Past / Future / Art: In Melitopol blüht noch kein Weizen
Ukraine Die Kuratorin Kateryna Semenyuk und die Philosophin Oksana Dovgopolova gründeten 2019 die Organisation Past / Future / Art, um Erinnerungskultur anders zu gestalten. Dann kam der Krieg
Philosophin Oksana Dovgopolova mit Kuratorin Kateryna Semenyuk (r.)
Foto: Oleksandra Podhorna
Noch bevor der russische Angriffskrieg auf die Ukraine beginnt, bevor die brutalen Massaker von Butscha, Irpin und vielen anderen Orten bekannt werden, und lange vor einem absehbaren Ende des Krieges, begann die Kuratorin Kateryna Semenyuk über Erinnerungskultur nachzudenken. Ende des Jahres 2019 gründete sie dafür gemeinsam mit der Philosophin Oksana Dovgopolova die Organisation Past / Future / Art. Semenyuk und Dovgopola kommen aus unterschiedlichen Sphären: aus der zeitgenössischen Kunst und den akademischen Memory Studies. Kennengelernt haben sie sich am Babyn Jar Holocaust Memorial Center, wo sie ein Jahr lang tätig waren, erzählt Semenyuk an einem Februarnachmittag über Videocall. Die Geschichte von Babyn Jar ist in der Ukraine von grö
von größter Relevanz. In der kleinen Senke im Norden Kiews, die man heute für einen Park halten könnte, überlagern sich viele verschiedene Narrative.In Babyn Jar wurden im September 1941 Zehntausende Jüdinnen/Juden, Roma und andere von SS, Wehrmacht und Polizei ermordet, aber erst viele Jahre nach Kriegsende errichtete die sowjetische Führung ein Monument, das an die brachiale Bildsprache von Kriegerdenkmälern erinnert und an dem jeder Hinweis darauf fehlt, dass an diesem zentralen Erinnerungsort der Shoah jüdische Männer, Frauen und Kinder getötet wurden. Geschichte, schrieb der Historiker Erich Goldhagen Anfang der 1980er, heißt in der Sowjetunion, Politik in die Vergangenheit zu projizieren, und die Opfer der Shoah wurden lediglich als „sowjetische Bürger“ erwähnt. Es widersprach der Parteidoktrin, den Mord an der jüdischen Bevölkerung in der UdSSR zu thematisieren.Mittlerweile stehen in dem Geviert im Schatten des Fernsehturms, das von Straßen umschlossen ist und wo Menschen ihre Hunde ausführen, mehr als dreißig Mahnmale. Nach der ukrainischen Unabhängigkeit, 1991, stellte jemand eine Menorah in den Park, und allmählich tauchten immer mehr kleine Denkmäler auf, die von privaten Vereinen gestiftet wurden, ganz so, als würde sich das zuvor Verdrängte jetzt umso vitaler und auch ungeordneter Bahn brechen.Dann, 2016, wurde das Babyn-Jar-Memorial-Projekt ins Leben gerufen, mit dem Ziel, ein Museum zu eröffnen – geplant ist das momentan für das Jahr 2025. Dass der ursprüngliche Direktor Ilja Chrschanowski umstritten war, ist ein Understatement. Das Team verließ das Projekt, darunter auch Semenyuk und Dovgopolova. Bevor er die Museumsleitung übernahm, hatte der russische Regisseur ein Großprojekt realisiert – auch das beinahe ein Understatement für sein Unterfangen: ein megalomanes Immersionskunstwerk, bei dem ein Forschungsinstitut (und andere Orte) in der Stalinzeit genau rekonstruiert wurde, das schließlich in dem Filmzyklus DAU mündete. 2018 sah es einen Sommer lang so aus, als könnte ein weiteres Kapitel davon in Deutschland geschrieben werden. Gemeinsam mit den Berliner Festspielen wollte Chrschanowski ein Stück der Berliner Mauer wiederaufbauen lassen, alle sollten an der Fiktion teilnehmen können. Schließlich aber bekam das Projekt keine Genehmigung.Babyn Jar als DisneylandDie Förderung für das Holocaust-Museum in Kiew kam von einer Reihe ukrainischer Geschäftsleute, die Kritik daran lautete: Fast alle davon haben ihr Vermögen in Russland gemacht. Der andere Kritikpunkt galt Chrschanowski, der sein Immersionskonzept auf das Museum übertragen wollte. Das Magazin für jüdisches Leben Tablet nannte das ein „Holocaust Disneyland“. 2023 legte der Regisseur seinen Posten nieder.Nur wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffskriegs gingen Raketen auf den Park nieder, mutmaßlich beim Versuch, den Fernsehturm zu zerstören; mindestens fünf Menschen wurden getötet. Diese Überschreibungen des Ortes waren Gegenstand von Anna Zvyagintsevas Ausstellung Ground Shadows, die vergangenen Herbst in der Holocaust-Gedenkstätte in Mechelen in Belgien zu sehen war. Mit fragilen Materialien – Zeichnungen, Keramik – stellt die Künstlerin die von Kugeln oder Splittern versehrten Bäume von Babyn Jar dar. Die Ausstellung wurde gemeinsam mit Past / Future / Art organisiert und ihr Thema war das Erinnern, oder genauer: die fortwährende Aktualisierung von Erinnerung und die Plötzlichkeit, mit der sich auch der neue Krieg an diesem überdeterminierten Ort eingeschrieben hat.Placeholder image-1Die russische Invasion vom Februar 2022 hat alles verändert. Davor hatten Kateryna Semenyuk und ihre Kolleg*innen geglaubt, dass man über Traumata nur mit zeitlichem Abstand sprechen kann, und sie waren sich – wie so viele – sicher, der Krieg werde bald enden. Aber nachdem die ersten Regionen wieder befreit wurden, wandten sich Menschen mit neuen Fragen an sie: Was tun mit diesen Erinnerungen? Was davon soll bleiben?Past / Future / Art ist keine Organisation für Mahnmale, denn die Kernaufgabe liegt in der Beratung und Wissensvermittlung. Das wichtigste Format dafür sind Laboratorien mit Künstler*innen, sie dienen der Lektüre und dem Ideenaustausch. Manche Künstler*innen fokussierten sich auf das Gedenken, andere, zum Beispiel Viktor Konstantinov, befassten sich mit Klang im Krieg. Er fertigte field recordings in Odessa an, einer normalerweise touristischen, lauten Hafenstadt. Aber am Beginn des Kriegs herrschte Stille.Als Semenyuk in einem Dorf in einer kürzlich befreiten Region fragte, wo die Anwohner ein Mahnmal aufstellen würden, antworteten sie: natürlich im Zentrum, dort, wo früher die Lenin-Statue war. „Manchmal sind Vorstellungen aus Sowjetzeiten die einzige Referenz“, sagt die Kuratorin, einer Zeit, als Moskau bestimmte, was und wo erinnert wird. Dabei, so sagt sie, sei es so wichtig, wer die Entscheidungen trifft, fast wichtiger als die Form oder der Ort des Mahnmals. Sie stellt sich die ideale Praxis als eine Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft und Staat vor, also weder eine Graswurzelinitiative noch eine rein staatliche Entscheidung.Die Bildsprache der neuen Denkmäler ist auch ein Bruch mit der sowjetischen Tradition. Semenyuk formuliert es so: „Wir haben uns vorgestellt, dass wir ein neues Herangehen entwickeln müssen.“ Nach der Unabhängigkeit haben viele Denkmäler noch auf der sowjetischen Tradition aufgebaut: Sie wurden zentral geplant und bedienten sich einer gegenständlichen Formensprache, aber es war nicht so leicht, zu erkennen, ob beispielsweise Tschernobyl oder Holodomor erinnert wird.Archiv spontaner DenkmälerPast / Future / Art will neue Wege finden. „Es gibt ein gutes Beispiel“, sagt Semenyuk, „bei dem eine Gemeinde ein Fußballturnier im Gedenken an einen gefallenen Soldaten ausgerichtet hat, der Fußball liebte. Das ist kein physisches Monument, sondern eine gemeinsame Praxis. Wir finden, dass der erste Schritt beim Gedenken kein Objekt ist, sondern eine gemeinsame Diskussion.“ Die Organisation sammelt mündliche Erzählungen und stellt ein Archiv von spontanen Denkmälern zusammen, denn so lässt sich das Erinnern im Entstehen beobachten. Das ist die Basis für künftiges Gedenken.Die Suche nach neuen Formen bestimmte eine Ausschreibung, die Past / Future / Art 2021 in Melitopol organisierte. Es sollte ein Mahnmal für die Opfer des Holodomor errichtet werden, eine jener Hungersnöte, die in den 1930ern die Ukraine und Zentralasien heimsuchten, verursacht durch das stalinistische Russland, das den Fünfjahresplan zu erreichen versuchte. Die Organisation lud Architekt*innen ein, sowie fünf Künstler*innen und Kollektive, die Ideen vorschlugen: Sie nutzten Prozesse wie Korrosion, Elemente wie fließendes Wasser, und ein Projekt des Kiewer Architekturbüros Forma regte an, dass Anwohner*innen an dem Gedenkort jedes Jahr Weizen pflanzen und ernten. Keiner der Entwürfe wurde realisiert, denn die russische Armee hat die Stadt besetzt. Aber es lässt sich schon erkennen, dass Fragen, die in der Gegenwartskunst ohnehin virulent sind, in die Arbeit von Past / Future / Art einfließen, solche auch, die über Gedenken und Erinnern hinausgehen. Prozess und Teilhabe sind zum Beispiel wichtige Begriffe, auch so etwas wie kollektive Autor*innenschaft. Es geht darum, die Kontexte mitzudenken, in denen Denkmäler errichtet werden.Kein Denkmal ist This World is Recording, ein Video von Katya Buchatska, das die Künstlerin gemeinsam mit der Organisation entwickelt hat. Aber Buchatska befasst sich darin schon damit, welche Grenzen das Gedenken hat und was alles Träger von Erinnerung sein kann. Langsame Drohnenaufnahmen von Raketenkratern, den vernarbten Landschaften, wie man sie jetzt von der Ostukraine bis zur Hauptstadt findet, wechseln sich mit Smartphone-Bildern derselben Krater ab. Aus dem Off spricht Buchatska darüber, wie man in jeden dieser Krater einen Baum pflanzen müsste, damit die Landschaft wie ein Garten werde. „Nach der Invasion“, sagt Semenyuk, „erschien das Land als eine sehr starke Metapher. Es reicht, das verwundete Land zu sehen, um den Schmerz zu fühlen. Und ein Garten ist nicht einfach ein Wald. Man muss sich darum kümmern, so wie um die Erinnerung.“Vergangenheit und Zukunft stecken im Namen der Organisation, und Erinnern hat eben etwas mit Zukunft zu tun, auch wenn Semenyuk erklärt, dass es derzeit in der Ukraine schwierig ist, sich ein Bild von der bevorstehenden Zeit zu machen. Fragt man sie allerdings danach, ob Denkmäler künftige Identität festigen, dann sagt sie, dass es nicht die eine ukrainische Identität gibt: „Wir sind eine politische Nation, keine ethnische. Es gibt Jüdinnen/Juden, Krimtataren und viele andere Gruppen, und wir sind alle Ukrainer*innen. Die Frage ist eher die nach geteilten Werten, denn nur so können wir eine Gesellschaft mit einer Vielfalt von Identitäten sein.“
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