Erzählungen aus der Zukunft (IV)

Wider das Arbeitsethos 3 Kurz vor dem Tag des Grundeinkommens nun drei Denker*innen (Bogdanow, Arendt, Gorz), die Marx zu Gunsten einer sozialen und gerechten Post-Work-Gesellschaft überwinden.

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Moderne Zeiten
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Foto: Breve Storia del Cinema/Flickr (Public Domain 1.0)


Wurden in
Wider das Arbeitsethos 1 vor allem die heutige Problemlage und die Notwendigkeiten einer postkapitalistischen Politik in Zeiten der Digitalisierung mit zeitgenössischen linken Autoren angedacht, wurde in Wider das Arbeitsethos 2 aufgezeigt, wie das lutherisch-marxistische Arbeitsethos, der heute einer emanzipatorischen Politik im Wege steht, schon ab dem 19. Jahrhundert seine Gegenbewegten kannte, so seien nun drei Denker*innen des 20. Jahrhunderts und ihre Ansätze zum Ende der Arbeitsgesellschaft thematisiert.

I. Der abtrünnige Bolschewist: Alexander A. Bogdanow (1873-1928)

Es mag zunächst widersinnig erscheinen, bei der Festigung einer Narration für die Post-Work-Gesellschaft einen russischen Bolschewisten heranzuziehen, der noch dazu den ‘Standpunkt der Arbeit’ als Zentrales seines Marxismus’ verstand. Alexander A. Bogdanow indes wich einerseits enorm von den bolschewistischen Doktrin ab und meinte andererseits auch mit ‘Arbeit’ etwas anderes. Denn Arbeit benötigt nach dem russischen Denker eine eigene Wissensorganisation (Tektologie genannt) und eine eigene Vermittlungspraxis (den Proletkult). Sowohl das Geistige, das Utopische als auch die Definition von ‘Arbeit’ unterscheiden sich bei Bogdanow vom 08/15-Marxismus (der erstere beiden Aspekte der conditio humana ja sogar gerne denunziert).1 Weiter beleuchtet Bogdanow das Verhältnis von (bisheriger) Arbeit und Natur, die in einen Machtkampf geraten, der in unserem 21. Jahrhundert einen fatalen Punkt erreicht hat:

Dass die menschliche Arbeit die Umwelt paradigmatisch verändert und natürliche Ressourcen unwiderruflich ausbeutet, kann mit der Begrifflichkeit des metabolischen Bruchs (schon Marx verwendete diesen Terminus für eine irreparable Veränderung im ‘sozialen Stoffwechsel’) bezeichnet werden. Dieser Bruch läutete das Anthropozän ein, jene neue Phase in der Erdgeschichte, in der das Schicksal Mensch & Umwelt unauflöslich miteinander verbunden sind.2 Es gilt gemäß McKenzie Wark: „Arbeit zerschlägt und behandelt Steine und Boden, Pflanzen und Tiere, um ihnen die molekularen Flüsse, aus denen unser gemeinsames Leben aufgebaut ist, zu entziehen. Aber die Molekularflüsse kehren nicht dorthin zurück, woher sie kamen. [...] Das Anthropozän besteht aus einer Reihe metabolischer Brüche, bei denen ein Molekül nach dem anderen durch Arbeit und Technik extrahiert wird.“3 Dabei argumentiert Wark keinesfalls technologiefeindlich. Die Frage ist stets, wozu Technologien verwendet werden. Bisherige Technologie diente vor allem den Zielen einer einzigen und zwar der einzigen uneingeschränkt erfolgreichen Befreiungsbewegung der Moderne: „Sie befreite ein chemisches Element: Kohlenstoff. Die Kohlenstoffbefreiungsfront ist ein zentrales Thema des Anthropozäns und wird es bleiben. [...] Das Anthropozän läuft mit Kohlenstoff. In ihm findet keine Umverteilung von Wohlstand, Macht oder Anerkennung statt, sondern von Molekülen.“4
Eben Bogdanow aber gehört zu den Garanten, die Wark bei der Entwicklung einer Gegennarration zur Kohlenstoffbefreiungsfront heranzieht, einer Gegenerzählung zum vermeintlich alternativlosen kapitalistischen Realismus. Stattdessen wird ein alternativer Realismus postuliert, der neue Arbeitsverständnisse der Wissenskultur festigt, ebenso wie eine
„spekulative Fiktion“.5 Und letztlich braucht es „ anstatt einer Obsession für den allmächtigen Kapitalismus und des Phantasmas eines erlösenden Kommunismus ein Wissen darüber, wie Arbeit und Natur sich gegenseitig beeinflussen und vermischen; anstatt einer pauschalisierenden Kritik der Technologie als Inbegriff westlicher Metaphysik ein freimütiges Anerkennen der Verwicklung unseres Cyborg-Körpers mit dem Technischen.“6


Es sei nun ein näherer Blick auf Bogdanow geworfen. Der Bolschewist erstritt sich bereits nach der 1905er Revolution mit Lenin, der die außerparlamentarische Oppositionsrolle der Partei ablehnte, der gegen politische und intellektuelle Unabhängigkeit freilich negativ eingestellt war und der Bogdanows philosophischen und naturwissenschaftlichen Forschungen (insbesondere beeinflusst durch den österreichischen Philosophen und Physiker Ernst Mach) ablehnte, weil jene nicht im Sinne der dialektisch-materialistischen Ideologie seien. Letztlich ließ Lenin Bogdanow 1909 aus den bolschewistischen Reihen entfernen und schuf damit „einen düsteren Präzedenzfall für die Prozesse doktrinärer Orthodoxie“.7 Von Interesse ist dabei, dass Bogdanow der leitende Herausgeber der russischen Übersetzung von Das Kapital war und Marx’ von daher äußerst gut kannte ˗ dabei aber eben auch den situativen Marx, den autoritärer und dogmatischer Marxismus-Leninismus-Trotzkismus von jeher ignorieren.8

Das Überwürfnis mit Lenin bildet schon vor der Eskalation den Ausgangspunkt für Bogdanows Sci-Fi-Roman Der rote Stern (1907), der mit einer Kritik der Gewaltorgien 1905 und damit dito des herrschenden Revolutionsverständnis’ anhebt.9 Der Roman spielt indes in weiten Strecken auf dem Mars, wo ein alternatives Menschengeschlecht lebt, für welches die Umstände für den Sozialismus günstiger waren, so dass dieser schon lange realisiert ist. Neben Gleichberechtigung, befreiter Sexualität, posthumanen Techniken der Medizin,10 überwundenem patriarchalen Familien-Strukturen und überwundenem patriarchal-dualistischem Genderismus,11 dekonstruierter Kunst, die entweder vergesellschaftet ist oder aber sich durch die Ästhetik von Technologie, Design und Leben ergibt,12 der Inklusion von ‘bürgerlichen’ Errungenschaften statt deren dualistischer Ausmerzung,13 technologischer Nutzung von Anti-Materie,14 vollzogener Kernspaltung und deren sicherer Einsatz bei Raumschiff-Antrieben15 und Akzeptanz von Sterbehilfe,16 ist freilich insbesondere das dargelegte marsianische Verständnis der Arbeit von Bedeutung. Wark fasst zusammen:

„Auf dem Mars ist die Arbeit vollkommen vergesellschaftet. Der menschliche Erzähler kann kaum noch erkennen, worin Arbeit für die fortgeschrittenen Marsianer besteht [...]. Mit seinem Text konstruiert Bogdanow eine Utopie beinahe reibungsloser, von Computern koordinierte Arbeit, um den Klassenkampf auf der Erde auszuklammern und aufzuzeigen, welche andere Auseinandersetzung, nämlich die zwischen Arbeit und Natur, damit kaschiert wird. Es ist vielleicht die erste Vision einer Art Cyberkommunismus und eines neuen Produktionsmodus, die auf einem rationelleren und effizienteren Informationsmodus als dem des Marktes basiert.“17

In dem Buch ist für den menschlichen Besucher auf dem Mars die Hightech einerseits überwältigend, fast im Sinne der Erhabenheit der Natur für den Romantiker („[...] wie die riesigen Metallstücke, die auf Schienenplattformen unter die gläserne Kuppel glitten, in die eiserne Umarmung dunkler Ungeheuer gerieten, wie diese Ungeheuer sie sodann mit ihren festen Kiefern zerbissen, mit ihren schweren Pfoten zerquetschten [...]“), anderseits wird aber auch deren Eleganz und Melodik erkannt.18 Der Mars-Mensch ist mittels ‘unsichtbarer Fäden’ mit der Technologie vernetzt (so wie wir heute via WLAN, Bluetooth, Mobilfunk etc.) und eine hohe Bedeutung für das Laufen des Mechanismus haben die Daten von Mensch und Produktion (so wie bei uns heute). Insofern noch marsmenschliche Arbeiter gebraucht werden, werden über mögliche Einsatzorte stets vom ‘Computer’system zeitaktuelle Angaben darüber übermittelt; jedes Individuum entscheidet jedoch selbstmächtig über Arbeitseinsätze und deren Dauer. Das System fußt ganz auf dem Schaffensdrang des Einzelnen.19

Neben der teilweisen Digitalisierung der Arbeit pflegen die Bogdanow’schen Marsianer einen Arbeitsbegriff, der jeden Menschen als schaffendes Genie versteht ˗ selbst Bolschewisten und Marsianer können ihren Nietzsche gelesen haben! ˗:

[der menschliche Ich-Erzähler:] „Viel und gut arbeiten kann jeder. Menni ist offensichtlich etwas ganz anderes: Er ist ein Genie, ein schöpferischer Mensch, der Neues schafft und die Menschheit vorwärts bringt.“ [ein Marsianer:] „Wir denken anders darüber. Jeder Arbeiter ist ein schöpferischer Mensch, denn in jedem Arbeiter wirken Menschheit und Natur. [...] Jeder Mensch ist eine Persönlichkeit, aber sein Werk ist unpersönlich. Früher oder später stirbt er mit seinen Freuden und Leiden ˗ doch sein Werk bleibt im grenzenlos wachsenden Leben.“2

Schon mit der Begrifflichkeit der individuellen Persönlichkeit wird der Dissens mit dem Marxismus deutlich und dass Bogdanow hier näher beim Individual-Anarchisten Nietzsche (der seinen Individualismus selbst transzendiert!) ist. Grundsätzlich sieht Bogdanow zwar wie Marx die Arbeit als zentrale menschliche Gattungstätigkeit, aber es ist argumentierbar, dass der Arbeitsbegriff einem Nietzsche’schen Schaffen inhaltlich viel näher ist.

Über Marx indes heißt es in Der rote Stern z.B. ambivalent: „[...] die Werke des Arbeiter-Philosophen, der auf einfache und naive Weise als Erster die Grundlagen der proletarischen Naturphilosophie entworfen hatte.“21 Zur Diskussion gestellt wird sogar der Topos, ob die Erde des frühen 20. Jahrhunderts reif ist für eine sozialistische Revolution (wir wissen heute, dass sie es nicht war):

[...] die sozialistische Umerziehung der Erdbevölkerung. Diesen Plan haben wir alle noch unlängst gehegt, jetzt aber müssen wir ihn aufgeben. Wir wissen inzwischen genug über die Erdenmenschen, um das Illusionäre dieser Idee zu erkennen. [...] Einerseits ist die irdische Welt politisch und national schrecklich zersplittert, sodass der Kampf für den Sozialismus kein einheitlicher und geschlossener in einer Gesamtgesellschaft ist, [...]. Andererseits sind die Formen des sozialen Kampfes auf der Erde weitaus gröber und mechanischer als seinerzeit bei uns, und eine unvergleichlich große Rolle spielt unmittelbare materielle Gewalt, verkörpert durch Armeen und bewaffnete Aufstände. [...] Aber selbst dort, wo der Sozialismus als Sieger hervorgeht, wird sein Charakter nach den vielen Jahren des Belagerungszustandes, nach dem unvermeidlichen Terror und dem Militarismus stark und für lange Zeit verzerrt sein, was unausweichlich einen barbarischen Patriotismus zur Folge haben wird. Es wird bei Weitem nicht unser Sozialismus sein.“22 Also sprach ein Marsianer.Obschon der Ich-Erzähler die Menschheit ebenfalls für zu unreif hält, postuliert er nach seiner Rückkehr zur Erde doch eine Fortsetzung des revolutionären Geschehens.2

Ganz richtig kritisiert Bogdanow aber hinsichtlich Revolution/Kommunismus die dialektische Ideologie. Wark führt aus: „Die Form des dialektischen Materialismus, an die Lenin so ergeben glaubte, war für Bogdanow keine besonders plausible Alternative zu der spontanen Philosophie, wie sie von wissenschaftlichen und technischen Arbeitern gepflegt wurde. Die Dialektik ist ein idealistisches Überbleibsel in einer ansonsten tätigen und materialistischen Theorie. Marx’ Dialektik war unwirklich und zudem abstrakt, von außen auferlegt; [...] Die Dialektik ist, anders als Hegel und Marx noch behaupteten, keine universelle Methode. Sie ist nur ein Erkenntnismodell, das aus der organisatorischen Erfahrung des Menschen und überdies nur aus einem Ausschnitt davon übernommen wurde.“24

Die Hellsichtigkeit Bogdanows, dass menschliche Arbeit fatalen Raubbau an der Natur betreibt, geht so weit, dass er (unsere Historie antizipierend) in die Mars-Historie eine Periode der Boden-Austrocknung und des verherrenden Klimawandels legt, die gleichzeitig zu einer anwachsenden überschüssigen Bevölkerung verläuft25 ˗ was uns beides im 21. Jahrhundert bevorsteht. Auf dem Mars war der Ausweg aus den Problematiken die soziale Revolution.26

Die Ausbeutung der Natur und der verheerende Ressourcen-Abbau wird von Bogdanow voll erkannt, er setzt indes nicht (wie es neuere Autor*innen tun) eine völlige Synthese von Technik/Mensch/Natur dagegen, sondern das Grundmotiv Mensch versus Natur bleibt bei ihm erhalten. Dabei gibt es bei ihm die interessante Differenzierung zwischen Leben und Natur; Träger des ersteren ist z.B. der Mensch und sein Leben ist ebenfalls in die Auseinandersetzung mit der Natur verstrickt.27 In einer späteren Arbeit kritisiert Bogdanow explizit den marxistischen Materialismus, der zwar vorgeblich die Materie zum primären Sein erkläre, dabei aber die Natur abstrakt und abgesondert verstehe. Er selbst hingegen erweitert den Natur-Begriff und weist auf dessen Tendenz der Auffaltung hin: Neue Technologien erschaffen auch eine neue Natur und Umwelt des Menschen.28

Den zentralen Bogdanow’schen Gedanken zum Topos der Natur aber erörtert Wark wie folgt:

„Mit Der rote Stern [...] soll unterbreitet werden, dass der Arbeitskampf in seinem Ursprung und seinen Zwecken nicht eigentlich gegen die herrschende Klasse gerichtet ist, sondern eher dem Versuch entspricht, eine Totalität zu finden und zu begründen, innerhalb der der Mehrwert des Lebens kultiviert werden kann.“2

Schon 24 Jahre nach dem Tod von Marx, als Bogdanow 1907 Der rote Stern schreibt, ist ihm klar, dass eine solche Totalität keinesfalls dogmatisch (wie z.B. bei Marx/Marxismus) begründet sein kann, sondern flexibler und dynamischer Natur zu sein hat. Später schreibt Bogdanow in seiner Philosophie der lebendigen Erfahrung (1912): „Es kann keine absolute und ewige philosophische Wahrheit geben.“30 Er stellt das explizit in den Kontext, dass keine ‘Klasse’ eine ewig gültige Philosophie hervorbringen könne, also auch nicht die ‘Arbeiterklasse’.31Dass nach Ab- und Ausssterben der ‘Arbeiterklasse’ die Multitude des 21. Jahrhunderts einer anderen Philosophie bedarf, ist somit logische Ableitung von Bogdanow.

Eine heutige Avantgarde der organisatorischen Praxis sollte wissenschaftlich, technisch und kreativ geprägt sein und ist gleichzeitig ˗ so die Bogdanow’sche Herausforderung ˗ „vom Standpunkt der avanciertesten, allgemeinsten und komplexesten Formen gesellschaftlicher Aktivitäten aus zu denken“; Wark denkt hier vor allem an die Hacker-Kultur.32

Auch wenn im Heute der Aufbau einer ‘proletarischen Kultur’ ein Kuriosum darstellen würde, so sind Bogdanows Ansätze zum ‘Proletkult’ (Bogdanow gilt als Haupttheoretiker dieser kulturrevolutionären Bewegung der Jahre 1917-25, die ein Gegenspektakel zum bolschewistischen Sowjet-Spuk darstellt ˗ schon die vermeintliche ‘Oktoberrevolution’, eigentlich eine autoritäre Machtergreifung, ist Bogdanow suspekt) durchaus zu gebrauchen. Orientierung sucht Bogdanow dabei an Shakespeares Hamlet ˗ ein ästhetischer Aktivist, der für die Möglichkeit eines ‘anderen Lebens’ kämpft, in einer Welt, die von Intrige & Verrat bestimmt ist; ein Aktivist, der den Sturz in Wahnsinn und Tod nicht scheut. Bogdanow schafft nicht nur eine Theorie des Proletkult, sondern auch eine Pädagogik, die die Proletarier zum selbstbestimmten Aufbau des Proletkult anleiten will.33

War es das kontroverse Ziel, eine rein proletarische Kultur aufzubauen, die auf Versatzstücke der bürgerlichen Kultur radikal verzichtet (aber freilich nicht auf die Theorie der Intelligenzija; dass zudem Bogdanow in seinem Roman die Bürgerlichkeit einbezieht, wurde bereits oben gesagt), so kann man doch für das heutige Projekt der Multitude Folgendes übernehmen (freilich ohne ‘das Bürgerliche’ analog zu stigmatisieren):

das Eintreten für ein selbbstbestimmtes Tätig-Sein, die (Nietzsche’sche) Synthese zwischen Kunst/Kreativität und Schaffen, die Umgestaltung des Alltagslebens (Kollektivierung, Solidarisierung), die Dekonstruktion der Geschlechter, das Erschließen alternativer Energie-Quellen (Bogdanow sah die Endlichkeit der fossilen Brennstoffe klar voraus und verwies auf die Energien von Gezeiten, Wind und Atomspaltung).34

Dringende Inspiration an Bogdanow sei aber auch in Sachen Haltung empfohlen: Dem abtrünnigen Bolschewisten ist völlig klar, dass eine politische Revolution keine umfassende, quasi-messianische Lösung darstellt, sondern lediglich auf Organisationsprobleme aufmerksam machen und diese klar zu Tage treten lassen kann. Stellt der Topos der Organisation einen Schwerpunkt in Bogdanows Denken dar, so weiß er doch, dass es keine vollkommenen Organisationsformen geben kann, auch keine vollkommenen sozialistischen Organisationsformen. Basieren letztere auf einem Dualismus (Materie vs. Geist, Materialismus vs. Idealismus usw.), so sind sie vielmehr schlecht organisiert und autoritär ausgerichtet (die unerwünschten Polaritäten werden autoritär unterbunden, ausgemerzt oder abgesondert).35

Insgesamt ist mit Wark über den heutigen Nutzen von Bogdanow zu konstatieren: „Auch wenn man Bogdanows rückständiges Festhalten an dem autoritären Verhältnis gesellschaftlicher Arbeit zur Natur ablehnt, bleiben seine Organisationspraktiken empfehlenswert [...].“36


II. Die politische Philosophin: Hannah Arendt (1906-1975)

Ist Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1950) ihr Hauptwerk auf dem Gebiet der Politik, so ist Vita activa oder Vom tätigen Leben (1958) Hannah Arendts Hauptwerk in philosophischer Hinsicht, das eines der brennendsten Themen der modernen Post-Industrie-Gesellschaft in einen theoretischen Zusammenhang stellt.

Das Buch eröffnet mit einem Verweis auf die überschreitende Natur der conditio humana, die sich stets erweitert, erweitern will und erweitern muss: Im Jahre 1957 betrat der Mensch das Weltall, dehnte seine Wirkungssphäre damit enorm aus und ermöglichte die Perspektive, dass er einst ‘dem Gefängnis der Erde’ entkommen mag (letztere Formulierung mag gnostizistisch klingen, Arendt verweist indes auf einen US-amerikanischen Journalistischen und einen russischen Kosmonauten, die eben jenes unabhängig äußerten). Die Überschreitung durch das Eindringen in das Weltall stellt Arendt weiter neben das Begehren nach einem erweiterten Menschsein, wie es die Naturwissenschaften des 20. Jahrhunderts mit ‘künstlicher’ Reproduktion, ersten Versuchen in Sachen Gentechnik und ‘Optimierung’ des Menschseins pflegten:37

„Dieser zukünftige Mensch, von dem die Naturwissenschaften meinen, er werde in nicht mehr als hundert Jahren die Erde bevölkern, dürfte, wenn er wirklich je entstehen sollte, seine Existenz der Rebellion des Menschen gegen sein eigenes Dasein verdanken, nämlich gegen das, was ihm bei der Geburt als freie Gabe geschenkt war und was er nun gleichsam umzutauschen wünscht gegen Bedingungen, die er selbst schafft.“38

Ob der Mensch ein neues Menschsein will oder nicht, eruiert Arendt als politische Frage ersten Ranges. Dazu gehörig zählt sie auch politische Lösungen für die Post-Work-Gesellschaft:

Wir wissen bereits, ohne es uns doch recht vorstellen zu können, daß die Fabriken sich in wenigen Jahren von Menschen geleert haben werden und daß die Menschheit der uralten Bande, die sie unmittelbar an die Natur ketten, ledig sein wird, der Last der Arbeit und des Jochs der Notwendigkeit. [...] Auch ist ein von Arbeit befreites Leben ja nicht neu; es gehörte einst zu den selbstverständlichsten und bestgesichterten Privilegien der Wenigen, die über die Vielen herrschten. So mag es scheinen, als würde hier durch den technischen Fortschritt nur das verwirklicht, wovon alle Generationen des Menschengeschlechts nur träumten, ohne es jedoch leisten zu können. Aber dieser Schein trügt. [...] Die Erfüllung des uralten Traums trifft wie in der Erfüllung von Märchenwünschen auf eine Konstellation, in der der erträumte Segen sich als Fluch auswirkt. Denn es ist ja eine Arbeitsgesellschaft, die von den Fesseln der Arbeit befreit werden soll, und diese Gesellschaft kennt kaum noch vom Hörensagen die höheren und sinnvolleren Tätigkeiten, um deretwillen die Befreiung sich lohnen würde. [...] Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?“39

Das Hauptproblem sieht also Arendt (wie so viele von mir angeführte Denker*innen in Wider das Arbeitsethos-Texten) darin, dass die moderne Gesellschaft in Sachen Arbeit ideologisiert und daher vom Ende der Arbeitsgesellschaft überfordert ist. 1958 ist sie noch nichtsahnend, dass einerseits der Neoliberalismus jahrzehntelang prekäre Zwischenlösungen, andererseits gerade die Reaktionäritäten der politischen Linken, in Gewerkschaften wie Sozialdemokratie, Realitätsverweigerungen und weitere Arbeitsideologien anbieten werden.

Arendt aber wird auf gut 400 Seiten der Frage nachgehen, wie es zu dem fatalen Verständnis der Moderne von Arbeit als Lebenssinn kommen konnte. Ausgangspunkt und Ideal ihrer Studien bildet dabei das antike griechische Verständnis, welches dreierlei Kategorien des Tätigseins kannte:

1) Die Arbeit ist analog zum biologischen Stoffwechsel zu verstehen, als das Versorgen von Grundbedürfnissen. Die Arbeit oblag in der Antike den Unfreien der Gesellschaft. (Und wir können weiterdenkend analogisieren: Die Arbeit sollte heute einerseits den Robotern, KI und Androiden obliegen, andererseits die individuellen Tätigkeiten des Zubereitens von Speisen, der Körperpflege oder der Gesundheitsvorsorge umfassen. Schon bei Arendt, die allerdings eine Revolution, die Arbeit 100%ig überflüssig macht, nicht ausschließt, aber für unwahrscheinlich hält, findet sich folgende Passage: „[...] die Erfindung der stummen Roboter, mit denen Homo faber dem Animal laborans zu Hilfe gekommen ist, um damit auf seine Weise das Problem der Freiheit zu lösen [...]“40) Die Arbeit erfolgte in der Antike nicht in der politischen, freien, öffentlichen Sphäre der Polis, sondern im Privaten, es ist Ausschluss aus der Welt; sie erfolgt nicht in der Kultur der Polis, sondern in der Natur der Familie, wo auch die Reproduktionstätigkeiten verrichtet werden (Zeugen, Gebären & Erziehen).

2) Das Herstellen macht die praktischen und handwerklichen Künste (z.B. Kochkunst, Heilkunst oder Baukunst) aus, welche aus der Natur und gegen die Natur die Kultur, Objekte und Gegenständlichkeit hervorbringen. (Auch Gorz thematisiert die von Arendt aufgezeigten Differenzierungen und erörtert, dass bis in die Neuzeit hinein Handwerker zum einen werkten und zudem nicht für die ‘Arbeit’ bezahlt wurden ˗ wie Tagelöhner und Handlanger ˗, sondern sich ihr Werk nach einem festen Satz bezahlen ließen (was eine vorausgesetzte Zeitspanne nicht ausschließt, aber weit entfernt von der industriekapitalistischen vorgeschriebnen Arbeitszeit pro Tag ist.41) Ein Verständnis, dass sich bis in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit (vor der Feudalisierung und Kapitalisierung) hält.

3) Das Handeln bewegt sich indes außerhalb der Sphären von Materie, Material und Dinglichkeit; es stellt das Paradoxon dar, die individuelle Ethik in der Allgemeinheit auszutragen, im Politischen, in der Polis, jenem Bereich, wo ein Wettstreit des Überdurchschnittlichen erfolgt (heutige unterdurchschnittliche Politiker*innen hätten dort keine Chance gehabt).

Alle drei Foren der Tätigkeit stehen im Spannungsfeld zur Sterblichkeit: Das Arbeiten sichert das Am-Leben-Bleiben des Individuums, das Herstellen gibt der Flüchtigkeit des Daseins eine vorübergehende Form, das Handeln für das Gemeinwesen schafft Lebensbedingungen über die Existenz des einzelnen Individuum hinaus.42

Das Handeln ist zudem die einzige Tätigkeit, die in der griechischen Antike dem freien Mann zusteht, der insgesamt drei Möglichkeiten der Lebensweise hat, die alle dem Schönen verpflichtet sind: 1) das Genießen von schönem Leben und Leiblichkeit, 2.) das philosophische Forschen und Schauen des Schönen und 3.) eben das Erzeugen von schönen Taten innerhalb der Polis, das Handeln (πραττειν / prattein, das Wort πρᾶξις / prâxis ist das zugehörige Substantiv), die politische Tätigkeit also.43 Unterscheidungskriterium von unfreier Arbeit und freiem Handeln oder Sein ist dabei nicht eine Trennung von materieller und geistiger Arbeit; das politische Handeln kann durchaus körperliche Momente haben, entscheidend ist die Motivation durch die Vernunft (griech. φρόνησις, lat. prudentia). Umgekehrt sind viele geistige Tätigkeiten (z.B. Schreibarbeiten, Erziehung der Kinder) Sache der Sklaven.44

In einer der Schlüsselstellen von Vita Actica zieht Arendt aus dem antiken Ansatz für den Menschen per se, für die conditio humana also, folgendes Resümee:

„Im Menschen wird die Besonderheit, die er mit allem Seienden teilt, und die Verschiedenheit, die er mit allem Lebendigen teilt, zur Einzigartigkeit, und menschliche Pluralität ist eine Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, daß jedes ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist.[...] Die Arbeit mag noch charakteristisch für den menschlichen Stoffwechsel mit der Natur sein, das besagt nicht, daß jeder Mensch arbeiten müßte; [...] [...] Ein Leben ohne alles Sprechen und Handeln andererseits [...] wäre buchstäblich kein Leben mehr, sondern ein in die Länge eines Menschenlebens gezogenes Sterben; [...] / Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen.“45

Das christliche Mittelalter aber wertete das antike Verständnis, welches treffend an der conditio humana rührt, völlig um; nunmehr bleibt für den freien Menschen nur eine einzige erstrebenswerte Tätigkeit, die vita contemplativa (die unter 1.)-3.) genannten Tätigkeiten werden also nicht mehr favorisiert)46 Im Mittelalter beginnt auch die strikte Unterscheidung zwischen körperlicher Arbeit (also einstige natürliche Arbeit & das Handwerk), die abgewertet wird, und geistiger Arbeit, die Vorrang hat.47 Ebenfalls abgewertet wird dabei die Vita activa im Ganzen und damit freilich auch ihre politische Funktion, nicht Polis, Welt und Politisches haben noch länger das Primat, nicht das Diesseits, sondern das Jenseits.48

Die kapitalistische Moderne stellt das verknappte mittelalterliche System sodann komplett auf den Kopf, nunmehr ist die banale Arbeit zwecks Lebenserhalt an der Spitze des Systems angekommen,49 das Animal laborans ersetzt den rationalen Menschen.50 Dieser Vorgang gehört zu den vielen Paradoxien der Aufklärung (die ja vorgeblich die Rationalität fördern will), denn erst die finale Säkularisierung ab dem 18. Jahrhundert ermöglicht die Verherrlichung eines diesseitigen Arbeitstiers.51 Gorz weist (über Arendt hinaus) darauf hin, dass der Industriekapitalismus dabei durchaus seine Anfangsschwierigkeiten hatte, die Arbeitsideologie den Arbeitern aufzupropfen, denn die nunmehr in Fabriken Arbeitenden waren ihren intuitiven Lebensrhythmus und auch nur zu arbeiten gewohnt, bis ‘die Arbeit getan ist’ und nicht eine festgelegte Stundenzahl zu arbeiten. Diese natürliche Mentalität ließ die ersten industriekapitalistischen Fabriken pleite gehen.52

Marx treibt diese Wertigkeit bekanntlich auf die Spitze und verstrickt sich dabei in Widersprüchlichkeiten. Denn die antiken Denker hatten durchaus Recht, wenn sie das Arbeiten als Naturvorgang und als im Bereich des Privaten angesiedelt verstanden, das Herstellen und Handeln indes als Welt(en) bildend und schaffend. Marx aber will einerseits die Natürlichkeit der Arbeit, andererseits will er sie aber auch zur weltbildenden, öffentlichen Produktivkraft erheben, was ein Ding der Unmöglichkeit ist.53

Wie schon Bodganow übt auch Arendt Kritik am Materialismus, der die menschliche Individualität, die eigentliche Einzigartigkeit & Subjektivität , welche den Kern der conditio humana darstellt, ignoriert.54 Ebenso entlarvt Arendt treffsicher das (oft auch verschwörungstheoretische) Konstrukt eines Großen Unbekannten als Drahtzieher hinter Ökonomie und Politik ˗ sei es die Hand eines Gottes (Plato), eine ‘unsichtbare Hand’ (Locke) oder das ‘Klasseninteresse’ (Marx) ˗ als den politisch handelnden Menschen entmächtigend.55 Arendt verweist weiter zudem auf die für sie größte Marx’sche Unsinnigkeit, nämlich „den eklatanten Widerspruch, der darin besteht, daß Marx in allen Stadien seines Denkens davon ausgeht, den Menschen als ein Animal laborans zu definieren, um dann dies arbeitende Lebenswesen in eine ideale Gesellschaftsordnung zu führen, in der gerade sein größtes und menschlichstes Vermögen brachliegen würde.“56

Denn im dritten Band des Kapital sagt Marx in einem seiner lichteren Momente: Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört [...].“57 (Wobei Marx im Kontext freilich auch weiter für das ‘Reich der Notwendigkeit’, also der Arbeit, als Grundlage plädiert ˗ das Plädoyer für eine vollautomatisierte, arbeitsfreie Gesellschaft würde die Ideologie von Das Kapital ja vollends düpieren. ˗ Auch Gorz zitiert die Stelle und weist auf die Widersprüchlichlichkeit zum sonstigen Marx hin.58)

Letztlich versteht Arendt die Arbeitsideologie, die die Moderne dominiert, als so gewalthaltig, zwingend, unterdrückend und ausbeutend, wie es sonst nur die Folter kennt.59 Zudem wird das Animal laborans der Moderne zwar in Arbeitstrupps, Arbeitskollektiven oder in der Arbeiterbewegung organisiert, doch da die Arbeit dabei im ursprünglichen Sinne als physische Notwendigkeit ausgeübt wird, ist sie eben auch jene ursprüngliche Privatheit, die keine echte Geselligkeit, sondern nur den Zusammenschluss vereinzelter Körper kennt. Diese einzelnen Körper werden dabei jedoch ihrer eigentlichen Individualität beraubt und im Interesse eines Kollektiv-Konstrukts (Betrieb, Gewerkschaft etc.) gleichgeschaltet.60

Ob das moderne Arbeitsverständnis und dessen Kolleg*innenschaft nun von der Wirtschaft, der Politik, einer Gewerkschaft oder einem Marxisten propagiert wird, es gilt deren antipolitische Natur: „Antipolitisch an diesen, von der Arbeit bedingten, gesellschaftlichen Bildungen ist die Verschmelzung der Vielen in ein Kollektiv, also die Aufhebung der Pluralität; dies ist der genaue Gegensatz jeglicher Gemeinschaft [...].“61 Arbeiterparteien oder Gewerkschaften sind gemäß Arendt somit apolitisch motiviert, es besteht in ihnen lediglich die Chance, dass sie in günstig angelegten historischen Situationen Kräfte bündeln könnten.62 Ob der Multitude und ihren Zwecken im 21. Jahrhundert Parteien oder Gewerkschaften noch dienlich seien können, sei dahingestellt.

Weitere Problematik der heutigen Gesellschaft ist es nach Arendt, dass im Produktionsprozess (dem ursprünglichen Herstellen) Folgendes verankert ist:

Die fehlende Nachhaltigkeit, die Umdefinition von Gebrauchsgegenständen zu Konsumgütern (Möbel, Kleidung, Haushalts-, Wohnungs-, Büro-Bestückung etc.) und damit das Umdefinieren von Herstellen zu Arbeit, zu einem pseudo-natürlichen täglich neu ablaufendem Stoffwechsel also, in dem die ehemaligen schönen Dinge des Handwerks nun konsumiert, verzehrt, verdaut werden und dabei ständig ein Nachschub gebraucht wird.63 Damit zusammen hängt die Ablösung des herstellenden Menschens, des Homo fabers, durch das Arbeitstier, das Animal laborans, und damit eine „Verherrlichung der Arbeit“ im Zuge der Neuzeit.64 Dabei war bereits der Homo faber problematisch, der mit dem Übergang von Mittelalter zu Neuzeit Deutungshoheit erlangte. Schon in ihm fehlte die politische und handelnde Komponente.65

Nun wird wohl niemand unseren Massen-Gesellschaften die unmögliche Rückkehr zum Handwerk nahe legen, auch wenn Modelle, wie sie William Morris, Arts&Crafts, Deutscher Werkbund oder das Bauhaus präsentierten, nicht zwangsläufig verworfen oder zur Bespielung der oberen Zehntausend verwendet werden müssen: Wenn sich in einer Post-Work-Gesellschaft auch Menschen wieder vermehrt (kunst-)handwerklichen Tatigkeiten widmen werden, könnte das parallel zur automatisierten Produktion freilich ein größeres eigenes Feld bilden.

Auch wenn das nicht den Grundwiderspruch von der unendlichen, stoffwechselartigen Produktion auflöst (während das Herstellen ein klares Ende kannte), würde ich aber doch eminenter auf eine nachhaltigere, ökologischere, die schönen Dinge wertschätzendere Produktion (anstatt sie als Wegwerfartikel zu verstehen) setzen; sprich: Unsere Roboter sollten mit nachhaltigeren und ökologischeren Algorithmen programmiert sein als der heutige Mensch. Ein zweiter Punkt wäre freilich die Mentalität des Menschen, die zu mehr Bewusstsein gelangen könnte ˗ das wäre dann die vielbeschworene Revolution, die sich freilich im Bewusstsein vollzieht ˗, denn, so Arendt:

„Das Funktionieren der modernen Wirtschaft, die auf Arbeit und Arbeitende abgestellt ist, verlangt, daß alle weltlichen Dinge in einem immer beschleunigten Tempo erscheinen und verschwinden; sie würde sofort zum Stillstand kommen, wenn Menschen anfangen würden, Dinge in Gebrauch zu nehmen, sie zu respektieren und den ihnen innewohnenden Bestand zu erhalten.“66 Wir können das erweitern zu: Wenn die Gesellschaft nicht mehr auf die Ausbeutung arbeitender Menschen, wenn das menschliche Leben nicht mehr über die Lohnabhängigkeit definiert wird und wenn wir als Dreingabe noch bewusster werden, dann ist das Paradigma, welches im Postkapitalismus Deutungshoheit hat, von revolutionärer Qualität ˗ wobei freilich an Bogdanows Standpunkt erinnert sei, dass ‘die Revolution’ nichts Umfassendes ist.

Weiter ist bei Arendt ein gewisser Pessimismus hinsichtlich des Arbeitstiers festzustellen (in Wider das Arbeitsethos 1 verwies ich darauf, dass ein solcher Pessimismus möglich, aber nicht sonderlich konstruktiv ist), denn den Gedanken, dass der Mensch seine ‘ersparte Arbeitkraft’ en gros in Handeln für die Polis verwenden könne, verwirft sie: „[...]; die überschüssige Zeit des Animal laborans wird niemals für etwas anderes verbraucht als Konsumieren, und je mehr Zeit ihm gelassen wird, desto begehrlicher und bedrohlicher werden seine Wünsche und sein Appetit.“67 Quod esset demonstrandum.

Andererseits zeigt Arendt auch klar auf, dass die technologische Evolution des Menschen nicht aufhaltbar ist, nicht umkehrbar ist und der Mensch sich auf seine neue Natur einzulassen hat; unter der Zitierung des Physikers und Nobelpreisträgers Werner Heisenberg (1901-1976)schreibt sie:

[...] und die Apparate, die wir einst frei handhabten, fangen in der Tat an so unserem biologischen Leben zu gehören, daß es ist, als gehöre die Spezies eben nicht mehr zur Gattung der Säugetiere, sondern beginne sich in eine Art Schaltier zu verwandeln ˗ es kann so aussehen, als ob die Apparate, von denen wir überall umgeben sind, „ebenso unvermeidlich zum Menschen gehören wie das Schneckenhaus zur Schnecke oder das Netz zur Spinne. Von diesem die zur Automation drängende Entwicklung der modernen Technik antizipierenden Gesichtspunkt aus „erscheint dann die Technik [...] als ein biologischer Vorgang im Großen, bei dem die im menschlichen Organismus angelegten Strukturen in immer weiterem Maße auf die Umwelt des Menschen übertragen werden; ein biologischer Vorgang also, der eben als solcher der Kontrolle durch den Menschen entzogen ist.“68

Ebenso sieht Arendt bereits 1958 die klaren Signale für ein Ende der normativen Arbeitsgesellschaft: „[...] diese einzig auf die Arbeit abgestellte Welt ist bereits im Begriff, einer anderen Platz zu machen. Es ist uns gelungen, die dem Lebensprozeß innewohnende Mühe und Plage soweit auszuschalten, daß man den Moment voraussehen kann, an dem auch die Arbeit und die ihr erreichbare Lebenserfahrung aus dem menschlichen Erfahrungsbereich ausgeschaltet sein wird.“69

Bei den Gefahren, die Arendt dabei aufzeigt,70 fehlt die tatsächlich eingetretene neoliberale Situation, die zwar Flexibilisierung, Sporadisierung und Kreativisierung von Arbeit brachte, dabei indes oft Hand in Hand mit der Prekarisierung geht. Nach Arendt ist die größte Gefahr, dass der Mensch der mit dem Animal laborans eingeleiteten Vertierung noch weiter folgen könnte: bis zum bloß konsumierende Tier, dem Sprechen und Handeln noch weiter abhanden kommen.71

Noch haben wir die Vita activa indes nicht völlig verlernt. Manche von uns können noch Denken, Sprechen und Handeln. Arendt beendet ihr Buch süffisant mit dem Verweis, dass dabei übrigens eine in ihrem Buch gar nicht thematisierte Tätigkeit das Primat habe, wenn es um die Quantitativität des Tätigseins gehe:

„Denn hätten wir die verschiedenen Tätigkeiten der Vita activa lediglich von der Frage her betrachtet, welche von ihnen die „tätigste“ ist und in welcher sich die Erfahrung des Tätigseins am reinsten ausspricht, dann hätte sich vermutlich ergeben, daß das reine Denken alle Tätigkeiten an schierem Tätigsein übertrifft. Diejenigen, die sich in der Erfahrung des Denkens auskennen, werden schwerlich umhinkönnen, dem Ausspruch Catos zuzustimmen: numquam se plus agere quam nihil cum ageret, numquam minus solum esse quam cum solus esset, was übersetzt etwa heißt: „Niemals ist man tätiger, als wenn man dem äußeren Anschein nach nichts tut, niemals ist man weniger allein, als wenn man in der Einsamkeit mit sich allein ist.““72


III. Der Sozialphilosoph: André Gorz (1923-2007)

Ebenso wie Arendt thematisiert André Gorz frühzeitig das Ende der Arbeitsgesellschaft, anders als Arendt erlebt er noch die Neoliberalisierung, die er schon in den 1980ern in ihren vollen Abgründen erkennt.

Der französische Sozialphilosophösterreichischer Herkunft hatte zunächst mit Jean-Paul Sarte zusammengearbeitet, war Anhänger Sartres existentialistischer Variante des Marxismus’. Nach dem Pariser Mai 1968 kam es indes zum Bruch. Gorz wandte sich der politischen Ökologie zu und wurde deren führender Theoretiker. Zentrales Thema in den Überlegungen Gorz’ ist die Frage der Arbeit: Befreiung von der Arbeit, gerechte Verteilung der Arbeit, Entfremdung in der Arbeit und schlussendlich das Plädoyer für ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Sein Wege ins Paradies (1983) beschreibt die post-industrielle Situation, welche auch 2018 von Politik und Ökonomie noch nicht zu Gunsten des Menschen gehändelt wird:

„Wir kommen genau an den Punkt, den die ersten Visionäre des Nachkapitalismus ankündigten, als sie [...] eine andere Ordnung vorausahnten: jene, in der die Effizienz der Maschinen die Arbeit, die Logik des Kapitals und des Warenaustauschs abschaffen würde, so daß die „disponible Zeit“ als Maß des „wirklichen Reichtums“ erschiene. / Die mikroelektronische Revolution drängt uns zu alledem: aber die Trägheit unserer geistigen Kategorien verschleiert es uns: wir warten immer noch kläglich darauf, daß [...] der wirtschaftliche „Aufschwung“ für Vollbeschäftigkeit sorge[]; daß der Kapitalismus sich von seinem Totenbett erhebt und die Automatisierung mehr Arbeit schafft, als sie beseitigt.“73

Dass diese ‘Hoffnung’ nur direkt in die fatalen Überlebensstrategien des Systems in Form von Neoliberalisierung/Prekarisierung sowie Finanz- und Spekulationskapitalismus und deren platzenden Blasen führte, wissen wir heute. Umso mehr Grund, auf den Warner aus den 80ern zu hören, der nicht nur einen Kapitalismus ein Post- empfahl, sondern auch dem damals noch realexistierenden Sozialismus, der ebenfalls auf Ausbeutung und Industrialismus basierte.74 Dem Ostblock hält er so entgegen:

„Bisher haben alle sozialistischen Regime diese Art Religion der Arbeit eingeführt und die Entfremdung der Arbeit geleugnet, um sie verherrlichen zu können. Es wäre überhaupt nicht nötig, die Arbeit zu verherrlichen, wenn sie wirklich entfaltend und befriedigend geworden wäre. [...] Die Warenbeziehungen sind [...] nicht abgeschafft, ebenso die Entfremdung der Lohnarbeit oder die Fremdbestimmung der Natur und Spezifizierungen der Produkte, die herzustellen ich beitrage. Der Sozialismus ändert daran gar nichts.“75


Die Gorz’schen Lösungen bestehen aus a.) einem Bruch mit Konsum- und Warenlogik (wie Arendt kritisiert er den abhanden gekommenen Gebrauchswert von Dingen76) und b.) die soziale Abdeckung von Grundbedürfnissen.77

Aber auch, dass die Gesellschaft sich die Kontrolle über die digitalen Daten haben muss ˗ Top-Thema in 2018! ˗ steht auf dem Programm, denn „wenn die Gesellschaft sich nicht der Mikroinformatik bemächtigt, um die Erweiterung von Autonomie- und Selbstverwaltungsräumen einen Ausweg aus der Krise vorzubereiten, der mit dem Kapitalismus bricht, wird dieser die Gesellschaft „spontan“ zu einem neuen Typus von Industrialisierung lenken, der [...] den absoluten Triumph der Warenherrschaft besiegeln wird.“78 Diese ‘Industrialisierung’ ist eben jene, die wir heute erleben: Robotisierung, Digitalisierung und soziale Daten als Ware (obschon eigentlich vergesellschaftete ‘Arbeit’).

Freilich, auch wenn von Robotern, KI und Androiden betrieben, wird es auch weiter klassische Industrie geben. Industrie aber ist eine Vorbedingung für den Kapitalismus, so gibt es nach Gorz keine Industrie ohne Kapitalismus (weshalb auch der Ostblock sich innerhalb des kapitalistischen Paradigmas bewegte). Gorz führt dazu aus: „Was wir „Industrie“ nennen, ist nämlich eine technische Konzentration von fixem Kapital, die nur auf Basis der Trennung des Arbeiters von den Arbeitsmitteln möglich war. Allein diese Trennung machte es möglich, die Arbeit zu rationalisieren und zu (ver)ökonomisieren [...]. Die Industrie ist die Tochter des Kapitalismus, sie trägt ein unauslöschliches Mal. Sie konnte nur entstehen dank der ökonomischen Rationalisierung der Arbeit [...], und sie verewigt in ihrer Funktionsweise die ökonomische Rationalisierung wie einen Zwang, der die materielle Dinglichkeit ihrer Maschinerie durchdrängt hat. [...]. [...] und sie [die industrielle Maschinerie] wird auch dann noch fortbestehen, wenn das Privateigentum an Produktionsmitteln und mit ihm das Primat des Profits längst beseitigt sein sollten.“79

Die schlechten Nachrichten nach Gorz sind also, dass unsere Roboter teilweise unwiderruflich in industriell-kapitalistischen Verhältnissen arbeiten werden und dass die Fertigungssparte einer Massengesellschaft zwangsläufig kapitalistisch ist. Die guten Nachricht ist freilich, dass die Deutungshoheit der Industrie, des Industrie-Kapitalismus und damit auch des Kapitalismus’ per se dabei ist ein Ende zu finden und es offen ist, ob sich ein digitalisierter Neo-Feudalismus etabliert oder der Post-Kapitalismus von einem Gerechtigkeitsdenken bestimmt ist.

Das Informationszeitalter aber ist nicht nicht an einen bestimmten Organisationstyp gebunden, eigentlich steht es der kapitalistischen Akkumulation sogar entgegen: Die digitalen Technologien können einer Selbstverwaltung ebenso dienen, wie sie es gegenwärtig in dem System tun; Robotertechnologien und Automatisierung sind leistungsfähiger und billiger als obsolete Techniken, wobei sie (wider die kapitalistische Akkumulation) sowohl fixes konstantes Kapital (Investitionen) als auch variables Kapital (Arbeitskraft) als auch zirkulierendes konstantes Kapital (Rohstoffe, Energie) einsparen.80

Denn: Eine digitale Bauanleitung (inkl. der Befehle an die ausführenden Roboter) für eine Raumstation, ein digitale Medikamentenformel oder die algorithmische Programmierung für einen Chirurgen-Roboter muss nur einmal geschehen, danach ist sie (theoretisch) beliebig oft kostenfrei kopierbar. Für die Ökonomie aber bedeutet dies: „[...] die technische Revolution zieht einen Wandel nach sich, der die Grundlage des ökonomischen Denkens erschüttert: sie verursacht nicht nur, wie es bei den vergangenen technischen Revolutionen der Fall war, die Abnahme des fixen Kapitals pro Produkteinheit; sie führt auch zur Abnahme der Gesamtmasse des fixen Kapitals, das zur Produktion eines schnell wachsenden Warenvolumens notwendig ist. [...] Außerdem setzt ein neuer, auf der Automation beruhender Wachstumszyklus einen kulturellen Wandel voraus, der eben erst begonnen hat, sowie einen Wandel der ökonomischen Systeme selbst. Die Arbeitszeit wird nicht mehr das Maß des Tauschwerts und der Tauschwert nicht mehr das Maß des ökonomischen Werts sein können. Der Lohn kann nicht mehr vom Arbeitsquantum abhängen und das Recht auf ein Einkommen nicht mehr dem Besitz eines Arbeitsplatzes untergeordnet werden.“81

Kapitalismus ohne Kapital, Einkommen ohne Arbeit, das wäre eine mögliche Formel, die die Digitalisierung mit sich bringen könnte. Gorz verweist dabei ganz richtig darauf, dass auch die marxistische Lösung keine mehr ist:

Eine Arbeitswerttheorie (die uns Dekonstruktivisten schon immer suspekt war, setzt sie doch willkürlich einen ‘Wert’, der dann nur das restliche theoretische System stützt, also das Marx’sche Kartenhaus vorm Einstürzen bewahren soll) ist obsolet, ebenso wie die an den Bio-Menschen resp. ‘Arbeiter’ gefesselten Lehre vom Mehrwert, denn in der Vollautomatisierung wird nur noch Mehrwert produziert.82 Das bedeutet also:

„Die Modalitäten und Ziele der Wirtschaftslenkung können also nicht die des Kapitalismus bleiben, [...]. Diese Lenkung kann auch nicht sozialistisch sein, da das Prinzip „Jedem nach seinen Leistungen“ faktisch durchbrochen und die Vergesellschaftung des Produktionsprozesses (dessen Vollendung Marx zufolge der Sozialismus sein sollte) bereits vollzogen ist [resp. mittels einer Aufhebung der neuen digitalen Monopolisierung ohne Weiteres vollzogen werden könnte; RW]. Folglich verweist die Automatisierung auf ein Jenseits der Kapitalismus und des Sozialismus.“83

Ansatz- und Zugriffspunkt auf dieses Jenseits von Kapitalismus & Sozialismus aber ist die obsolet gewordene Arbeit, was Gorz in einen scharfen Imperativ kleidet: Jede Politik, auf welche Ideologie sich sonst auch berufen mag, ist verlogen, wenn sie die Tatsache nicht anerkennt, daß es keine Vollbeschäftigung für alle mehr geben kann und daß die Lohnarbeit nicht länger der Schwerpunkt des Lebens, ja nicht einmal die hauptsächliche Tätigkeit eines jeden bleiben kann. [...]
Das Recht auf Arbeit, das Recht auf einen Arbeitsplatz und das Recht auf Einkommen sind lange ein und dasselbe gewesen. Dabei kann es nicht mehr bleiben.“84

Neben der historischen Obsoletheit der Lohnabhängigkeit, weist Gorz an anderer Stelle auch ausführlich darauf hin, dass in der Lohnabhängigkeit das Hervorbringen / Emanzipieren von freien Individuen ein Ding der Unmöglichkeit ist. Allenfalls ein anstoßender Impuls kann aus einem Beruf heraus Richtung Emanzipation / Berufung erfolgen. Tatsächliche Gemeinschaftsbeziehungen und gelebte Solidarität aber finden heute nur noch an den Rändern des Gesellschaftssystems statt und mit Sicherheit nicht am Arbeitsplatz, in betrieblichen Zwangssolidarisierungsmaßnahmen (z.B. Betriebsausflüge) oder in gewerkschaftlichen Zusammenhängen.85

Der Gorz der 80er Jahre plädierte noch für einen Weg in die Post-Work-Gesellschaft mittels einer radikalen Arbeitszeitverkürzung, die die Arbeit zu „nur noch eine[r] Tätigkeit unter anderen möglichen, ebenso wichtigen oder wichtigeren Tätigkeiten“ werden lässt, wobei die Verkürzung dennoch die „existentielle Unterwerfung gegenüber dem Arbeitgeber“ brechen soll, während der (unrealistische) Gedanke einer Vollbeschäftigung dahin tendiere, „die auf der Leistungsethik beruhenden Herrschaftsbeziehungen zu erhalten“.86 Verschiedentlich plädiert Gorz so für einen Mindestsatz von Arbeitsstunden , die jeder Mensch in seinem Leben abzureißen habe (die Zahl von 20 000 Stunden in einem Menschenleben fällt dabei öfter, das wären z.B. bei 50 Arbeitsjahren 50 Arbeitstage á 8 Stunden pro Jahr ). In Kritik der ökonomischen Vernunft (1989) schreibt er so gegen (explizit konservative oder rechte) Grundeinkommensmodelle:

„Für ein linkes Modell von Grundsicherung kann es sich also nicht darum handeln, ein von jeder Arbeit unabhängiges Einkommen zu garantieren; es geht darum, sowohl das Einkommen als auch die ihm entsprechende Menge gesellschaftlicher Arbeit zu garantieren. Mit anderen Worten, es kommt darauf an, ein Einkommen zu garantieren, das nicht mit der Abnahme der gesellschaftlich notwendigen Arbeitsmenge sinkt. Nicht von der Arbeit als solcher, sondern nur von der Arbeitsmenge muß somit das Einkommen unabhängig werden.87

Zwar spricht Gorz z.B. auch schon in Wege ins Paradies (1983) von einer „lebenslänglichen Einkommengarantie“ und einer „gesellschaftliche[n] Form, die das Einkommen annimmt“,88 aber diese ist an die Bedingung der (recht kulanten, siehe oben) Lebensarbeitszeit gekoppelt. Dabei soll indes die systemische Gleichung ‘Arbeit = Einkommen’ bereits aufgesprengt werden und die Zahlung nicht an ‘einen Arbeiter’, sondern an Leben & Bürger*in erfolgen.89 Ebenso denkt er hier schon eine gesellschaftliche Umwertung vom Arbeitszwang zu einer Freiwilligkeit von Arbeit an.90

In seinem Arbeit zwischen Misere und Utopie (1997) bemerkt Gorz aber den Denkfehler in dieser indirekten Verknüpfung von Lebensarbeitszeit & Einkommen und schreibt:

„Dieses Modell leitete zwar den Ausstieg aus der Arbeitsgesellschaft und die Aufhebung der Lohnarbeit in die Wege, blieb aber in der Logik einer fordistisch-industrialistischen Arbeitsteilung gefangen. Es war mit den durch den Postfordismus und dem Übergang zu einer Wissensökonomie eröffneten Perspektiven nicht vereinbar.“91

In derselben Schrift thematisiert er ein Jenseits der Lohngesellschaft und hält ein Plädoyer für die Bedingungslosigkeit. Dabei beschreibt er auch prägnant, welch Irrsinn der bisherigen Koppelung von Arbeit an Lohn innewohnt:

„Das unabdingbare Bedürfnis nach einem ausreichenden und sicheren Einkommen ist eine Sache, das Bedürfnis, zu werken, zu wirken und zu handeln, sich an anderen zu messen und von ihnen anerkannt zu werden, eine andere, die weder in der ersten aufgeht noch mit ihr zusammenfällt. Der Kapitalismus dagegen verkoppelt diese beiden Bedürfnisse systematisch, verwirrt und verschmilzt sie und gründet darauf die Macht des Kapitals und seine ideologische Vorherrschaft: keine Tätigkeit, die nicht von jemandem in Auftrag gegeben und bezahlt wäre, kein ausreichendes Einkommen, das nicht die Entlohnung einer „Arbeit“ wäre.“92

Die Entkapitalisierung und Entkoppelung des individuellen Einkommens von ‘Arbeit’ kann mittels einer Gesellschaft der Multiaktivität erfolgen, die die Individuen miteinander vernetzt und auch das Einkommen vielfältig sichert: Einerseits bedingungsloses Grundeinkommen, andererseits freiwillige Jobs in verschiedenen Bereichen. Gorz bekräftigt hier auch die Ablösung des Materialismus durch Wissen, Intelligenz & Phantasie, ebenso wie das Entstehen der Kultur- anstelle der Arbeitsgesellschaft.93
Dabei wird die Differenz zwischen Kapitalismus und Gesellschaft immer größer und ist schlussendlich nicht mehr tragbar: „Mit anderen Worten, es heißt, die offenstehenden „Wege aus dem Kapitalismus“ auf ein Maximum zu erweitern, verstanden im Sinne eines biblischen Exodus, der sein „gelobtes Land“ auf dem Wege dahin erfindet.“94 Das Verständnis eines Heranreifen einer neuen Gesellschaft im Gehäuse des alten Systems ist nun ein ur-anarchistisches. Das Bild vom Exodus aber zieht 2015 auch Paul Mason in seinem Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie erneut heran.

Schon in seinen früheren Schriften plädierte Gorz angesichts der Robotisierung für eine Utopie jenseits der Arbeitsgesellschaft und dafür, „die im derzeitigen Wandlungsprozeß enthaltenen Potentiale an Befreiung wahrzunehmen und zu nutzen“95 Denn dass es aus dem Neoliberalismus einer Befreiung bedarf, steht außer Frage (meinen treuen Leser*innen kommen folgende Absätze zu Recht aus Wider das Arbeitsethos 1 bekannt vor, es kann auch nicht oft genug gesagt werden):

Nur einer privilegierten Minderheit (den Monopolisten des Silicon Valley, aber auch den Hätschelkindern der Gewerkschaften, die als Preis freilich des Bewusstseins gesellschaftspolitischer Tatsachen entsagen müssen) werden Arbeitnehmer*innen-Rechte und sichere Arbeitsverhältnisse gewährt, während die Masse, die Multitude, in prekären Beschäftigungsverhältnissen verharrt.96

Die seit Jahrzehnten bekannte Konsequenz dessen aber ist: „Diese Privilegien sind mit der ökonomischen Rationalität nur im Rahmen einer gespaltenen Gesellschaft ˗ einer dual society ˗ vereinbar; und diese Spaltung oder „Dualisierung“ ist in allen industrialisierten Ländern seit Mitte der 70er Jahre zur beherrschenden Tendenz geworden. / Überall finden wir in der Tat dasselbe Bild: Eine privilegierte Schicht stabiler und ihrem Betrieb ergebener Kernbelegschaften steht mittlerweile einer wachsenden Masse von prekär Beschäftigten, Zeitarbeitern, Arbeitslosen und Jobbern gegenüber.“97

Gerade die Gewerkschaften, einst Teilhaberinnen an emanzipatorischen Prozessen, stützen die polarisierte Gesellschaft nicht unmaßgeblich. Gorz schreibt dazu: „Die Gewerkschaften geraten in Gefahr, zu einem Versicherungsverein für eine relativ kleine, privilegierte Stammarbeitergruppe zu werden. [...] In einer Situation „deutschen Typs“ [...] werden die von einer Arbeiterelite beherrschten Gewerkschaften gefährlich dazu neigen, die Interessen der Randarbeiternehmer und Arbeitslosen zu vernachlässigen und ˗ bewußt oder unbewußt ˗ mit den Unternehmern ein ideologisches Bündnis der „Gewinner“ und „Tüchtigen“ gegen die „Unfähigen“ und „Nichtstuer“ zu schließen. Auch hier besteht also das Problem gewerkschaftlicher Politik ˗ nach der Formel von Peter Glotz ˗ darin, „die Starken mit den Schwachen zu solidarisieren“. / Diese Solidarisierung wird aber nur aus einer Sicht heraus möglich sein, die radikal mit der Arbeitethik und der von uns so genannten Arbeitsutopie bricht. Diese Utopie ˗ samt ihrer Ethik von Leistungsbereitschaft, Anstrengung und Berufsstolz ˗ verliert unabwendbar jeden humanistischen Gehalt in einer Situation, in der die Arbeit nicht mehr die wichtigste Produktivkraft ist und es daher auch nicht genügend Dauerarbeitsplätze für alle geben kann.“ 98

Diese Situation herrscht freilich bereits seit Jahrzehnten, wenn sich auch immer systemrelevante Jobs als Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen fanden, die die Situation verschleierten. In den nächsten 20 Jahren indes werden diese ABM dererlei Absurdität annehmen, dass die Verschleierung nicht länger haltbar ist und dass der notwendige Systemwechsel, würde es denn mit rechten Dingen zugehen, der Multitude evident werden muss. ˗ Der Mensch nimmt leider allzu oft Absurditäten unhinterfragt hin. Mason beschreibt ein modernes Automobilwerk, das eine Fertigungsstraße hat, die via Computer gesteuert wird, dabei aber menschlichen Arbeiter*innen auf einem Bildschirm anzeigt, welche Schraubenschlüssel sie wo einsetzen sollen. Die Arbeiter*innen nehmen lieber eine derartige groteske Situation hin, ‘als ihren Job zu verlieren’. Die Arbeitgeberin beutet lieber Menschen aus, statt in Roboter zu investieren.99

Die heutige Gemengelage lässt sich mit Scrnicek/Williams wie folgt vereinfacht darstellen: Gewerkschaften, Kapital & Industrie/Unternehmen bilden die Blockade/Schnittstelle zwischen Politik und vorhandenem/potentiellem Fortschritt. Gegenwärtige Aufgabe der Politik ist es, die Notwendigkeit dieser Blockade aufzuheben, also das globale Ende der Lohnabhängigkeit (z.B. mittels BGE) gesellschaftspolitisch zu ermöglichen. Das ist freilich mit den Schwierigkeiten verbunden, dass Gewerkschaften, Kapital & Industrie gerne vor allem aus Eigeninteresse handeln: Industrie/Unternehmen & Kapital wollen sich am möglichen Fortschritt zuallererst selbst bereichern (und investieren so freilich bereits punktuell in Forschung & Umsetzung) , während die Gewerkschaften derzeit die Optionen haben

a.) sinnstiftend im Dienste der Menschheit (anstatt nur für handverlesene Arbeitnehmer *innen) zu fungieren,


b.) sich aufzulösen oder


c.) am Status quo starrsinnig festzuhalten, weiter (wider alle gesellschaftliche Realität) Lohnabhängigkeit, Arbeitsideologie und obsolet gewordene Arbeits- und Lohnrechte zu propagieren, Arbeitslose nicht zu emanzipieren, sondern zwanghaft in (mühsam konstruierten) ‘Arbeitstellen’ ruhig zu stellen oder auch mal mit schwachbrüstigen Papieren pseudo-progressiv ein ‘Arbeit 4.0’ vermeintlich zu thematisieren.

Leider ist c.) weitestgehend die Realität und nur eine linke, emanzipatorische Politik könnte das ändern, indem sie die Gewerkschaften ihre neue Funktion zuweist (zum Beispiel mit der Drohung bundesweit zum Gewerkschaften-Austritt aufzurufen): das Wohlergehen und die Rechte der Multitude. Jenseits aller Rationalität, jenseits allen emanzipatorischen Interesses, agiert eine ‘linke’ Politik gegenwärtig aber gerne umgekehrt im Interesse der Gewerkschaften und erhält gemeinsam mit diesen den fatalen Status quo.100

Beispielsweise auch Paul Mason stellt die reaktionäre Haltung eines solchen Agierens klar heraus:

„In der entwickelten Welt klammert sich ein harter Kern von Gewerkschaftsaktivisten weiter an die Methoden und die Kultur der Vergangenheit, aber eine aufstrebende Klasse junger Arbeitskräfte in prekären Beschäftigungsverhältnissen fällt es leichter, Gebäude zu stürmen und Straßenschlachten anzuzetteln, als einer Gewerkschaft beizutreten (siehe Athen im Dezember 2008). [...] Wenn die Geschichte des Kapitalismus einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben muss, so gilt dasselbe für die Geschichte der organisierten Arbeiterbewegung. [...] Als historisches Subjekt wird sie [die Arbeiterbewegung] von einer vielgestaltigen globalen Bevölkerung ersetzt, deren Kampf nicht auf die Arbeit beschränkt ist, sondern in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens geführt wird, und deren Lebensstil nicht von Solidarität, sondern von Unbeständigkeit geprägt ist. [...] Der Marxismus hat sich in Bezug auf die Arbeiterklasse getäuscht.“101

Ob aber mit oder ohne Gewerkschaften, es gilt mit Gorz: „Um eine dauerhafte Südafrikanisierung der Gesellschaft zu verhindern, müssen wir eine andere Utopie verfolgen!“102

Die Gorz’sche Utopie aber beruft sich vor allem auf die Topoi der ‘freien Zeit’, der ‘Eigenarbeit’, des sozialen Engagments, des gemeinschaftlichen Lebens und kommunaler Kultur, der neuen Formen sozialer Kreativität, der Kulturgesellschaft, des Tätig-Seins und des ‘Werks’.103 Bemerkenswert ist, dass sich einige dieser Ansätze in einem SPD-Programm-Entwurf (das sog. Irsser Programm) aus dem Jahr 1986 finden, als den Parteivorsitz Willy Brandt inne hatte. Ein Entwurf freilich, der nie verabschiedet wurde:

„Da die Erwerbsarbeit immer weniger Zeit erfordert, ist eine Kultur der Eigenarbeit nötig, die auch die Ausbeutung durch Unterhaltungs- und Freizeitindustrie entgegenwirkt. Eigenarbeit in Haus, Garten, Umwelt, aber auch soziales Engagement in der Nachbarschaft können Werte schaffen, vor allem aber menschliche Fähigkeiten und Neigungen zur Entfaltung bringen, die in der Erwerbsarbeit verkümmern oder nicht gefragt sind. [...] Wir wollen, daß sich in den Gemeinden eine kommunale Kultur, eine Kultur der Geselligkeits, des Feierns und der Besinnung erhält oder herausbildet.“104

Weiter expliziert Gorz, dass ˗ was heute sowieso freilich kaum jemand noch fordern würde ˗ der Wohlfahrtsstaat und die soziale Marktwirtschaft nichts mit seiner Utopie zu tun haben, denn der Sozial-Etatismus baute keine Gemeinschaft auf, vereinte die Empfänger*innen von Sozialleistungen nicht, sondern war lediglich vorübergehend mögliche Fassade des nach wie vor unsolidarischen kapitalistischen Systems.105

Auch auf den Nationalstaat zu setzen, erkennt Gorz schon 1989 als widersinnig in einer Welt, die globalisiert (und selbstverständlich wollen wir eine, wenn auch nicht eine neoliberal globalisierte, aber so doch eine kosmopolitische Welt ohne Grenzen!) und auf das internationale Kapital hin zugeschnitten ist, wenn auch die inter-, trans- oder supranationalen Ansätze linker Parteien (und/oder quasi-sozialistsiche Regime) seinerzeit (und auch heute kennen wir dort wieder solche nationalen Rückwärtsrollen) recht kümmerlich waren. Der Internationalismus linker Politik aber ist unabdingbar.106

Wie schon angerissen, wird Gorz in seinen letzten 10 Lebensjahren zudem für das bedingungslose Grundeinkommen eintreten, welches sich von rechten, konservativen oder neoliberalen BGE-Konzepten, die die Menschen nur irgendwie am Leben & Konsumieren erhalten und zum Zwangsarbeiten heranziehen wollen (in unserer Zeit versucht sich eine abgrundtief nach rechts abgerutschte SPD an solchen Konzepten, unter den irrwitzigen und inkommensurabelen Begriffen Hartz IV-Abschaffen oder solidarisches Grundeinkommen), radikal unterscheidet:

„Ein allen garantiertes, ausreichendes soziales Grundeinkommen untersteht einer umgekehrten Logik: Es soll nicht mehr diejenigen, die es beziehen, zu jeder beliebigen Arbeit unter allen Bedingungen zwingen, sondern es zielt auf deren Befreiung von den Zwängen des Arbeitsmarktes ab. Es soll ihnen ermöglichen, „unwürdige“ Arbeit und Arbeitsbedingungen abzulehnen, und es soll darüber hinaus einem sozialen Umfeld zugehören, das jedem Einzelnen erlaubt, jederzeit zwischen dem Nutzwert seiner Zeit und ihrem Tauschwert zu entscheiden, das heißt zwischen den „Gebrauchswerten“, die er durch den Verkauf seiner Arbeitszeit erwerben, und den Nutzwerken, die er durch eigenständige Verwendung dieser Zeit schaffen kann.“107

Das Gorz’sche Plädoyer für die Bedingungslosigkeit baut auf folgenden Punkten auf (ich wiederhole wiederum schon in Wider das Arbeitsethos 1 Geschriebenes):

Durch das Ende des Industrie-Kapitalismus wurden und werden weiter Intelligenz und Phantasie zu der Hauptproduktivkraft, die Arbeitszeit hört auf, das Maß für Arbeit zu sein. Die Unmöglichkeit einer angemessen Vergütung einer immatriellen Produktivkraft verharrt momentan in der unsicheren Beschäftigung oder der prekären Bezahlung. Das allgemeine, garantierte und ausreichende Grundeinkommen würde diesen Missstand auflösen; bezahlte und unbezahlte Arbeiten werden in der Folge neu umverteilt.108

Arbeiten, die heute und in Zukunft noch von Bio-Menschen verrichtet werden sollen, werden kompetenter und motivierter ausgeführt, da ja Freiwilligkeit und Überzeugung der Individuen die Triebkraft zum Annehmen dieser Jobs sind.109

Das Grundeinkommen verlagert die Perspektive vom menschlichen Bio-Material und von der kollektivistischen Gleichmacherei hin auf die Individuen, deren Wissen in seiner allgemeinen gesellschaftlichen Anwendung die unmittelbare Produktivkraft wird. Dabei produziert das Individuum sich selbst (seine Anlagen und Interessen) gleichzeitig mit der Produktion der Umwelt, den menschlichen Beziehungen und den unzähligen kulturgesellschaftlichen Standorten.110

Die gegenwärtige Tendenz, dass immer mehr Reichtum einiger immer weniger Kapital und Arbeit produziert und der Multitude, der überschüssigen Bevölkerung, Armut bevorsteht, wird direkt angegangen. Der von Gegnern angeführte Einwand zur unmöglichen Finanzierung eines Grundeinkommens, legt dabei auf kurioseste Weise den Finger in die Wunde: Selbstverfreilich befindet sich das System in einer derartigen Schieflage, dass eine hinreichende Versorgung aller eben nicht möglich ist. Gerade deshalb bedarf es des Systemwechsels!111 Es gilt: „Denkt man die Implikationen des allgemeinen, ausreichenden sozialen Grundeinkommens konsequent zu Ende, bedeutet es eine Vergemeinschaftung der gesellschaftlich produzierten Reichtümer, eine Vergemeinschaftung, keine „Aufteilung“.“112

Insbesondere in den Metropolen dürfte sich aber die Garantie eines sozialen Grundeinkommens als Aktivitätsmulitplikator erweisen und wirkt gleichzeitig als politische Intervention zur Stadterneuerung. Es zeichnet sich folgendes Bild:
Jeder und jede muss von Kindheit an durch die Fülle der sie umgebenden Gruppen, Verbände, Werkstätten, Klubs, Kooperativen, Vereinigungen und Organisationen, die sie für ihre Tätigkeiten und Projekte zu gewinnen suchen, mitgerissen und umworben werden. Es geht dabei um künstlerische, politische, wissenschaftliche, ökosophische, sportliche, handwerkliche und Beziehungsaktivitäten, Selbstversorgungs- und Reparaturarbeiten, Restaurierungsarbeiten des natürlichen und kulturellen Erbes, um die Gestaltung des Lebensraumes und Energieersparnisse, um ‚Kinderläden‘, ‚Gesundheitsläden‘, Netzwerke zum Austausch von Dienst- und Hilfeleistungen, gegenseitiger Unterstützung etc. Diese eigenständigen Aktivitäten, als selbstorganisierte und selbstverwaltete, als freiwillige und allen offenstehende, dürfen nicht als unselbständige Ergänzung der kapitalistischen Marktwirtschaft und auch nicht als pflichtgemäße Gegenleistung für das sie ermöglichende Grundeinkommen angesehen werden. Da sie weder des Kapitals bedürfen noch seiner Verwertung [...], sind sie dazu berufen, den durch die Abnahme des Arbeitsvolumens verfügbar gemachten gesellschaftlichen Raum der kapitalistischen Marktlogik zu entziehen und die Lohnarbeit größtenteils zu verdrängen, um jenseits davon assoziative und freie soziale Bindungen zu schaffen. Sie sind zur Hegemonie berufen und müssen, um diese zu erlangen, zu Räumen des Widerstands gegen die herrschenden Mächte werden, zu Räumen des praktischen Protests sowie des Experimentierens mit und der Erarbeitung von alternativer Gesellschaftlichkeit und gesellschaftlichen Alternativen zur sich auflösenden Gesellschaft.“113
Auch wenn sich die Beschreibung ähnlich anhört, gehört das Gorz’sche Konzept nicht zu jenen linken Folklore-Lebensmodellen, die sich damit abfinden, in Nischen der Gesellschaft ihre eigene kleine Welt aufzubauen, sondern die Entwicklung ist tatsächlich gesamtgesellschaftlich gemeint und bedarf zudem dem Erhalt öffentlicher Dienste und Verwaltungen, denen indes nicht mehr die Deutungshoheit über das individuelle Leben zukommt.114

Explizit werden von Gorz z.B. die sogenannten Kooperationsringe erörtert, die ohne Geldleistungen gegenseitige Hilfstätigkeiten vermitteln.115 Der Sozialphilosoph verweist weiter in Arbeit zwischen Misere und Utopie auf verschiedene Modelle, wie sich das tätige Leben der Multitude in Zukunft gestalten kann. Er zeigt dabei Erfahrungen aus unterschiedlichen Ländern auf, die eine Diskontinuität der Arbeitszeit bereits erprobt haben, ob mit einer freien Woche pro Monat oder regelmäßigen einjährigen Beurlaubungen. Es gilt das Fazit: „Diese unterschiedlichen Vorgehensweisen zeigen, daß die Diskontinuität nicht notwendig die Prekarität des Arbeitsplatzes mit sich bringen muß. Im Gegenteil kann über diskontinuierliche Arbeit die Sicherheit des Arbeitsplatzes garantiert werden, je diskontinuierlicher diese, desto sicherer jener. Denn diskontinuierliche Arbeit bedeutet letztlich nichts anderes als eine Verkürzung der halbjährigen, einjährigen oder mehrjährigen Arbeitszeit bei gleichzeitiger Umverteilung der Arbeitsplätze auf eine größere Personenzahl.“116

Ein Punkt, den Gorz nicht nennt, sei hier zusammen mit Mason auf das Grundeinkommen bezogen: die Beschleunigung der technologischen Transformation. Mason schreibt:
„Warum sollten wir Menschen einfach dafür bezahlen, dass sie existieren? Weil wir den technologischen Fortschritt erheblich beschleunigen müssen. Wenn in den fortschrittlichen Volkswirtschaften 47 Prozent aller Arbeitsplätze der Automatisierung zum Opfer fallen werden, wie die Studie der Oxford Martin School nahelegt, dann wird das Prekariat im neoliberalen System erheblich wachsen. Ein mit den Einnahmen aus der Besteuerung der Marktwirtschaft finanziertes Grundeinkommen eröffnet den Menschen die Möglichkeit, sich eine Position sich in der Nicht-Marktwirtschaft zu sichern. [...] Ein Grundeinkommen ist eine große Belastung für den Staatshaushalt ˗ deshalb dürften Versuche, es unabhängig von einem umfassenden Transitionsprojekt einzuführen, zum Scheitern verurteilt sein [...].“117

Schon der sozialistische US-Autor Edward Bellamy (1850-1898) oder der österreichische Sozialphilosoph Joseph Popper-Lynkeus (1838-1921) ˗ Onkel Karl Poppers und bewundert von Albert Einstein ˗ sprachen sich in diesem Sinne für ein Grundeinkommen aus, ebenso die ökonomische distributistische Schule, die sich auf Jacques Duboin (1878-1976) beruft, die avantgardistische Bewegung L’Ordre nouveau in den 30er Jahren (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen späteren rechtsextremen Gruppierung!), verschiedene US-amerikanische Autoren im 20. Jahrhundert etc. pp.118

Eminent dabei ist, so sei noch einmal mit Gorz wiederholt und das Mason'sche Diktum variiert: „Die Forderung eines garantierten Grundeinkommens ist [...] sinnlos, wenn sie nicht derart konzipiert und mit anderen Forderungen verkoppelt wird, daß sie innerhalb des kapitalistischen Systems zwar realisierbar ist, aber „über das kapitalistisch-industrialistische System hinausweist.“ 119 Gleichsam ist dieser Umbruch in seiner Realisierbarkeit greifbar, was weder linke leere Sprechblasen oder autoritär-reaktionär linke Konzepte ˗ neben ihrer Unmenschlichkeit ˗ nun nicht von sich behaupten können.


Literatur (Auswahl)


Nils Adamo, ‘Bedingungsloses Grundeinkommen. Sozialromantik oder Zukunft des Sozialstaates?’, Darmstadt 2012.

Hannah Arendt, ‘Vita activa oder Vom tätigen Leben’ (1958), München/Berlin/Zürich 2016.


Rutger
Bregman, ‘Utopien für Realisten. Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen’, Reinbek bei Hamburg 2017.

Dietmar Dath, ‘Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift’, Frankfurt am Main 2008.

Jacques Derrida, ‘Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale’ (1993), Frankfurt am Main 2016.

André Gorz, ‘Wege ins Paradies. Thesen zur Krise, Automation und Zukunft der Arbeit’, Berlin 1983

André Gorz, ‘Arbeit zwischen Misere und Utopie’ (1997), Frankfurt am Main 2000.

André Gorz, ‘Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft’, Berlin 1989.

Michael Hardt/Antonio Negri, ‘Common Wealth. Das Ende des Eigentums’, Frankfurt am Main 2010.

Paul Lafargue, ‘Das Recht auf Faulheit’ (1883), Frankfurt am Main 2010.

Paul Mason, ‘Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie’, Berlin 2016.

Nick Srnicek/Alex Williams, ‘Die Zukunft erfinden. Postkapitalismus und die Welt ohne Arbeit’, Berlin 2016.

McKenzie Wark, ‘Molokulares Rot. Theorie für das Anthropozän’, Berlin 2017.


Anmerkungen

1 Vgl. McKenzie Wark, ‘Molokulares Rot.Theorie für das Anthropozän’, Berlin 2017;, S. 15.

2 Ebd., S. 8ff.

3 Zit. nach: ebd., S. 10f.

4 ZIt. nach: ebd., S. 12.

5 Ebd., S. 21.

6 Zit. nach: ebd., S. 21.

7 Ebd., S. 28ff.

8 Ebd., S. 37.

9 Vgl. Alexander A. Bogdanow, ‘Der rote Stern’ (1907), Bremen 2011, S. 1ff.

10 Wark, S. 33f.

11 Bogdanow, S. 72f.

12 Ebd., S. 80ff.

13 Ebd. S. 86f.

14 Bogdanow, S. 8.

15 Ebd, S. 23.

16 Ebd., S. 95.

17 Zit. nach: Wark, S. 34.

18 Bogdanow, S. 64f.

19 Ebd., S. 66ff.

20 ZIt. nach: Bogdanow, S. 33f.

21 Zit. nach: ebd., S. 45.

22 Zit. nach: ebd., S. 141ff.

23 Ebd., S. 172.

24 Zit. nach: Wark, S. 51f.

25 Vgl. ebd., S. 50ff.

26 Ebd., S. 52.

27 Vgl. ebd., S. 88f.

28 Ebd., S. 45.

29 Zit. nach: ebd., S. 36.

30 Hier zit. nach: ebd., S. 41.

31 Ebd., S. 41f. ˗ Weiter postuliert Wark bei einer Anwendung Bogdanows auf das 21. Jahrhundert: Das Produkt aus der Summe aller Arbeiten (ausgeführt von z.B. KI und Robotern) hat der Multitude zu gehören & freilich ist auf den (von Bogdanow nicht erwarteten) „Gegenangriff des Kapitals“ seit den 1970ern zu reagieren: die Prekarisierung von Arbeit. ˗ Vgl. ebd., S. 58ff.

32 Ebd., S. 57.

33 Ebd., S. 61ff.

34 Vgl. ebd., S. 68ff.

35 Vgl. ebd., S. 82ff.

36 Zit. nach: Wark, S. 55.

37 Hannah Arendt, ‘Vita activa oder Vom tätigen Leben’ (1958), München/Berlin/Zürich 2016, S. 7ff.

38 Zit. nach: ebd., S. 9f.

39 Zit. nach: ebd., S. 12f.

40 Zit. nach: ebd., S. 142.

41 Vgl. André Gorz, ‘Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft’, Berlin 1989, S. 31.

42 Arendt., S. 16ff., S. 40, S. 53, S. 139.

43 Ebd., S. 23.

44 Ebd., S. 109f.

45 Zit. nach: ebd., S. 214f.

46 Ebd., S. 24.

47 Ebd., S. 109.

48 Ebd., S. 403.

49 Ebd., S. 27.

50 Ebd. S. 103.

51 Ebd., S. 407.

52 Gorz, Kritik Vernunft, S. 39.

53 Ebd., S. 120.

54 Vgl. ebd., S. 225f.

55 Ebd., S. 229.

56 Zit. nach: Ebd., S. 123.

57 Hier zit. nach: Arendt, S. 123.

58 Vgl. Gorz, Kritik Vernunft, S. 29.

59 Ebd., S. 153.

60 Ebd., S. 270f.

61 Zit. nach: ebd., S. 272.

62 Ebd., S. 274.

63 Ebd., S. 146.

64 Ebd., S. 390f.; vgl. weiterführend: ebd., S. 390-399.

65 Ebd., S. 380f.

66 Zit. nach: ebd., S. 149.

67 Zit. nach: ebd., S. 157.

68 Zit. nach: ebd., S. 181.

69 ZIt. nach: ebd., S. 410.

70 Vgl. ebd., S. 410.

71 Vgl. ebd., S. 411.

72 Zit. nach: ebd., S. S. 414f.

73 Zit. nach: André Gorz, ‘Wege ins Paradies. Thesen zur Krise, Automation und Zukunft der Arbeit’, Berlin 1983, S. 8f.

74 Ebd., S. 14.

75 Zit. nach: ebd., S. 104 u. 106.

76 Ebd., S. 85.

77 Vgl. ebd., S. 34-43.

78 ZIt. nach: ebd., S. 42.

79 Zit. nach: Gorz, Kritik Vernunft, S. 80f.

80 Ebd., S. 49.

81 Zit. nach: ebd., S. 50.

82 Ebd. S. 52f.

83 Zit. nach: ebd., S. 53.

84 Zit. nach: ebd., S. 56.

85 Vgl. Gorz, Kritik Vernunft, S. 144f.

86 Gorz, Paradies, S. 57f.

87 Zit. nach: Gorz, Kritik Vernunft, S. 295.

88 Gorz, Paradies, S. 69.

89 Ebd., S. 72.

90 Vgl. ebd., S. 84f. u. 86f.

91 Zit. nach: André Gorz, ‘Arbeit zwischen Misere und Utopie’ (frz. 1997), Frankfurt am Main 2000, S. 119.

92 Zit. nach: ebd., S. 102.

93 Ebd., S. 106ff.

94 Zit. nach: ebd., S. 111.

95 Gorz, Kritik Vernunft, S. 24.

96 Vgl. ebd., S. 97.

97 Zit. nach: ebd., S. 98.

98 Zit. nach: ebd., S. 103ff.

99 Vgl. Mason, S. 365.

100 Vgl. insb. Srnicek/Williams, S. 271ff.

101 Zit. nach: Mason, S. 239ff.

102 Zit. nach: Gorz, Kritik Vernunft, S. 107.

103 Ebd., S. 257f.

104 SPD, ‘Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ‘(Entwurf: Irsee, Juni 1986), Kapitel XII. ‘Auf dem Weg zur Kulturgesellschaft’; hier zit. nach: Gorz, Kritik Vernunft, S. 257f.

105 Gorz, Kritik Vernunft, S. 262f.

106 Ebd., S. 264ff.

107 Zit. nach: Gorz, Misere, S. 115f.

108 Ebd., S. 120.

109 Vgl. ebd., S. 120-127.

110 Ebd., S. 127f.

111 Ebd., S. 129f.

112 Zit. nach: ebd., S. 131.

113 Zit. nach: ebd., S. 144f.

114 Vgl. ebd., S. 159.

115 Vgl. ebd., S. 149ff.

116 Zit. nach: ebd., S. 138.

117 Zit. nach: Mason, S. 362f.

118 Gorz, Misere,. S. 117.

119 Zit. nach: ebd., S. 117.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Dr. Roland Wagner

... promovierte mit einer interdisziplinären Schrift, lebt in Frankfurt/Main, arbeitet seit 2018 in einer Beratungsstelle für Geflüchtete.

Dr. Roland Wagner

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