Ich kriege die Bilder nicht mehr aus meinem Kopf: Tanzende Besucherinnen eines Raves, die sich vor dem Morgenrot der Wüste im Rhythmus der Musik wiegen. Und im Hintergrund vor der aufgehenden Sonne Dutzende von Paraglidern, herbeischwebend aus dem Gazastreifen, die in wenigen Minuten ein Massaker an den Feiernden anrichten werden.
Das ist also das letzte Standbild des Nahostkonflikts: Wie die ausgelassene Normalität im Blutbad endet. Am Ende wird man 260 Leichname auf dem Partygelände in der Wüste finden. Kann man verharmlosen, was doch augenscheinlich ein Kriegsverbrechen ist, ein hundertfacher Mord an Unschuldigen, Zivilisten?
Gewiss kann man. Und manche Vertreter der sogenannten Palästina-Solidarität, so muss man feststellen, tun in diesen Tagen genau das. Si
nten Palästina-Solidarität, so muss man feststellen, tun in diesen Tagen genau das. Sie leugnen, dass der Angriff der Hamas zivile Opfer gefordert habe. Sie sagen: Israelische Zivilisten sind eigentlich gar keine wirklichen Zivilisten, sondern so etwas wie Vertreter eines kolonialistischen Siedlerprojekts. Oder sie sagen: Ja, es gab zivile Tote, aber bei den Vergeltungsangriffen der israelischen Luftwaffe sind doch schon jetzt Hunderte Menschen gestorben, Frauen, Alte, Kinder. Als zählten Opfer weniger, wenn sie in einer großen tödlichen Rechnung gegeneinander aufgewogen werden. Letzteres ist seit Langem so etwas wie der diskursive Schatten des Nahostkonflikts, dessen Auftauchen jede sinnvolle Diskussion beendet: die Entmenschlichung der Opfer der anderen Seite.Es deutet sich in den Diskussionen dieser Tage schon an und wird in den nächsten Wochen wohl klarer werden: An dieser Stelle und als Folge des Angriffs der Hamas kommt die sogenannte Palästina-Solidarität an eine Weggabelung. Der Journalist Joshua Leifer schreibt: „Sind wir nicht Linke, weil wir eine Welt ohne Krieg und Folter wollten? Weil wir ablehnen, dass Familien und Kinder getötet werden? Sind wir nicht Linke, weil wir Grausamkeit verabscheuen und Gewalt hassen und an den Wert jedes einzelnen menschlichen Lebens glauben? Wir kämpfen doch dafür, dass alle Menschen in Freiheit und Würde leben können.“ Erst diese Werte seien es ja gewesen, die ihn und die Solidaritätsbewegung mit Palästina dazu bewogen haben, sich gegen die Brutalität der israelischen Besatzung und die Abriegelung des Gazastreifens einzusetzen. Umso bestürzter zeigt sich Leifer nun darüber, dass nun einige die Gewalt der Hamas feiern und auf einmal kein Mitleid mit den Opfern zu spüren scheinen.Dabei ist klar: Echte Solidarität ist universell, sie kann sich nicht blind und taub machen für das Leid derer, die in den letzten Tagen Angehörige und Freunde verloren haben. Auch wenn dieses Leid sich als Rache für anderes erlittenes Leid ausgibt.Aber vielleicht ist das ja der tiefere Sinn der Frage, um die es hier geht: Ist es eine Verharmlosung, wenn man sagt, die Geschichte der Gewalt in Gaza beginnt nicht am 7. Oktober? Oder: Die Entmenschlichung, die hier zutage tritt, ist selber Ergebnis einer Geschichte der Gewalt? Es ist ja kein Zufall, dass der Angriff der Hamas aus dem Gazastreifen kommt. Es hat Gründe, warum die fortwährende Besatzung und Entrechtung von Millionen von Menschen zu immer neuer Gewalt führt. Dass auch die Methoden des Widerstands immer brutaler, inhumaner werden. Diesen Zusammenhang zu verstehen, bedeutet ja nicht, die Gewalt zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Ich würde sogar sagen: Das Gegenteil ist der Fall. Denn wer nicht verstehen will, woher die Gewalt kommt, der wird keinen Weg finden, sie zu beenden.Es ist nicht möglich, in Israel zu leben, ohne zu verdrängen, dass nur wenige Kilometer entfernt eine militärische Besatzung seit mehr als einem halben Jahrhundert andauert. So wie wir in Europa verdrängen, dass an unseren Grenzen Menschen sterben, im Meer ertrinken, so verdrängten die Besucher des Raves in der Wüste, dass das Leben im nahe gelegenen Gazastreifen menschenunwürdig ist, dass es dort keine Perspektive gibt, keine Zukunft. Und dass aus dieser Lage immer neue, immer monströsere Gewalt erwächst. Diese Verdrängung ist brutal gestoppt worden. Was nicht enden darf, ist echte, universelle Solidarität.