Reden sie dadrinnen im Rathaus jetzt über Julian Assange? Die sieben Menschen vor dem Gebäude wissen das nicht, aber sie hoffen es. Vier Meter lang und zwei Meter breit ist ihr weißes Transparent, auf dem in Schwarz steht: „FREE ASSANGE“. Die Forderung prangt auch auf Flyern, für die es jedoch an Abnehmern fehlt an diesem nasskalten Montagnachmittag in Berlin-Lichtenberg.
Dem Wikileaks-Gründer droht eine Strafe von 175 Jahren Haft
Ehrenbürger der deutschen Hauptstadt soll der seit vier Jahren und sieben Monaten im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London inhaftierte Journalist Assange werden. Für diese Forderung haben sich ein Zahnmediziner, ein Hartz-IV-Empfänger, ein gelernter Dachdecker und Verwaltungsfachangestellter und vier weitere zur Mahnwache vor dem Rathaus des Ostberliner Bezirks getroffen – das riesige, dunkle Baugerüst um den Neogotik-Backsteinbau verbirgt sogar dessen hübsche Türmchen, wirkt fast selbst wie ein Hochsicherheitsgefängnis. Doch der Polizist am Eingang hält niemanden auf, im Foyer wirbt ein Plakat für die baldigen „Lichtenberger Wochen der Menschenrechte“, an den Rahmen des Aufstellers hat die Vierte der sieben einen „Journalismus unterstützen“-Aufkleber mit Assanges Konterfei geklemmt.
„Durch Julian Assanges Arbeit und Haltung haben wir von illegalem staatlichen Handeln, von Unrecht, Morden und Kriegsverbrechen erfahren: Dinge, die für die Öffentlichkeit, für Bürgerinnen und Bürger – für uns alle – im Dunkeln, verschwunden, unsichtbar bleiben sollten“, hat einer der sieben in einer E-Mail an Lichtenbergs Bezirksverordnetenversammlung (BVV) geschrieben.
„FREE ASSANGE“
Von diesen vielen kleinen Initiativen lebt die Solidaritätskampagne, seit Assange vor mehr als elf Jahren in die ecuadorianische Botschaft in London floh, um seiner Verfolgung zu entgehen, bevor ihn eine neue, rechte Regierung in Quito fallen und am 11. April 2019 von der britischen Polizei festnehmen ließ. Eine Strafe von 175 Jahren Haft droht dem Gründer der Whistleblower-Plattform Wikileaks, sollte ihn Großbritannien an die USA ausliefern, für die Veröffentlichung geheimer Informationen, vor allem über mutmaßliche Kriegsverbrechen der US-Armee im Irak und in Afghanistan.
Es kam eine Antwort auf die Mail an die BVV wegen des Ehrenbürgerrechts für Assange, ein Mitarbeiter schrieb, der BVV-Vorstand werde sich in seiner Sitzung an diesem Montag damit auseinandersetzen. „Aber gerade hat jemand gesagt“, der Zahnmediziner weist zur Rathauspforte, „hier fände heute gar keine Sitzung statt.“
Australiens Premier Anthony Albanese setzt sich in den USA für Assange ein
Der Polizist an der Pforte weiß auch nicht mehr, aber immerhin fährt Auto um Auto und Tram um Tram die Möllendorffstraße am Rathaus entlang, und wer in der Tram aus dem Fenster blickt statt auf sein Telefon, kann „FREE ASSANGE“ lesen.

Foto: Sebastian Puschner
Die Möllendorffstraße hieß von 1976 an Jacques-Duclos-Straße, nach dem Résistance-Kämpfer und kommunistischen Präsidentschaftskandidaten von 1969. Nach einem preußischen Militaristen rückbenannt wurde sie 1992. Da war Reichspräsident und Diktatur-Wegbereiter Paul von Hindenburg noch Ehrenbürger, erst 2020 strich ihn die Stadt von der Liste der „Personen, die sich um Berlin in hervorragender Weise verdient gemacht haben“.
Verliehen wurde das Ehrenbürgerrecht zuletzt, im April, dem Pianisten und Dirigenten Daniel Barenboim. Und zuvor, 2021, dem Bundespräsidenten, Frank-Walter Steinmeier, dessen vorheriger Arbeit als Kanzleramtschef der von der US-Armee verschleppte Murat Kurnaz zuschreibt, die Freilassung und Rückkehr in seine Heimat Deutschland verhindert zu haben.
Assanges Heimat ist Australien, und in Unterstützerkreisen regt sich gerade ein wenig Hoffnung, weil dem Labour-Premier Australiens ein guter Draht zu US-Präsident Joe Biden nachgesagt wird, den Anthony Albanese wiederholt genutzt hat, um ein Ende der Verfolgung des Australiers Assange zu erbitten.
Rom hat Assange schon zum Ehrenbürger gemacht
In der Möllendorffstraße stellt sich einer der sieben Unterstützer vor, was er davon hielte, wenn Biden dieser Bitte Gehör schenken, dafür aber zum Beispiel US-Kampfjets an Australien verkaufen wollen würde. Schöner ist die Vorstellung, Berlins Regierender Bürgermeister, Kai Wegner von der CDU, beträte bald das Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, um Julian Assange die Ehrenbürgerwürde der Stadt zu verleihen. Rom, Neapel und andere Kommunen, zuletzt vor allem in Italien, haben ihn schon geehrt.
Von der CDU ist auch der Vorsteher des Vorstands der BVV Berlin-Lichtenberg, und eine Freitag-Anfrage an ihn und die drei weiteren Mitglieder von Linker, SPD und Grünen beantwortet Gregor Hoffmann allein, lässt aber nicht genau erkennen, ob sie denn nun im Rathaus über Julian Assange geredet haben: „Selbstverständlich werde ich auf den Vorschlag angemessen reagieren.“
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