch unscheinbare Provinzstädtchen sind von Unruhen betroffen.Zwar bleibt der Vorstadtgürtel um Paris Hotspot der Revolte, doch wurde auch randaliert in der vornehmen Rue de Rivoli und im Einkaufsviertel von Les Halles im Zentrum der Metropole, außerdem in Marseille und in Nordfrankreich. Die Intensität der Ausschreitungen übertrifft bei Weitem alle früheren Unruhen, auch die eingangs erwähnten von 2005. Allein in der Nacht zum 30. Juni sind im ganzen Land 500 öffentliche Gebäude zerstört oder stark beschädigt, 4.000 Brandstiftungen gemeldet und 2.000 Autos angezündet worden. Immer wieder werden Polizeireviere mit Böllern und Molotowcocktails angegriffen und manchmal vollständig zerstört. Überforderte Ordnungskräfte berichten, wie äußerst mobile Kleingruppen sich über Snapchat für einen Anschlag verabreden, um sich dann ganz schnell zu zerstreuen. Bemerkenswert ist zudem, dass die meisten Festgenommenen Minderjährige sind.Hinter der Polizeigewalt: Ein fortschreitender RechtsruckEs wäre unangebracht, Geschehnisse hochzujubeln, die sich aus Ohnmacht und Verzweiflung ergeben. Die enthemmte Gewalt der Polizei spiegelt schlicht den fortschreitenden Rechtsruck im Lande wider. So fließen beträchtliche Summen auf ein Online-Spendenkonto für den wegen des Mordes an Nahel angeklagten Polizisten. Am Montag hat es die Höhe von einer Million Euro überschritten. Selbst unter Aufständischen scheint ein kommender Sieg Le Pens ausgemachte Sache. Diesen versuchen Politiker aus dem Macron-Lager noch abzuwenden, indem sie die Sprache der Rechtspopulistin nachplappern. In französischen Mainstream-Medien wird mit dem Finger auf „ethnische Enklaven“ und „unassimilierbare Ausländer“ gezeigt, selbstverständlich von „Ultralinken“ angestachelt. Schuld am Sittenverfall seien permissive Eltern, Videospiele, soziale Netzwerke und opulente Sozialleistungen. Krawallmacher seien Moslems (die bekanntlich gern Whiskyflaschen plündern) sowie Drogendealer (als ob diese nicht wie alle Warenhändler für ungestörten Kundenverkehr seien). Und für immer mehr wird Rechtsautoritarismus zur besseren Option.Von den Rechten aufgefordert, sich von den Unruhen zu distanzieren, fühlen sich die meisten Linken unbehaglich. Gewiss lassen sich niedergebrannte Kitas und Bibliotheken oder Angriffe auf Busfahrer und Feuerwehrleute schwer verteidigen. Eine Explosion der Wut kennt weder Strategie noch Programm. In ihr koexistieren feierliche Momente mit selbstzerstörerischen Anfällen. Doch geht es nicht darum, sie zu preisen oder zu verurteilen, sondern sie zu verstehen. Um es mit Martin Luther King Jr. zu sagen: „Aufruhr ist die Sprache der Unerhörten. Die Sommer der Unruhen in unserem Land werden durch die Winter der Verzögerung verursacht.“