Wo beginnt die Tragödie?

Theaterkritik Vier Schauspieler begeben sich in Milo Raus EMPIRE auf eine Reise ins Vergangene und treffen dabei auf ihre Heimat, die sie durch Krisen und Krieg verloren haben.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Rami Khalaf, Maia Morgenstern, Akillas Karazissis
Rami Khalaf, Maia Morgenstern, Akillas Karazissis

Foto: Marc Stephan

Der Schweizer Regisseur Milo Rau und sein International Institute of Political Murder (IIPM) beenden mit EMPIRE ihre Europa-Triologie, in der sie sich mit dem Mythos der Realität auseinander gesetzt haben. Wahre Tragik referiert auf die künstlerische Tragik von Euripides Medea. Die rumänische Schauspielerin Maia Morgenstern, bekannt als Jesus Mutter Maria aus dem Film Die Passion Christi, sitzt gemeinsam mit drei weiteren Schauspielern in der Küche eines zerbombten Hauses. Sie spricht über ihre Kindheit, den Anfang ihrer Schauspielkarriere, über ihre weißrussisch-jüdische Herkunft und von ihrer Familie, die von den Nazis vertrieben und größtenteils ermordet wurde. Maia erzählt von ihrem Dreh zu dem Film Die Siebte Bleibe, wo sie während der Drehpause im Nonnenkostüm auf die Suche nach ihren im Holocaust ermordeten Großvater ging. Und sie erzählt unter Tränen von ihrer Scheidung; nachdem ihr Mann sie betrogen hatte. Die Aufgabe ihrer Kinder aus Liebe zur ihren Kindern.

"Filmemachen war für mich sehr hart, denn ich sah meine Kinder während Wochen, Monate nicht. Ich ließ meine Kinder bei Baby-Sittern: Zuerst Tudor bei meiner Mutter, dann wiederholte sich das mit Eva und schließlich mit Anna. […] Aber bin ich deshalb eine schlechte Mutter? Als ich Medea spielte, die schlechteste aller Mütter […] Das wahre Verbrechen ist die Scheidung. Medea rettet ihre Kinder, denn in einer zerstörten Familie zu leben ist schlimmer als der Tod."

Über persönliche Schicksalen blickt EMPIRE auf und über die Ränder des europäischen Kontinents. Rumänien, Griechenland und Syrien. Milo Rau macht mit EMPIRE Nahaufnahmen von den Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten. Erzählt von den Kriegen und erlebten Krisen, wie bei dem syrischen Schauspieler Rami Khalaf, dessen Bruder seit zwei Jahren verschwunden ist. Keine Nachrichten, keine Informationen. Über eine Website auf der Fotos von Personen, die in den Gefängnissen von Assads-Regime getötet wurden, versuchte er tagtäglich seinen Bruder zu finden. Bislang ohne sicheren Erfolg.

Rau und dem IIPM ist es gelungen über die Schauspieler, die souverän über das Intime, ihr persönliches Leben, sprechen, einen abschließenden Bogen zu den Inszenierungen The Civil Wars und The Dark Ages zu schlagen. Mit tiefgreifender Tragik und humorvollen Momenten ist EMPIRE, ein gelungenes Erzählstück zwischen imperialer Wirklichkeit und antiken Mythos, welches dem Zuschauer lauter Spannung kaum Zeit zum Atmen lässt. Auch ist es eine Geschichte über die Kunst des Schauspielens, in der das Eigenleben der Darsteller ins Tragische greift und auf die Bühne projiziert wird.

Das europäische Panorama macht durch die Schauspieler deutlich, dass Menschen zu Opfern ihrer Verhältnissen werden. Allerorts werden Kriege geführt. Europa ist in der Krise, die jeder zu spüren bekommt. Politische Umstände greifen ins Existentielle der Individuen und tragen dazu bei, dass das Leben mehr denn je zum Existenz-Kampf wird. Das kulturelle Moment von Europa greift nicht mehr. Der Wunsch nach einer friedlichen Einheit ist abhandengekommen und der Kontinent geht im Neoliberalismus auf und schafft Imperialismus. Die beiden Schauspieler, Maia Morgenstern und Akillas Karazissis verdeutlichen mit Ihren Intimem den Gestaltwandel des Gewesenen. Und greifen über die Geschichten der syrischen Darsteller Rami Khalaf und Ramo Alif die Gegenwart des Vergangenen auf, in der Flucht und Nationalismus die Folgen des europäischen Imperialismus sind.

Die Frage ist: Wo beginnt die Tragödie? Beginnt sie bei einem selbst, oder sind es die äußeren Umstände, die das Leben ins Tragische enden lassen. Was bleibt? Ein Hoffen auf eine bessere Zukunft.

EMPIRE| Spieltermine in Deutschland| 9.9.-11.9.2016. 20.00h Schaubühne Berlin| Karten unter: ticket@schaubuehne.de oder 030/89 00 23. Weitere Termine: http://international-institute.de/termine/

Das Erzählstück gastierte an den Schaubühnein Berlin vom 8.-11. September 2016(http://www.schaubuehne.de/de/produktionen/empire.html/ID_Vorstellung=1953).

Zuerst veröffentlicht auf: http://www.freigeist-magzine.de/index.php/2016/09/09/wo-beginnt-die-tragoedie/

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sabine_Schmidt

Studierte Philosophie, Germanistik, Theaterwissenschaft. Als Journalistin und Theaterkritikerin tätig, u.a. für das Freigeist-MagZine.

Sabine_Schmidt

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden