Riots nach Polizeigewalt in Nanterre: „Die Jungen fühlen sich, als wären sie im Krieg“
Frankreich Die Polizei erschießt den 17-jährigen Nahel bei einer Verkehrskontrolle. Es folgen massive Ausschreitungen. Die Wut ist riesig, genauso die Verbitterung über Rassismus und Ungerechtigkeit. Werden die Riots sich weiter ausbreiten?
Aus den Trümmern der ausgebrannten Autos raucht es noch, und es stinkt nach geschmolzenem Asphalt und verrußten Gebäuden. Die Spuren der Ausschreitungen sind überall noch sichtbar, doch die Wohnanlage in der Banlieue bereitet sich schon auf die nächste Nacht mit Ausschreitungen vor. Und diskutiert über Rassismus und das tiefe Misstrauen gegenüber der Polizei.
„Es gibt eine Riesenwut“, sagt Chakir, ein 21-jähriger Sozialarbeiter, der bis 5 Uhr morgens auf den Straßen seiner Wohnsiedlung im nordfranzösischen Roubaix unterwegs war, wo mehr als 100 junge Leute Feuerwerksraketen auf die Reihen der Bereitschaftspolizei warfen. Sie protestierten nach dem Tod eines 17-jährigen Jungen, Nahel, der am Dienstag bei einer Verkehrskontrol
hrskontrolle in Nanterre, westlich von Paris, von der Polizei aus nächster Nähe erschossen wurde.Die tödlichen Schüsse, die in einem Video festgehalten wurden, das sich im Internet verbreitete, führten in ganz Frankreich zu nächtlichen Zusammenstößen mit der Polizei. Viele befürchten, dass sich die Unruhen ausweiten. „Die Polizei soll uns eigentlich beschützen“, sagt Chakir. „Aber wir haben das Gefühl, dass uns nichts mehr beschützt. Ich fürchte, die Riots werden weitergehen. Die jungen Leute versuchen, sich auf jede erdenkliche Weise Gehör zu verschaffen. Gewalt führt zu noch mehr Gewalt“.Was ist im Fall von Nahels Tod anders? Dass es ein Video gibt, das zeigt, wie die Polizei ihn grundlos erschießtAls sich am Donnerstag mehr als 6.000 Menschen zu einem friedlichen Marsch für Gerechtigkeit in Nanterre versammelten, skandierte die Menge „Keine Gerechtigkeit, kein Frieden“ und „Alle hassen die Polizei“. Mounia, die Mutter von Nahel, blickte von einem offenen Lastwagen aus auf die Menge und kämpfte mit den Tränen. Am Ende des Marsches, in der Nähe des Polizeipräsidiums, setzten die Beamten Tränengas ein und lieferten sich Handgemenge mit einigen Demonstranten. Am späten Nachmittag dann brannten in Nanterre mehrere Autos.„Wir demonstrieren friedlich gegen den Rassismus der Polizei“, sagt Radia, eine Studentin Anfang 20, die aus Versailles angereist ist. „Wir erleben ständig, dass Schwarze und Araber von der Polizei angegriffen werden. Das ist ein Todesfall zu viel.“In den letzten 18 Monaten gab es in Frankreich 14 Todesfälle bei polizeilichen Verkehrskontrollen, die meisten Opfer waren Schwarz oder arabischer Herkunft. Doch der Fall von Nahel erfuhr besondere Resonanz, weil er gefilmt wurde. Die Polizei erklärte zunächst, ein Beamter habe auf den Teenager geschossen, weil er ihn angefahren habe. Das Videomaterial zeigt jedoch stattdessen zwei Polizeibeamte, die an einem stehenden Auto stehen, wobei einer eine Waffe auf den Fahrer richtet. Man hört eine Stimme sagen: „Du bekommst gleich eine Kugel in den Kopf.“ Der Beamte scheint dann aus nächster Nähe zu schießen, während das Auto abrupt wegfährt. „Sie haben gelogen“, sagt eine 57-jährige Mutter aus Nahels Wohnsiedlung.Gegen den beteiligten Beamten wurde ein Ermittlungsverfahren wegen vorsätzlicher Tötung eingeleitet. Viele Bewohner der Siedlung sind überzeugt, dass der Fall ohne das Video nicht ernst genommen worden wäre. Assa Traoré, ein bekannter Aktivist gegen Polizeigewalt, dessen Bruder nach seiner Verhaftung im Jahr 2016 starb, spricht auf der Demo in Nanterre. Er sagt: „Die ganze Welt muss sehen, dass wir, wenn wir für Nahel demonstrieren, auch für all diejenigen demonstrieren, die nicht gefilmt wurden.“40.000 Polizisten werden aufgeboten, der Nahverkehr unterbrochenAuch Hamid ist auf der Demo. Sein Bruder Lahoucine wurde 2013 bei einer Festnahme in Nordfrankreich von der Polizei erschossen. Später hieß es, die Beamten hätten in Notwehr gehandelt, sie wurden nicht belangt. Hamid sagt: „Die Polizei ist rassistisch bis ins Mark. Das Problem ist, dass die Beamten bereit sind, Menschen aus der Banlieue zu töten. Es gibt zu viele solcher Fälle. Ich habe überall in Frankreich an Demonstrationen teilgenommen. Es hat sich nichts geändert.“40.000 Polizisten wurde am Donnerstagabend aufgeboten, weil die Angst vor weiteren Ausschreitungen so groß war. Auch der öffentliche Nahverkehr in Paris wurde unterbrochen. Viele Politiker fürchten eine Wiederholung der Riots des Jahres 2005, als der Tod zweier Jungen, die sich in einem Umspannwerk in Clichy-sous-Bois nahe Paris vor der Polizei versteckten, wochenlange Unruhen auslöste. Damals rief die Regierung den nationalen Ausnahmezustand, nachdem mehr als 9.000 Fahrzeuge und Dutzende von öffentlichen Gebäuden und Unternehmen in Brand gesetzt wurden.In der Pablo-Picasso-Siedlung in Nanterre, wo Nahel aufgewachsen ist, säumten am frühen Morgen ausgebrannte Autos die Hauptstraßen, auf den Bürgersteigen lagen Glasscherben von zertrümmerten Bushaltestellen, denen Kinder auf Rollern auszuweichen versuchten. Nach stundenlangen Straßenschlachten zwischen Jugendlichen und der Polizei, die bis nach 3 Uhr morgens andauerten, waren neue Graffiti an Gebäuden zu sehen: „Gerechtigkeit für Nahel. Scheiß auf den Staat, scheiß auf die Polizei.“Wiederholen sich nun die Riots von 2005?Cherin, 36, die in einem Hochhaus unweit von Nahels Großmutter wohnt, sagt, sie habe von ihrem Fenster aus beobachtet, wie der Himmel durch Raketen, die auf die Polizei geworfen wurden, erhellt wurde. „Es war wie eine Art schiefgelaufenes Feuerwerk zum Tag der Bastille – chaotisch, wütend und beängstigend“, sagt sie. „Der Lärm der Knallkörper und Explosionen war ohrenbetäubend. Und das Tränengas stieg zu unseren Fenstern auf und brannte uns in den Augen. Wir hatten wirklich Angst, dass unter dem Gebäude ein Feuer ausbricht und wir in der Falle sitzen. Wir, die hier leben, sind es, die darunter leiden. Wir haben wirklich Angst.“Kendra, 40, blickt auf das ehemals weiße, jetzt aber ausgebrannte Auto ihres Vaters, eines pensionierten Angestellten des öffentlichen Nahverkehrs aus Kamerun. „Gestern Abend waren stundenlang überall junge Leute unterwegs, auf vielen verschiedenen Straßen“, sagt sie. „Die Polizei und sogar die Feuerwehrleute wurden zurückgedrängt, weil sie angegriffen wurden. Es war wie im Krieg. Ich glaube wirklich, dass die jungen Leute hier sich fühlen, als wären sie im Krieg. Sie sehen es als einen Krieg gegen das System an. Das geht nicht nur gegen die Polizei, sondern darüber hinaus, sonst würden wir das nicht überall in Frankreich sehen. Und sie greifen ja nicht nur die Polizei an, sondern auch Rathäuser und Gebäude. Der Tod dieses Teenagers hat etwas ausgelöst. Die Wut ist groß, aber es geht noch tiefer, das Ganze hat eine politische Dimension, ein Gefühl, dass das System nicht funktioniert. Junge Menschen fühlen sich ungerecht behandelt und ignoriert.“Sie fügt hinzu: „Die jungen Leute sind wütend, aber es muss einen anderen Weg geben, das auszudrücken. Als Bewohner dieser Siedlung sind wir machtlos, wenn unsere Autos verbrannt werden. Wir sind diejenigen, die davon betroffen sind.“Sarah, 30, die in der Siedlung lebt, sagt: „Die Stimmung hier ist vergleichbar mit der Polizeigewalt und dem Rassismus in den USA. Die Leute sagen, es kann doch nicht sein, dass die Polizei einen jungen PoC aus nächster Nähe wegen eines Verkehrsdelikts tötet. Die Jungen haben die Nase voll vom Rassismus. Ich habe vier Söhne, und ich mache mir um sie alle Sorgen. Aber ich befürchte, dass die Riots, bei der junge Menschen nachts in der Banlieue mit der Polizei aneinandergeraten, alles nur noch schlimmer machen werden. Rechte Politiker werden sagen: 'Oh, seht nur, so sind sie nun mal', sie werden das gegen die Menschen in der Banlieue wenden. Wir hoffen wirklich, dass sich die Dinge beruhigen. Und, dass wir heute Nacht schlafen können.“