MeToo 2.0?

Joko & Klaas Ein Video über sexualisierte Gewalt gegen Frauen geht viral, weil zwei Männer es zur besten Sendezeit platzieren – mit ähnlichen Erfolgen und Tücken wie damals MeToo

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Die Moderatoren Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf bei der Verleihung des Deutschen Comedypreises im Jahr 2018
Die Moderatoren Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf bei der Verleihung des Deutschen Comedypreises im Jahr 2018

Foto: Andreas Rentz/Getty Images

Donnerstagmorgen sehe ich so viele Male die gleiche Instagram-Story, dass ich es erst einmal gar nicht begreifen kann. So oft, wie in diesem Moment, habe ich lange nicht mehr ein und denselben Content auf so vielen verschiedenen Accounts gesehen. Das Video, „Männerwelten“, das sie, das wir alle gepostet haben, es ist nur 15 Minuten lang und es lief auf ProSieben – und jetzt ist es viral gegangen. Und das ist gut so. Erstens hätte ich es sonst vermutlich gar nicht mitbekommen – wie viele junge Menschen meines Alters (wer schaut ernsthaft ProSieben?), zweitens hätte es in einem linearen Medium wie dem Fernsehen allein lange nicht so große und zugängliche Diskussionen gegeben und geben können.

Dass ein Video, in dem sexualisierte Gewalt gegen Frauen aller Art angeprangert wird, so eine Welle von Zustimmung, von aktiver Teilnahme und positiver Resonanz nach sich zieht, ist keine Selbstverständlichkeit. Doch jetzt teilen Menschen ganz unterschiedlicher Lebensrealität, politischer Ausrichtung und Medienerfahrenheit dieses Video, in dem die Fernsehmoderatoren Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf Frauen – allen voran der jungen Feministin Sophie Passmann – eine Stimme geben, in dem sie sich zurückhalten und andere zur Wort kommen lassen. Ein Beitrag nur von Frauen – zur besten Sendezeit. Allein, dass das neu und überraschend ist, sollte uns zu denken geben, aber dazu gleich mehr.

Was zuerst auffällt: Beinahe alle Frauen in meinem Umfeld scheinen sich mit dem Gesagten identifizieren zu können. 50 Prozent der Frauen hätten schon sexualisierte Gewalt erlebt, heißt es ja in dem Video – meiner Erfahrung nach sind es mehr. Und dann kommen sie, die ersten Nachrichten alter Freundinnen, mit denen ich lange nicht mehr viel zu tun hatte, mit denen ich aber über genau dieses Thema wieder Kontakt finde. Und dann kommen sie, die Erinnerungen an Aktionen, die schon gemeinsam gegen sexualisierte Gewalt gestartet wurden, und die zeigen, dass es schon viele Versuche gab, das Thema an die Tagesordnung zu bekommen. Und dann kommen sie, die ersten persönlichen Geschichten, von Vergewaltigung und Gewalt, und damit die Unruhe in mir, was dieses Video noch alles aufgewühlt haben könnte.

Wenigstens, schreibt eine Freundin, haben seit MeToo offensichtlich viele der Frauen begriffen, dass ihre Geschichten keine Einzelfälle seien. Hoffen wir es – und hoffen wir, dass wir diesmal einen Schritt weiter kommen. Denn obwohl es eigentlich selbstverständlich sein sollte, obwohl wir glauben, alle müssten doch wissen, wie es Frauen in dieser Gesellschaft geht – taten und tun sie das offensichtliche nicht. Sonst wäre ein solches Video, eine solche Ausstellung, nicht so bitter notwendig gewesen, wie sie es war.

Solidarische Kritik

Doch wo es Aktivismus gibt, da gibt es Kritik. Wo es Versuche zur Veränderung gibt, da gibt es mehr oder weniger konstruktive Debattenbeiträge und Verbesserungsvorschläge. Und das gerade bei so emotionalen, so essenziellen, so identitätspolitischen Themen wie sexualisierter Gewalt. Und das ist gut, das ist richtig, das muss sein. Wer sich nicht meldet, wird übersehen, wer nicht Solidarität fordert und Einbeziehung, der geht unter in dieser Welt. Freund*innen um mich herum machen darauf aufmerksam, dass an Rahmen und Inhalt dieses Videos auch einiges fragwürdig ist. Und die Twitter-Bubble tut ihr übriges. Wichtig – aber auf den Tonfall kommt es an. Zerreißen ist keine solidarische Kritik.

Auch deswegen fühle ich mich an die MeToo-Bewegung erinnert. Ist dies der Anstoß zu einem MeToo 2.0? Nein, klar, es ist keine weltweite Bewegung, es ist etwas spezifisch Deutsches. Und doch: Es wurde eine Debatte angestoßen, eine Welle über die Sozialen Medien gerollt und Staub aufgewirbelt. Es wurde Solidarität geweckt und Verstehen, Reaktionen provoziert und Gefühle getriggert. Und gleichzeitig kamen und kommen ähnliche Kritikpunkte, die auch an der MeToo-Bewegung – um die wir im Nachhinein doch alle heilfroh sind – angebracht wurden. Und die Recht hatten, und wieder auch nicht.

Der Rahmen dieses Videos ist schwierig, keine Frage. Warum müssen da erst zwei Promis von ProSieben kommen, um das Thema wieder präsent zu machen?, schreibt ein Freund. Zwei Männer auch noch, die dazu in der – berechtigten – Kritik stehen, früher selbst wenig Sensibilität dem Thema Sexismus gegenüber gezeigt zu haben. Warum außerdem muss das so wunderbar in die kapitalistische Logik passen, ein großer Aufschrei zur besten Sendezeit? Auch eine gute Frage. Und trotzdem brauchte es dieses Video, und trotzdem machen diese Umstände das Anliegen dieser Aktion nicht zunichte.

Wenn wir keine zweite Chance geben, wie können wir jemals daran glauben, diese Gesellschaft grundlegend ändern zu können, fragt die Musikerin Mine, und sie hat Recht. Menschen moralisch verteufeln und ihnen bösen Willen unterstellen, das ist einfach. Und trotzdem haben sie hier einen wirklich wichtigen Rahmen geschaffen. Auch feiern muss man sie dafür nicht – aber sie haben es geschafft, das Thema sexualisierte Gewalt an einen Ort zu setzen, an dem sich nicht nur die aufgeklärte linke Bubble herumtreibt. Und das ist aus einem rein praktischen Blick furchtbar wichtig.

Vergessene Stimmen

Auch die Zusammenstellung der Inhalte ist nicht perfekt, das bezweifelt niemand. Es fehlen wichtige Stimmen, Stimmen von migrantischen Frauen, von Trans-Frauen, von Frauen mit Behinderung. Von Mehrfachdiskriminierten. Auch die Organisation „Terre des femmes“ ist heikel, das ist vielleicht noch einschneidender. Eine Organisation, die rigoros gegen das Kopftuch ankämpft und Transfrauen nicht als Frauen akzeptiert – mehr als schwierig. Die hier fehlenden Perspektiven sind so wichtig, und dass sie fehlen, sagt viel über den Stand der Diskussion im „Mainstream-Feminismus“. Ich verstehe den Ärger gerade der Betroffenen, er ist so richtig und berechtigt. Alle Stimmen müssen gehört werden, wenn man schon damit anfängt, dann am besten gleich richtig. Übersehen werden – das ist eines der schlimmsten Gefühle und schwierigsten gesellschaftlichen Hindernisse.

Trotzdem kann das grundlegende Zerreißen und Verwerfen dieses Debattenbeitrags – und so muss man das Video sehen, es ist kein Anstoß, das Thema wurde schon so oft „angestoßen“, aber es ist ein wichtiges Diskussionselement – nicht die Lösung sein. Das soll nicht heißen, dass wir „doch mal dankbar sein sollen, dass es überhaupt jemanden interessiert“, nein. Stimmen und Kritik, Einforderungen von Gehör und Beachtung die Berechtigung abzusprechen, das ist das Schlimmste, was wir jetzt machen können. Der Anspruch, es möglichst „perfekt“ zu machen, er ist so wichtig. Und trotzdem brauchen wir praktische Schritte wie diesen, die es schaffen, Themen in der breiten Gesellschaft anklingen zu lassen, sie immer wieder damit zu konfrontieren bis der Panzer der Gleichgültigkeit durchbrochen ist. Ja, sie müssen sich dafür natürlich auch berechtigte Kritik anhören. Aber sie haben es versucht und es war offensichtlich nötig.

Denn wir, die wir verstanden haben, was für viele heute Realität ist, die wir schon tagtäglich dagegen zu kämpfen versuchen, darüber reden, alle Diskriminierungsformen zusammenzudenken versuchen – wir brauchten das Video nicht. Aber wir im Großen, wir brauchten es. Anstatt es zu zerreißen, sollten wir uns jetzt einbringen, Debatten um strukturellen Sexismus, Sozialisierung, Intersektionalität einbringen – und möglichst gewinnen.

Radikalisiert Euch

Noch während ich begeistert bin, bekomme ich auch unterschwellig Panik. Ich habe Panik davor, was diese Geschichten, diese Ausstellung, diese Erzählungen auslösen könnten. Schon MeToo war wichtig und gefährlich gleichzeitig. Ich telefoniere mich durch bei Freundinnen, von denen ich weiß – und das ist bestimmt nur die Oberfläche –, dass die sehr schlimme – auch wenn natürlich eigentlich im persönlichen Erleben nicht vergleichbar – Dinge erlebt haben. Ich höre Geschichten von Freundinnen, von Freund*innen von Freund*innen, und auch mich bringt das Ausmaß beinahe noch einmal aus dem Gleichgewicht. Es hat Potenzial zur Debatte. Nur zu was für einer?

Feminismus bedeutet für viele erst einmal Überleben, für migrantische, Trans-Frauen oder Frauen mit Behinderung unter anderem noch einmal viel mehr. Diese Stimmen sollten nicht übergangen werden – sondern daran anknüpfen, an die Sensibilität, die gerade zu schaffen begonnen wurde. Ich habe Angst davor, was daraus noch werden könnte. MeToo hatte sehr schnell sehr böse Gegner*innen. Am meisten Angst habe ich aber davor, dass es einfach vorbei geht. Und die Frauen – und Männer, ja, auch sie können Opfer sexualisierter Gewalt werden – mit ihren Erfahrungen wieder allein sind. Am meisten habe ich Angst, dass sich wieder nichts ändert.

Meine Schwester postet ein Zitat von Margarete Stokowski: „Wir werden Forderungen stellen, die wir nie zuvor gewagt hätten zu stellen, und wir werden dabei nicht ‚bitte‘ sagen, denn man sagt gar nicht ‚bitte‘ bei Revolutionen. Man sagt nur ‚danke‘ zu denen, die mitgekämpft haben.“ In diesem Sinne: Radikalisiert euch!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sarah Kohler

60. Kompaktklasse an der Deutschen Journalistenschule in München

Sarah Kohler

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