Aus der Sicht eines Gastarbeiterkindes

AfD Seit Sonntag ist der Rassismus in Deutschland zählbar. In mir, einem typischen "Gastarbeiterkind", löst das düstere Erinnerungen an den Ausländerhass der 1990er aus.

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Ich kann mich noch gut an die Spannungen Anfang der 1990er erinnern, als Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda und Solingen die Schlagzeilen beherrschten und eine Welle des blanken Rassismus durch das Land ging. Auf einmal, zum ersten Mal, fühlte ich mich wirklich fremd in Deutschland. Ich beäugte meine Mitmenschen, zog meinen schwarzen Schopf ein, verschluckte meinen fremden Namen und dachte übers Auswandern nach. Das war nicht mehr die Republik, in der ich groß geworden war und in der ich miterlebt hatte, wie die latent ausländerfeindlichen Ressentiments der Adenauer-Generation (man denke nur an die Sprüche von Alfred Tetzlaff in "Ein Herz und eine Seele") langsam von einem echten Miteinander abgelöst wurden.

Ein "guter Ausländer"

Es war mir auch kein Trost, dass ich als Italiener stets als "guter Ausländer" durchging (»Wir fahren seit 30 Jahren nach Rimini. Bella Italia!«), dass ich ja "Christ" und "voll integriert" sei, dass ich akzentfrei Deutsch sprach (»Du sprichst ja wirklich akzentfrei Deutsch«, als ob das nicht die Regel, sondern die Ausnahme wäre) und dass ich - in den Augen der um die nationalen Identität bemühten Wiedervereinten ja »eigentlich sowieso ein Deutscher bin«. Als ob das eine Medaille wäre, die man mir umhängen müsse, um mich auszuzeichnen.

Aber ich fühlte mich dem türkischen Papa, der müde von der Fabrikarbeit an der Bushaltestelle stand, näher als den piefigen Spießern. Mein Vater war selbst einer von denen, die gebrochen Deutsch sprachen und hier in Deutschland die Jobs erledigten, die kein Deutscher mehr machen wollte. Ich kenne ihre Leidensfähigkeit, ihre unbedingte Liebe zur Familie, ihre Zerrisssenheit zwischen den Traditionen ihrer alten, archaischen Heimat auf dem Dorf und dem fremden Leben in der schnellen, modernen Gesellschaft. Ich konnte mich in sie besser hineinversetzen, als in die "ordentlichen Deutschen" mit ihren braven Töchtern und ihren hitzköpfigen Söhnen, die sich schon mal gerne mal bei Fußball mit den Fans der anderen Vereine die Fressen einhauten. Oder eben Kanacken klatschen gingen.

Unsichtbar, aber nicht überwunden

Natürlich weiß ich, dass der Rassismus von damals niemals verschwunden war. Er war irgendwann einmal wieder aufgesogen, wurde wieder zum Tabu-Thema, verborgen an den Stammtischen, zu denen ich gewiss nie ging und verborgen in kleinen Witzen, dummen Sprüchen, 'humorvollen' Spitzen.

Breite Ablehnung von Rassismus

Natürlich weiß ich auch, dass Rassismus damals wie heute auf eine breite Ablehnung in der Gesellschaft stieß, zumindest im "modernen" Teil der Gesellschaft. Ich bin davon überzeugt, dass es damals wie heute eine Mehrheit für Pluralität und ein friedliches Miteinander gibt. Dieses Land ist – weiß Gott – groß und reich genug dafür, dass sich eigentlich niemand davor fürchten muss, dass jemand dem anderen etwas wegnimmt. Ja, ich habe realisiert, dass die Landtagswahlen gestern auch zeigen, dass es in Deutschland eine Mehrheit, einen Konsens für einen fairen Umgang miteinander gibt. Aber ein bitterer Beigeschmack bleibt.

Rassismus ist in Deutschland nun zählbar

Spätestens seit dem "Super-Wahlsonntag" mit den zweistelligen Ergebnissen für die AfD bei den Landtagswahlen in Baden-Würtemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt (15,1%, 12,6% und 24,2%) ist der Rassismus in Deutschland sichtbar, zählbar. Die AfD hat die Fremdenfeindlichkeit, das "völkische Denken", das Gefasel von deutschen Tugenden, das Gerede von "unserer Kultur, die es zu schützen und zu bewahren gilt", das "wir sind mehr wert als die" salonfähig gemacht. Ungeniert stempelt sie alle Menschen, die in unser Land hilfesuchend aus Krieg, Not und Verfolgung flüchten, als "schmarotzende Wirtschaftsflüchtlinge" ab, die sich illegal Zugang zu unseren Sozialsystemen verschaffen und die - bewusst oder unbewusst - eine Islamisierung und eine "Überfremdung" der deutschen Kultur (sic!) und Rasse (SIC!!) vorantreiben. Sie unterstellen kriminelle Absichten und eine eminente Gefahr, die von den Flüchtlingen ausgeht. Die widerlichen Ereignisse der Silvesternacht in Köln passt ihnen gut ins Konzept.

Rechtspopulisten mit Brandreden in bürgerlicher Rhetorik

Wie weiland die Faschisten in Italien (in ihren frühen Jahren), setzen die AfD dabei nicht nur auf das plumpe Manipulieren des Lumpenproletariats (man vergebe mir diesen marxistischen Terminus), sondern auch auf intellektuelle Kader, auf bürgerliche Rhetoriker. Sie setzen auf den Nationalstolz einer Schicht, die sich trotz aller Erfolge minderwertig fühlt und sich selbst als "bedroht" und als Opfer stilisiert. Das macht die AfD auf lange Sicht viel gefährlicher als die Glatzkopf-Rabauken der NPD oder der volkstümelnden Republikaner-Opas der 1990er.

Ich glaube nicht, dass die AfD mittelfristig ihre hohen Prozentzahlen halten wird. Wenn das "Flüchtlingsproblem" gelöst wird, werden sie schrumpfen – und Himmel, gibt sich die EU gerade Mühe, das Problem an der Grenze wieder auszusperren – spätestens dann wird es so manchem aufgeregten Spießbürger dann doch etwas zu unheimlich im Schoße seiner neuen braunen Heilsbringer und er mutiert wieder zum Nichtwähler. Vielleicht ist es deswegen ganz gut, dass wir jetzt einmal unmaskiert auf jene blicken können, die sich in politisch besonderen Zeiten nach schnellen, einfachen und "völkischen" Lösungen sehnen. Denn ein Teil der Wähler wird bleiben. Und der Impuls ist jederzeit abrufbar, zumal er auch von Teilen der Konservativen in der Regierung befeuert wird.

Nützen Argumente? Bisher nicht.

Ich glaube nicht daran, dass bisher eine sachliche "Entzauberung" der AfD und ihrer hanebüchenen Thesen auch nur einen "besorgten Bürger" davon abgebracht hat, das Pack nicht zu wählen. Der Hass auf den Staat und auf alles Fremde sitzt tief. Gerade bei jenen, die vom Staat leben; gerade bei denen, die das Fremde nur aus den Ammenmärchen ihrer Parallelwelt-Medien kennen.

Jahrelang hat man den "die-da-oben vs. der-kleine-Mann-auf-der-Straße"-Antagonimus in Deutschland nicht beachtet, ihn sogar lächelnd kultiviert. Der Staat, dem die Menschen früher vertrauten, und sei es auch nur aufgrund der "preußischen Tugend" der Obrigkeitshörigkeit, dieser Staat ist den Menschen fremd geworden. Der Bürger har sich emanzipiert, er hat das Vertrauen in die Unfehlbarkeit der politische Kaste verloren, die längst nicht mehr Politik für alle (oder für die Mehrheit), sondern Politik für die lauteste und mächtigste Lobby macht. Diese Erkenntnis ist gut und wichtig. Denn die Politik hat sich tatsächlich immer mehr von den Menschen entfernt. Es nutzt nichts, dass es statistisch aufwärts geht, wenn ein Teil sich benachteiligt oder ausgeschlossen fühlt. Das Fatale ist die Konsequenz, die daraus gezogen wird, das Infragestellen der Demokraite, der europäischen Werte, die Sehnsucht nach einem starken Mann (oder einer starken Frau – so weit ist man dann mittlerweile doch), die alles schnell gut und richtig macht. Das Fatale ist der Glaube an einfache Lösungen, an nationale Alleingänge, an ein "Deutsche zuerst".

Rechtspopulismus 'mit deutschem Akzent'

Jahrelang wurde ich als Italiener gefragt, wieso man in meiner Heimat (in meiner anderen Heimat) auf einen Scharlatan wie Berlusconi reinfällt. Jahrelang schüttelten die Deutschen die Köpfe, wenn in Frankreich, in Österreich, in den Niederlanden die Rechtspopulisten beachtliche Wahlerfolge feierten. Was man dabei geflissentlich ignorierte: Die mangelnde Reife, das mangelnde Demokratieverständnis war auch hier längst angekommen, die notwendige Toleranz fehlte auch hier, natürlich nicht in der ganzen Gesellschaft, aber in wachsenden Teilen.

Diese gefährliche Mischung aus nationalem Minderwertigkeitskomplex ("Wir Deutschen müssen uns wegen der Nazis immer klein machen"), gepaart mit einem chauvinistischen Patriotismus ("Wir sind die Besten von der Welt") gibt es – natürlich – auch hier. Es musste nur jemand kommen und das Berlusconi-, Le-Pen- und Haider-Geschwätz im richtigen deutschen Tonfall, "mit dem richtigen Akzent" vortragen. Den "richtigen deutschen Akzent für Rechtspopulismus" gefunden zu haben, der sowohl die Bewohner in den verwahllosten Dörfern des Ostens, als auch in den reichen Städten Baden-Würtembergs Wähler anspricht, das ist das Verdienst der AfD. Sie hat unter ihrem biederen Deckmantel die rassistische, rückwärtsgewandte und fortschrittsfeindliche Deutschtümelei politisch etabliert – außerhalb der Volksparteien, ohne Regulativ aus der Mitte. Wie in Frankreich der Front National, wie in Holland die PVV, wie in Österreich die FPÖ, wie in Italien die Lega Nord. Ungebremst, ungehemmt. Und Deutschland muss aufpassen, dass die Rechtspopulisten nicht die etablierten Parteien vor sich hertreiben, ihnen die Themen und die Richtung diktieren.

Lösungen?

Gibt es schnelle Lösungen im Kampf gegen Rassimus und Rechtspopulismus? Schnelle Lösungen gibt es nie in der Politik. Wer heute verspricht, dass denn man nur dieses oder jenes tun muss, damit sdas "Problem AfD" verschwindet, ist genauso unlauter wie jene, die er als Demokrat demaskieren möchte. Natürlich ist es wichtig, die Argumente der AfD sachlich zu widerlegen, ihre verborgene Programmatik darzulegen. Wichtiger noch scheint mir eine neue demokratische Kultur in Deutschland zu etablieren. Wir brauchen keine Sprechblasenpolitik mehr, keine Lippenbekenntnisse, keine populistischen Schnellschüsse, keine von der Realität abgekoppelte politische Kaste. Wir brauchen mehr Mitbestimmung, mehr Integration, mehr Bildung, weniger Großkotzigkeit im Auftreten nach Innen und nach Außen. Wir brauchen mehr Demut und Bescheidenheit im Amt, gelebte humanitäre Werte als moralische Basis jeder Politik, einen respektvollen Umgang mit dem politischen Gegner im demokratischen Lager und eine kompromisslose Haltung jeder menschenverachtenden Ideologie gegenüber.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Salvatore di Gustui

In Deutschland aufgewachsener Italiener, Kölner, überzeugter Europäer. Mehrsprachig, multikulturell, Texter, Musiker, Ehemann, Vater, Freund, Mensch.

Salvatore di Gustui

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