Kurator Marc Wellmann über die Ausstellung „ÜberLeben“: „Es geht um Hoffnung“

Berlin Art Week Der Kurator und Kunsthistoriker Marc Wellmann sah den Filmklassiker „Soylent Green“ und stellte fest: der spielt ja heute, im Jahr 2022! Im Haus am Lützowplatz stellt er die Frage, was das nun über unsere Gegenwart aussagt
Ausgabe 36/2022

Als der Film Soylent Green 1973 in die Kinos kam, schien das Jahr 2022 weit entfernt. Menschenfleisch gibt es nun nicht zu essen, doch die ökologische Katastrophe ist unleugbar. Was hat der Film uns heute noch zu sagen? Dieser und weiteren Fragen widmet sich eine Ausstellung in Berlin-Tiergarten.

der Freitag: Herr Wellmann, als Ausgangspunkt für die Ausstellung haben Sie „Soylent Green“ gewählt, einen Film aus dem Jahr 1973, der von einer überbevölkerten Erde handelt. Warum?

Marc Wellmann: Durch einen Zufall haben wir diesen Film wieder gesehen, der im Jahr 2022 spielt. Und da horcht man auf – das ist ja unsere Gegenwart, wie sie sich der Film vor 50 Jahren vorgestellt hat. Besser gesagt: Wir sind in der Zukunft angelangt. Probleme, die damals schon verhandelt wurden, spielen jetzt eine große Rolle. Wir haben dann den Kontext jener Zeit betrachtet. Ganz zu Beginn des Jahrzehnts, 1970, wurde zum ersten Mal der Earth Day begangen, 1972 ist der Club-of-Rome-Bericht Die Grenzen des Wachstums erschienen. Dann wurde in Kanada die Umweltorganisation Greenpeace gegründet, und da liegt der Beginn der ökologischen Bewegung, die jetzt in anderer Form von Fridays for Future oder Extinction Rebellion fortgesetzt wird. Das war der Beginn eines kollektiven Umdenkens. Parallel dazu, im Dezember 1972, fand die letzte Apollo-Mission statt. Das war das letzte Mal, dass ein Mensch den Mond betreten hat, und bei dieser Mission ist ein berühmtes Foto von unserem Planeten aufgenommen worden.

Welchen Effekt hatte dieses Bild?

Es zeigt das „Raumschiff Erde“, wie der US-Architekt R. Buckminster Fuller es nannte, und seine Verletzlichkeit inmitten der Schwärze. Wir haben keine zweite Erde. Viele Utopien handeln davon, den Planeten verlassen zu können, aber erst mal müssen wir uns mit der Situation arrangieren, und das führt zurück zur Geisteshaltung der frühen 1970er. Das Drehbuch von Soylent Green basiert auf einem Roman aus dem Jahr 1966, den der Schauspieler Charlton Heston auf einem Interkontinentalflug gelesen hat.

Charlton Heston ist heute nicht gerade als Hippie bekannt.

In den 1960ern war er allerdings ein Bürgerrechtsaktivist und hat sich mit ökologischen Fragen befasst. Damals, nach dem Jahrzehnt der Babyboomer, war die existenzbedrohende Angst die vor der Überbevölkerung. Heute schwächt sich die Wachstumskurve in allen westlichen Gesellschaften ab, aber es gibt eine ähnliche Grundstimmung, allerdings im Hinblick auf die Klimakatastrophe. Das ist ein wirkmächtiger assoziativer Raum. Die Arbeiten der Ausstellung werden damit aufgeladen, und das ist die Idee dahinter. Die Frage ist: Wie können wir vor dieser Folie in die Zukunft blicken?

Wie kamen Sie zu dieser Idee?

Ich habe das gemeinsam mit dem Maler Philip Grözinger entwickelt, als wir uns über die Zukunft nach Corona unterhalten haben. Philip hat selbst eine Arbeit beigetragen, die aus seinem eigenen Vokabular schöpft – ein Röhrengebilde, ein System, in das wir technologisch verstrickt sind.

Wurden viele Arbeiten eigens für die Ausstellung gemacht?

Es ist eine Mischung, wir haben historische und neue Arbeiten. Maxim Brandt zum Beispiel, ein junger ukrainischer Künstler, bezieht sich auf Arnold Böcklins Toteninsel und versetzt das in ein dystopisches Szenario. Im 19. Jahrhundert, nachdem die Industrialisierung schon längst Fuß gefasst hatte, wurde die Natur noch einmal verbrämt und zu einer Idealwelt kombiniert, die nichts mit der Realität zu tun hatte. Ein weiteres seiner Gemälde zeigt ein verkohltes Skelett vor einem Horizont.

Zur Person

Marc Wellmann promovierte 2004 über das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft und war von 2008 bis 2012 Ausstellungsleiter im Georg Kolbe Museum. Seit 2013 ist er Künstlerischer Leiter im Haus am Lützowplatz, wo er nun die Ausstellung ÜberLeben kuratierte

Das erinnert an die Romantik.

Genau, dieser Bezug ist hier ganz wichtig: Die männliche Rückenfigur kommt von Caspar David Friedrich, aber die Landschaft ist verbrannt.

In der Ausstellung sind viele junge Künstler*innen vertreten, der Film „Soylent Green“ kommt aus einer Zeit, die sie nicht erlebt haben. Wie reagieren sie darauf?

Wenn man mit so einer Idee an Künstler*innen herantritt, dann merkt man, ob die etwas damit anfangen können – und viele der Fragen von damals sind heute noch sehr präsent. Nina E. Schönefeld hat in einer Trilogie die Fiktion einer nahen Zukunft entworfen, die ganz ähnliche Themen anspricht: Es geht um Umweltaktivismus und um ein Unternehmen, das die Nahrungsmittelproduktion komplett kontrolliert. Dann bemächtigt sie sich aus weiblicher Perspektive dieser Erzählung.

Gibt es auch historische Arbeiten in der Ausstellung?

Die Künstlerin Bettina von Arnim zum Beispiel hat in den 1970ern gearbeitet. Sie hatte ein ökologisches, kritisches Bewusstsein und benutzte Science-Fiction-Illustrationen und Pop-Art: Cyborgs und riesenhafte Wesen tauchen auf, es gibt dystopische Landschaften. Deswegen haben wir zwei ihrer Gemälde ausgesucht. Weitere historische Arbeiten sind Fotos von Michael Schmidt, aus einer Serie, die zwischen 2006 und 2010 entstanden ist. Darin befasst er sich mit Nahrungsmitteln, mit ihrer Erzeugung und der Ermordung der Tiere, die dafür nötig ist.

Was bleibt von dem Film in dieser Ausstellung?

Nicht alles nimmt konkret auf den Film Bezug, aber es werden einige Motive in die Gegenwart übertragen. Ein Beispiel ist Louisa Clements Foto Attachment Disorder von 2021, eine Arbeit, die auf eine Serie von Selbstporträts der Künstlerin zurückgeht. Sie ließ sich 3-D-scannen und hat die Daten in Puppen übertragen. Eigentlich handelt es sich dabei um ein Verfahren zur Herstellung von Sexpuppen. Mittels der Scans lässt sich eine Negativform schaffen, in die eine Silikonhaut gegossen wird. In die Puppen steckt sie eine Menge Technik, außerdem eine Künstliche Intelligenz, für die Clement Tausende von Fragen über sich beantwortet hat. Das ermöglicht es Besucher*innen, mit der Puppe zu interagieren, und dabei lernt sie weiter und bekommt eine Persönlichkeit. Das ist auch eine weibliche Ermächtigung von Männerfantasien, für die diese Puppen ursprünglich gebaut sind, und das wiederum bezieht sich auf den Pygmalion-Mythos über den männlichen Künstler, der sich in seine Schöpfung verliebt. Wir haben ein Foto davon, wo eine der Puppen ein Kind im Arm hält. Wenn man sich das genauer anguckt, ist das sehr unheimlich! Das Thema Reproduktion wird dabei angestoßen, eine Art Pinocchio-Komplex. Die Puppe wird sich ihrer selbst bewusst, sie bleibt aber eine Puppe.

Wie denken Künstler*innen heute das Thema Ökologie weiter?

Nehmen Sie Katja Novitskova. Sie hat sich in den letzten Jahren mit Biodiversität auseinandergesetzt. Sie ist ja mit Cutouts bekannt geworden, die sie erweitert hat – in diesem Fall geht es um den kalifornischen Kondor, der nur noch in Gefangenschaft lebte und dann wieder ausgewildert wurde – das hatte touristische und religiöse Motive. Viele andere Arten sind aber ausgestorben, die wir nicht für wichtig erachten. Ein anderes Beispiel kommt von Mette Riise, einer jungen dänischen Künstlerin. In ihrem Video geht es darum, dass sie den Club-of-Rome-Bericht findet und feststellt, dass seither eigentlich nichts passiert ist. Dann sucht sie einen der Autoren, der sie abblitzen lässt. Das ist eine Art Mockumentary. Der Film hat etwas Tragikomisches.

Das Genre Dystopie ist schon sehr präsent in der Schau. Oder gibt es auch ein utopisches Element in der Ausstellung?

Ja, beispielsweise in Bjørn Melhus’ Video. Da wird am Ende alles gut: Nach dem Ende der Pandemie und des Kriegs kommt ein Virus in unsere Köpfe, das uns zu Altruisten werden lässt. Leider kein plausibles Szenario! In der Ausstellung werden wir herausgefordert, selbst zu denken und uns als Akteur*innen zu begreifen und nicht als passive Konsument*innen. Es geht darum, Mündigkeit zu erlangen und daraus Hoffnung zu entwickeln.

ÜberLeben. Fragen an die Zukunft Haus am Lützowplatz, 15. September 2022 bis 8. Januar 2023

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