„Kriegsfibel“ von Ruth Berlau und Bertolt Brecht: Schneiden Sie, schneiden Sie aus!
Zeitgeschichte In der DDR erscheint 1955 nach anfänglichem Widerstand ein Buch Ruth Berlaus und Bertolt Brechts, die als Schöpfer im Umgang mit medialer Manipulation ihrer Zeit voraus sind. Agenturfotos werden durch Vierzeiler neue Wahrheiten abgerungen
Das Umschlagbild (links) war eine Herausforderung für die DDR-Kulturpolitik.
Repro: Daniel Seiffert
Ein in seiner Bedeutung bislang unterschätztes Antikriegswerk Bertolt Brechts ist die Kriegsfibel. Sie entstand aus einer im Exil angelegten Sammlung von Kriegsfotos, ausgeschnitten aus deutschen Zeitungen und aus Blättern in Brechts skandinavischen Exilländern sowie den USA. Kombiniert mit Vierzeilern, die Brecht zu den Aufnahmen dichtete, wurde daraus die erst 1955 erschienene Kriegsfibel, ein Gemeinschaftswerk mit Brechts Mitarbeiterin und Geliebten Ruth Berlau.
Seit 1937 sammelten sie Zeitungsbilder, beginnend mit Aufnahmen aus dem Spanischen Bürgerkrieg, sodass ein erster Grundstock für das spätere Werk entstand. Aus dem finnischen Exil dankte Berlau 1941 dem in Dänemark gebliebenen Freund Knud Rasmussen enthusiastisch für die Illustrierte Billed
iebenen Freund Knud Rasmussen enthusiastisch für die Illustrierte Billedbladet, die bei „himself“ Jubel ausgelöst habe. Damit war Brecht gemeint, dessen Aufenthaltsort geheim bleiben sollte. Berlau forderte Rasmussen auf, möglichst viele ältere Nummern jenes Magazins aufzutreiben. Sie schrieb, „Kriegsbilder brauchen wir, schneiden Sie, schneiden Sie, schneiden Sie aus! Und dann möchte ich so gern das letzte Ferkel im Profil fotografiert haben.“„Geschosse, die durch Eisenwände schlagen“Dies wiederum galt Adolf Hitler, dessen theatralischer Habitus Brecht hinsichtlich seines gerade in Arbeit befindlichen Stücks Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui interessierte. Die faschistischen „Akteure“ verstünden es, so Berlau, mit der „Kunst des epischen Theaters, Vorkommnissen banaler Art den historischen Anstrich zu verleihen“. Ein dies demonstrierendes Foto, das Hitler mit gen Himmel gerichtetem Blick und beschwörender Geste der Arme zeigt, eröffnete später die Kriegsfibel, dazu der Vers: „Wie einer, der ihn schon im Schlafe ritt / Weiß ich den Weg, vom Schicksal auserkürt / Den schmalen Weg, der in den Abgrund führt: / Ich find ihn im Schlafe. Kommt ihr mit?“Die nächste Collage verweist auf das Fatale der proletarischen Gefolgschaft bei der Fabrikation von Waffen. Es heißt: „‚Was macht ihr, Brüder?‘ – ‚Einen Eisenwagen‘. / ‚Und was aus diesen Platten dicht daneben?‘ / ‚Geschosse, die durch Eisenwände schlagen.‘ / ‚Und warum all das, Brüder?‘ – ‚Um zu leben.‘“ Auf der nächsten Seite geht es um ökologische Kriegsfolgen. Man sieht eine am Strand sitzende Frau im Badeanzug, deren Füße und Hände voller Teer sind. Der Vierzeiler dazu: „Die Frauen finden an spanischen Küsten / Wenn sie dem Bad entsteigen in den Kliffen / Oft schwarzes Öl an Armen und an Brüsten: / Die letzten Spuren von versenkten Schiffen.“Die Akte des FBI1944, im amerikanischen Exil, wurde bei Ruth Berlau eine Risikoschwangerschaft festgestellt. Michel, ihr lange erwartetes Kind von Brecht, starb wenige Tage nach der Geburt. Was konnte ihrem Leben wieder Sinn geben? War das Fotografieren eine mögliche künftige Beschäftigung? Ende Oktober 1944 suchte Berlau günstige Angebote für eine Fotoausrüstung und eine Dunkelkammer. Im Winter 1944/45 belegte sie einen Fotokurs in der Venice High School in Los Angeles. Das FBI hielt fest, dass sie eine wertvolle deutsche Leica besitze sowie eine „33mm printing box“ und eine „16mm Kamera“. Berlau engagierte Hilfskräfte, um den Umgang mit den Geräten zu erlernen und zeitraubende manuelle Arbeiten zu bewältigen.Ein vom FBI vernommener junger Mann drückte sein Erstaunen über die vielen Kriegs- und Hitler-Bilder aus. Die FBI-Akte hält weiter fest, sie sei oft mit Brecht ins Labor der Schule nach Los Angeles gefahren, wo beide mit einem Vergrößerungsapparat arbeiteten. Dieser diente zur Montage der gesammelten Fotos mit den von Brecht gedichteten Vierzeilern. Ziel war es, den Bildern eine neue Legende zu geben. Man unternahm zugleich erste Versuche zum Layout der Kriegsfibel, an dem sich danach nicht mehr viel ändern sollte. Da der Physiker Hans Reichenbach, der Kenntnisse über die Atombombe besaß, Berlau dabei unterstützte, eine Technik zum Fotografieren von Typoskripten zu finden, erwog das FBI, eine Wohnung in ihrer Nähe zu mieten, um das rätselhafte „microfilm copy work“ genauer beobachten zu können. Stand es möglicherweise im Zusammenhang mit Atomspionage?Helene Weigels „stummer Schrei“ als Mutter CourageAus Brechts Arbeitsjournal geht hervor, dass es nicht nur um die Kriegsfibel, sondern ebenso um ein Fotoarchiv seiner Arbeiten ging: Alle Typoskripte wurden abfotografiert, um auf Mikrofilmen konserviert zu werden und leicht verfügbar zu sein. Bei unzähligen Versuchen, „Fehlerquellen in den Papieren, Filmen, Lichtanlagen, Linsen u.s.w. zu entdecken“, habe er – laut Berlau – „die Belichtungszeit, den Abstand u.s.w. immer selbst notiert. Das war nach Michels Tod.“Wie kein anderes vergleichbares Buch oder Kunstwerk nahm die Kriegsfibel nicht nur Hitlers Krieg in Europa und Nordafrika in den Blick, sondern auch die durch den Zweiten Weltkrieg eingetretene Kettenreaktion bei asiatischen und pazifischen Kriegsschauplätzen, mit denen Konflikte zwischen anderen konkurrierenden imperialistischen Mächten eskalierten. Damit zeigte die Kriegsfibel diese Kampfhandlungen, die Opfer und Zerstörungen als Ausdruck eines wahrlich globalen Krieges und gewann so eine weit über ihre Entstehungszeit reichende Bedeutung sowie Aktualität.Vom Leiden der dem Krieg ungeschützt ausgelieferten Zivilbevölkerung zeugt das Foto einer beim Anblick ihres toten Kindes schreienden Frau im britisch kolonisierten Singapur, das von Japan bombardiert worden ist: „O Stimme aus dem Doppeljammerchore / Der Opfer und der Opferer in Fron / Der Sohn des Himmels, Frau, braucht Singapore / Und niemand als du selbst brauchst deinen Sohn.“ Von diesem Foto her entwickelte die Schauspielerin Helene Weigel ihren berühmten „stummen Schrei“, den sie als Mutter Courage im gleichnamigen Stück nach dem Tod ihrer Tochter Katrin ausstieß.Atomarer SuperfurzDie mit jedem Krieg zuverlässig wachsende zynische Verrohung offenbart eine Montage, die einen rauchenden US-Soldaten vor erschossenen Japanern zeigt. Brechts Vers dazu gibt Äußerungen des Soldaten aus der originalen Bildlegende wieder: „Als wir uns sahn – s’war alles schnell vorbei – / Ich lächele und die beiden lächeln wieder. / So lächelten wir erstmal alle drei. / Dann zielte einer, und ich schoß ihn nieder.“ Sehr beeindruckend ist auch ein Foto, das einen indigenen Einwohner von Neu-Guinea zeigt, der einen erblindeten australischen Infanteristen aus der Kampfzone führt: „Als nun für mich die lange Schlacht vorbei / Half mir ein Mann zurück, der freundlich war. / Aus seinem Schweigen lernte ich, er sei / Wohl des Verstehens, doch nicht des Mitleids bar.“Merkwürdig mutet an, dass die Kriegsfibel kein Foto von der Atombombe enthält. „Dieser Superfurz übertönt alle Siegesglocken“, hatte Brecht nach ihrem Abwurf im August 1945 in seinem Arbeitsjournal notiert. Danach revidierte er die von Lenin übernommene Auffassung, ein Eroberungskrieg könne vom Volk in einen Krieg gegen die Herrschenden verwandelt werden. Jetzt mache das die Asymmetrie der Gewaltmittel unmöglich – was ihn zum Pazifisten werden ließ, der nur noch Verteidigungskriege akzeptierte.Otto Grotewohl ist zunächst nicht begeistertNach dem Exil in den USA wurde Ruth Berlau in der DDR Leiterin des literarischen und fotografischen Archivs des Berliner Ensembles. Am 1. September 1954 unterschrieb sie den Vertrag über die Herausgabe der Kriegsfibel beim Eulenspiegel-Verlag. Ministerpräsident Otto Grotewohl hatte die Publikation zunächst als zu pazifistisch betrachtet und untersagt. Als tragische Kriegsopfer sollten vor allem Sowjetmenschen im Fokus stehen. Das Leid der Deutschen wurde eher ausgeblendet. Insofern war das Umschlagbild, das einen elenden Trupp frierender deutscher Gefangener zeigt, durchaus eine Herausforderung für die Kulturpolitik.Obwohl universell ausgerichtet und pazifistisch, ist die Kriegsfibel zugleich ein stark auf Deutschland bezogenes Werk, das auf die Zerstörung der Demokratie als Voraussetzung für den 1939 entfesselten Krieg hinweist. Parteinehmend werden die Collagen, weil Brecht die ursprünglichen Legenden der Fotos ausschaltete und mit den Vierzeilern neue antifaschistisch-antiimperialistische Legenden schuf. Fotos, besonders Kriegsfotos, appellieren zunächst an emotionale Gefühle, über die Brecht zu Recht urteilte, dass sie leicht manipulierbar seien und entsprechend wirkten. Das Publikum, dem die ursprüngliche propagandistische Funktion mancher Fotos aus der NS-Zeit noch gegenwärtig war, forderte er auf, Bilder grundsätzlich zu prüfen, Hintergründe zu erforschen und gegebenenfalls neu zu kontextualisieren.Mit der Kriegsfibel erwies er sich als gewiefter Medien- und Kommunikationsexperte, der seiner Zeit weit voraus war. „Dieses Buch will die Kunst lehren, Bilder zu lesen“, schreibt Ruth Berlau im Vorwort zur Kriegsfibel. Es sei „dem Nichtgeschulten ebenso schwer, ein Bild zu lesen wie irgendwelche Hieroglyphen“. Die große Unwissenheit über gesellschaftliche Zusammenhänge, die der Kapitalismus sorgsam aufrechterhalte, „macht die Tausende von Fotos in den Illustrierten zu wahren Hieroglyphentafeln“.
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