Erster Parteitag: Bündnis Sahra Wagenknecht zwischen Masse und Avantgarde
BSW Das Bündnis Sahra Wagenknecht choreografiert seinen ersten Parteitag, Verabschiedung von Kandidatenliste und Programm für die Europawahl ohne Widerspruch inklusive. Das einstweilige Dasein als Kaderpartei hat für die meisten seinen Reiz
Fröhlichkeit und Aufbruchsstimmung allenthalben: Oskar Lafontaine, Sahra Wagenknecht, Amira Mohamed Ali und der stellvertretende BSW-Parteivorsitzende Shervin Haghsheno.
Foto: John MacDougall/AFP/Getty Images
Und dann kichert Sahra Wagenknecht, nach zehneinhalb Stunden Parteitag, kurz nach halb neun abends, „Keine Sorge, ich halte jetzt keine Rede mehr“, hatte sie da gerade gesagt und ein lautes, bedauerndes „Ooooo“ aus dem immer noch recht vollen Saal geerntet. Aber statt einer zweiten Rede nur noch ein paar Sätze: „Wenn wir so anfangen – das wird was!“, und „Ihr habt das toll gemacht heute!“
Toll gemacht, das heißt, die rund 400 Mitglieder haben es so gemacht, wie es vorgesehen war, beim ersten Parteitag des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW). Kein Posten, bei dessen Wahl es ein Duell gegeben hätte, ob für den erweiterten Parteivorstand oder die 20 Plätze auf der Liste für die Europawahl. Fröhlichkeit
e, ob für den erweiterten Parteivorstand oder die 20 Plätze auf der Liste für die Europawahl. Fröhlichkeit und Aufbruchsstimmung allenthalben, Zustimmungswerte von – fast – ausnahmslos über 90 Prozent für Kandidaten, Europawahlprogramm und Satzungsänderungen, Einstimmigkeitsbeschluss um Einigkeitsbeschluss: „Kaderpartei“ würde hier niemand laut sagen, aber als eben solche geht das BSW an den Start.Videobotschaft von Justus FrantzNur einmal ruckelt die Choreographie, am Nachmittag zeigt die Leinwand eine etwas sehr improvisiert wirkende Video-Grußbotschaft des Pianisten Justus Frantz, die etwas zu früh abreißt – und noch dazu hatte vorher niemand gesagt, wer denn da nun im Namen der Kunst, des Friedens und der Völkerverständigung den Parteitag grüßen werde. Doch da ist schon Oskar Lafontaine auf die Bühne gesprungen, um die Scharte auszuwetzen, ruft „Das war Justus Frantz, leider ist er nicht angekündigt worden, der große Pianist und Dirigent, ein weltbekannter Künstler, der für den Frieden wirbt, der angegriffen wird, weil er noch Konzerte in Russland gibt“ – vielleicht stand sogar das genau so im Drehbuch; im Saal stehen sie jedenfalls schon auf und jubeln, als Lafontaine zum ersten Mal an diesem Tag die Bühne betritt.Seine Rede wird das BSW-Neumitglied erst zum Ende des Parteitags hin halten, den wortgewaltigen Motivationsschub zum Schluss beherrscht er auch mit 80 Jahren: viel soziale Gerechtigkeit, etwas Polemik gegen das Gendern, sehr viel Frieden. Er habe ja einige Parteitage erlebt, wird Lafontaine noch sagen, aber noch keinen solchen.Das ist positiv gemeint, und beschreibt das Grundgefühl in allen Gängen des Parteitags. Woran sich wiederum die bisherigen Gewerke dieser Partei erkennen lassen: viele einstigen Linken-Mitglieder; im Gespräch sind sie meist voll hörbarer Erleichterung und etwas ungläubig, vergleichen sie dies heute mit der Vergangenheit: wochenendlange Parteitage mit Streit schon um Formalien und – zuletzt verlorenen – Schlachten. Auch das Frauen- bzw. FLINTA*plenum oder den Workshop „Männlichkeit und sexualisierte Gewalt“ vermisst hier wohl kaum einer.Es spricht und spottet aber auch niemand über das FLINTA*plenum, kaum einer redet lange über Die Linke, und überhaupt ist vielsagend, wovon bei diesem Parteitag eher selten die Rede ist: Migration etwa. Das 20-seitige Programm für die Europawahl sagt dazu: „Wir wollen die unkontrollierte Migration in die EU stoppen, den Schlepperbanden das Handwerk legen und in den Heimatländern Perspektiven schaffen. Es darf nicht kriminellen Schlepperbanden überlassen werden, wer Zugang zur EU bekommt: Die Asyl- und Prüfverfahren zum Schutzstatus sollten daher an den EU-Außengrenzen oder in Drittländern erfolgen. Dabei ist auf menschenwürdige Bedingungen insbesondere für Kinder zu achten. Wer dort keinen Schutzstatus erhält, hat auch keinen Anspruch auf Zugang zur EU, eine Arbeitserlaubnis oder soziale Leistungen in einem EU-Mitgliedstaat. Zugleich steht die EU in der Verantwortung, die Ursachen für Flucht und Migration bekämpfen zu helfen.“Placeholder image-1Im Kosmos in Ostberlin – dessen Geschäftsführung Journalisten auf eigens ausgeteilten Handzetteln wissen lässt, dass dies „seit über 15 Jahren kein Kino mehr ist, sondern eine Eventlocation“ – liegt das Thema kontrollierte Migration noch am ehesten dem Westdeutschen Thomas Geisel am Herzen – Düsseldorfs ehemaliger sozialdemokratischer Oberbürgermeister ist dann der einzige mit unterdurchschnittlichen Wahlergebnissen, mit diesem Neuzugang aus dem Bekanntenkreis um Wagenknecht fremdeln die Gewerke noch ein wenig. Den 66 Prozent für den erweiterten Parteivorstand folgen später immerhin 72 Prozent für Listenplatz 2 bei der Europawahl, hinter Fabio De Masi (96 und 98 Prozent).Elementarer Bestandteil einer jeden Kaderpartei ist die Schulung, mag sich De Masi gedacht haben: In dessen wirtschaftspolitischem Sinne jedenfalls stellte Geisel das Ziel, „Bürgergeld-und-Schwarzarbeit-Karrieren“ zu verhindern, diesmal eher in den Kontext zu geringer Löhne als in den eines zu hohen Bürgergeldes, wie noch bei der Parteigründung.14 Euro Mindestlohn gibt das Spitzenduo als Parole aus, wie es die EU-Mindestlohnrichtlinie eigentlich von Deutschland verlange – eine der sehr seltenen Übereinstimmungen zwischen dem BSW und der Europäischen Union in ihrer derzeitigen Verfasstheit. „Ein unabhängiges Europa souveräner Demokratien – friedlich und gerecht!“, lautet die Parole hier, was Unabhängigkeit von den USA, mehr Eigenständigkeit für die Nationalstaaten, Ab- statt Aufrüstung sowie etwa einen Mindeststeuersatz auf Unternehmensgewinne von 25 Prozent meint. Freiheit für Julian Assange, ein Moratorium für die EU-Erweiterung, kein Beitritt der Ukraine, Waffenstillstand und Aufnahme von Friedensverhandlungen mit Russland, eine „neue europäische Friedensordnung“, die „längerfristig“ auch dieses einschließen soll – außenpolitisch lässt das Programm an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig, unterfüttert ist es auf der Liste mit den gewichtigsten Namen der Neu-Politiker, die die Führungsriege in die Gewerke – auf Platz 4 Wagenknechts langjährige Büroleiterin, die zweimalige Linken-Europakandidatin Ruth Firmenich (93 Prozent) – eingesprenkelt hat: Der ehemalige OSZE- und UN-Diplomat Michael von der Schulenburg (98 Prozent) und der Autor Michael Lüders (99 Prozent). Für die Aufarbeitung der Corona-Politik will sich derweil der Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen und Epidemiologe Friedrich Pürner (90 Prozent) einsetzen, auch der Zwickauer Neurochirurg Jan-Peter Warnke (91 Prozent) kennt das Gesundheitssystem. Auf den Drehbuchautor und Rhetoriker Stephan Falk – Diplomatie, Frieden, kontrollierte Migration, Finanztransaktions- sowie Übergewinnsteuern auf Tech-Konzerne, Shakespeare inklusive („Wir leben in einer Zeit, in der die Verrückten die Blinden führen“) – könnte die Aufgabe entfallen, Wagenknecht vom nächsten Termin bei Markus Lanz zu entlasten, auch ohne Parlamentskandidatur und Listenplatz.So ganz ohne Meinungsverschiedenheit im Vorfeld ist diese Avantgarde dem Vernehmen nach dann wohl auch nicht choreografiert worden, und wiederum ist vielsagend, welche Namen nicht zu hören sind, waren sie doch zuvor geflüstert worden.Das Fernhalten von Unliebsamen, die Debatte darüber, wer unliebsam ist – auch und gerade als Parteimitglied: Schon den kurzen Weg zur Europawahl am 9. Juni bei zeitgleichem Aufbau der Landesverbände vor allem in Brandenburg, Thüringen und Sachsen dürften Wachstumsschmerzen begleiten, Abgewiesene gibt es längst. Vom zeitgleichen Landesparteitag der Linken in Brandenburg hat Gregor Gysi herübergegiftet, er wünsche Wagenknecht, dass sich „ein ganz schmieriger Typ einklagt“.Für Rechtskosten will das BSW wohl kaum seine ersten Millionen an eingeworbenen Spenden verwenden, gleichwohl könnte die bisherige Nomenklatura Gefallen an solch kurzweiligen, einstimmigen Parteitagen finden. Massenpartei, als Ziel für spätestens nach der nächsten Bundestagswahl ausgegeben – das hatten die meisten hier ja schon.
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