Niemand saugt uns auf

Widerständig Kerem Schamberger und Michael Meyen lassen nur wenige Fragen über Kurdistan offen
Ausgabe 44/2018
In der mehrheitlich kurdischen Provinz Şırnak in Südostanatolien begehen Kurden das Frühjahrsfest Newroz
In der mehrheitlich kurdischen Provinz Şırnak in Südostanatolien begehen Kurden das Frühjahrsfest Newroz

Foto: Yasin Akgul/AFP/Getty Images

Für die Kurden gibt es in Deutschland eine alte, romantische Sympathie, sowohl bei Rechten, die ihren Traditionalismus schätzen, als auch bei Linken, die ihren Kampf um Selbstbestimmung unterstützen. Deshalb gab es keinerlei Widerspruch, als die Verteidigungsministerin die Bundeswehr in den Irak schickte, um den Peschmerga gegen den IS zu helfen. Als sie 2017 ihre Unabhängigkeit erklärten und die irakische Armee dieser ein grausames Ende bereitete, zog sich das Kontingent der Bundeswehr aus Südkurdistan zurück und fungiert seitdem als Unterstützer der irakischen Armee.

Wenn in Deutschland für Selbstbestimmung der Kurden in der Türkei, Syrien oder dem Irak demonstriert wird, achten Verfassungsschutz und Polizei mit Argusaugen und oft auch mit Tränengas und Schlagstöcken darauf, dass da keine Nähe zur verbotenen PKK sichtbar wird. Immer wieder bestätigt sich, was schon der Klappentext zu Kerem Schambergers und Michael Meyens Buch feststellt: Dieses Volk ist „zu groß, um einfach aufgesaugt zu werden von Staaten, die nach dem 1. Weltkrieg am Reißbrett der Weltpolitik entstanden sind, und zu klein, um im Westen Gehör zu finden.“

Sosehr sich diese Grundsituation der Kurden in der Türkei, in Syrien und im Irak gleicht, so unterschiedlich ist sie im Detail. Das hängt nicht nur davon ab, wie sich die jeweiligen Staaten, in die sie integriert wurden, den Kurden gegenüber verhielten, sondern auch von der Isolation, in der die Gemeinschaften historisch gelebt hatten. Das hemmte lange die Herausbildung eines Nationalbewusstseins und drückt sich in sprachlichen Unterschieden aus: Die meisten Kurden in der Türkei, in Syrien und Teilen des Nordirak sprechen Kuramandschi-Dialekte, während die in Iran und Irak lebenden Sorani-Dialekte sprechen.

Im Nordirak markiert die Sprachgrenze auch eine scharfe politische Grenze. Zwischen dem vom Barzani-Clan beherrschten Gebiet und dem Gebiet des Talabani-Clans gab es Anfang der 90er Jahre Bürgerkrieg. Während Dschalal Talabani nach Saddams Ende bis zu seinem Tod 2014 Präsident des Irak war und in seiner Heimat der Einfluss der PKK stark ist, erkaufte sich Masud Barzani Wohlwollen der Türkei, indem er PKK-Leute verfolgte.

Der Bericht der Frisörin

Ein Verdienst des Buches ist, dass es die wenig bekannte Entwicklung der politischen Konzepte Öcalans darlegt, deren Kern schon lange nicht mehr der bewaffnete Kampf um ein unabhängiges Großkurdistan ist, sondern der Kampf um Demokratisierung der politischen Systeme und lokale Selbstbestimmung innerhalb der bestehenden staatlichen Rahmen. Dem am nächsten kamen die Kurden in Syrien, weil die syrische Armee im Juli 2012 aus ihrem Gebiet abzog. Damit widerstanden die Kurden militärisch zunächst allein nicht nur dem IS, sondern schufen auch die unter dem Namen Rojava bekannten Selbstverwaltungsstrukturen, die auch die politische Gleichstellung von Frauen förderten. Dass die Türkei die größte Sorge vor einem dauerhaften Erfolg des Rojava-Projekts hat, zeigte sich an der nicht zufällig während des Syrienkriegs einsetzenden brutalen Unterdrückung der kurdischen Demokratiebewegung im eigenen Land.

Das Buch gewinnt eine multiperspektivische, zuweilen kritische Sicht auf die Entwicklungen in den verschiedenen Kurdengebieten, weil es in großen Teilen auf aktuellen Reiseberichten und Interviews basiert: von und mit Journalisten, Wissenschaftlern und Engagierten. Besonders berührend ist der Bericht von Leyla Imret, einer in Bremen aufgewachsenen Friseurin, die 2014 in der Stadt Cizre, aus der ihre Familie stammt, zur Bürgermeisterin gewählt wurde. Dort schob sie wichtige kommunale Projekte an, versorgte 6.000 jesidische Flüchtlinge vom Shingal-Gebirge aus dem klammen Stadtbudget und erlebte schließlich die Bombardierungen der türkischen Armee mit, die große Teile Cizres in eine Trümmerwüste verwandelten.

Leider geht das Buch einigen wichtigen Fragen aus dem Weg: Man erfährt nichts über die Zeit, als der IS die Kurden bedrängte, nichts über das erhebliche militärische Engagement der USA und nichts darüber, wie sich die Demokratische Konföderation Nordsyrien – so nennt sich Rojava heute – ein Arrangement mit dem syrischen Staat vorstellt.

Info

Die Kurden. Ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion Kerem Schamberger, Michael Meyen Westend 2018, 236 S., 19 €

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