Eigentlich hat Christian Lindner da ja ein sehr passendes Wort für diese Zeiten gefunden: Auf eine „Gratismentalität“ schimpfte der Bundesfinanzminister und FDP-Chef, und mit was für einem Wort könnte man es treffender umschreiben, wenn Energiekonzerne Milliardenprofite einstreichen, ohne dass sich die Produktion der Energie groß verändert hätte? Wenn Rohstoffhändler, deren Gewinne ohne jede Innovation, allein wegen der an Märkten nach oben getriebenen Preise ebenfalls sprudeln, obendrauf noch gern etwas aus dem Topf abhaben möchten, den Kunden nun mit der Gasumlage füllen? Wenn eine rot-grün-gelbe Regierung statt eines Gaspreis-Deckels diese Umlage auf den Weg bringt, als sei die Förderung unternehmerischer Grati
Übergewinne: Alles hat seine Grenze
Umverteilung Übergewinnsteuern gab es schon vor mehr als 100 Jahren: in Großbritannien und Frankreich etwa. In den USA sollte sie nicht nur Einnahmen generieren, sondern gezielt einem Ungerechtigkeitsempfinden entgegenwirken
atismentalität eines der Ziele aus dem Koalitionsvertrag?Christian Lindner hat das nicht gemeint, als er sagte, eine Gratismentalität sei „nicht nachhaltig finanzierbar, nicht effizient und nicht fair“. Er sprach vom 9-Euro-Ticket, und man kann sicher sein, dass das dort gehört wurde, wo es gehört werden sollte: In Kreisen, denen der Porsche stets näher ist als der Regionalexpress und die etwa in Niedersachsen, bei den Landtagswahlen im Oktober, die nächste FDP-Schlappe verhindern sollen. Ein Paar mit zwei Kindern und 2.000 bis 2.600 Euro Nettoeinkommen braucht die FDP nicht groß zu interessieren – 8,4 Prozent betrug die haushaltsspezifische Inflationsrate für solch ein Paar im Juli; ohne 9-Euro-Ticket wäre es noch teurer geworden. Dass letzteres den Gesamtanstieg der Preise spürbar gedämpft hat, bestätigen auch Ökonomen des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft.Vom Süden lernen9-Euro-Ticket-Nutzern „Gratismentalität“ vorzuwerfen, das spielt schon in einer Liga mit der „spätrömischen Dekadenz“, die Lindners Vor-Vorgänger als FDP-Chef, Guido Westerwelle, 2010 erkennen wollte, als das Bundesverfassungsgericht gerade die Hartz-IV-Regelsätze für verfassungswidrig erklärt hatte, weil sie zu gering waren, um das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zu erfüllen. Philipp Rösler indessen, der FDP-Chef zwischen Westerwelle und Lindner, hatte es mit Worten nie so, die ließ er als Wirtschaftsminister lieber streichen, 2012 aus dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung unter anderem den Satz „Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt“. Heute ist Rösler übrigens Aufsichtsrat beim finnischen Fortum-Konzern, dem Mehrheitseigner von Uniper, Hauptempfänger des Gasumlagen-Geldes.In Deutschland läuft das 9-Euro-Ticket aus, in Spanien kostet der Nah- und Regionalverkehr von September an gar nichts mehr für die, die bis Dezember mindestens 16-mal Bus und Metro nehmen. Zudem werden Mietsteigerungen gedeckelt, steigen Mindestlohn und Niedrigrenten, es gibt zusätzliches Geld für Schülerinnen und Studenten – bezahlt werden soll das unter anderem mit den Einnahmen aus einer Übergewinnsteuer für Energiekonzerne und Banken: 1,2 Prozent auf den Gesamtumsatz von Energieunternehmen, wenn dieser eine Milliarde Euro überschreitet, 4,8 Prozent auf Nettozinsgewinne und Kundengebühren großer Banken.Das geht über die schon 2021 aufgenommene Abschöpfung der Gewinne bestimmter Stromproduzenten hinaus, und auch über die „Leitlinien für die Anwendung steuerlicher Maßnahmen auf übermäßige Gewinne“, die die EU-Kommission den Mitgliedsstaaten unverbindlich an die Hand gegeben hat: Brüssel sieht „die Umverteilung von Steuereinnahmen aus übermäßigen Erlösen“ nur zulasten bestimmter Stromversorger vor.Dennoch: Wenn selbst die kraft Daseinsberechtigung marktliberale EU-Kommission im März 2022 eine Übergewinnsteuer empfiehlt, neben Mitte-Links in Spanien konservative Regierungen in Großbritannien und Griechenland, ebenso Rumänien und Ungarn zu diesem Instrument greifen und Selbiges in Italien Ex-Goldman-Sachs-Mann Mario Draghi vehement verteidigt – warum wehrt sich dann noch Mitte August Christian Lindner mit Händen, Füßen und dem dröhnenden Satz „Das Steuerrecht muss vor Willkür geschützt werden“?Willkür war es wohl kaum, die die USA 1917, Großbritannien 1915 und Frankreich 1916 dazu bewogen, exzessive Unternehmensgewinne abzuschöpfen. Vielmehr der Krieg. Die Staaten brauchten Geld, zudem wurde es gerade in den USA überhaupt „als ungerecht empfunden, dass einige Bürger hohe Gewinne erzielen konnten, während andere auf den Schlachtfeldern für den Staat ihr Leben einsetzten“, wie der wissenschaftliche Dienst des Bundestages in einer seiner Veröffentlichungen zur Übergewinnsteuer erklärt. Folglich entfielen Steuersätze von bis zu 90 Prozent auch zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs in allen drei Ländern nicht nur auf gewisse Branchen wie die noch von jedem Krieg profitierende Rüstungsindustrie. Lindners Argument gegen die Übergewinnsteuer, sie würde auch die Hersteller von Impfstoffen oder Halbleitern treffen, ist in dieser Logik keines. Ungarn hat gerade Pharma-, Energie-, Handels-, Kommunikationsunternehmen, Fluggesellschaften, Banken und Versicherungen mit Sonderabgaben belegt.Fällig waren auch bei den Prototypen der Steuer im 20. Jahrhundert in der Regel alle. Frankreich besteuerte zwischen 1940 und 1945 erzielte Vermögenszuwächse mit bis zu 100 Prozent, eine Vermögensabgabe war ohnehin zu entrichten.Zudem zeigen die historischen Beispiele, dass die immer noch weit verbreitete Annahme, Übergewinne wären schwer zu definieren und zu taxieren, Blendwerk ist: Im Grunde zwei Methoden gab es, um zu bestimmen, wie viel Firmen abgeben mussten. Deren Krisengewinne wurden entweder mit den Gewinnen aus einem Vorkriegszeitraum verglichen oder mit dem Gewinn, der sich bei einer Rendite auf eingesetztes Kapital ergab, die der Staat definierte – eine politisch gesetzte Grenze zwischen Gewinn und Übergewinn.1.160 Milliarden Dollar mehrIm Europa von heute haben Griechenland und Italien den Weg über den Vergleich von Zeiträumen gewählt, Rumänien etwa hat einen Referenzpreis für Strom als Grenze gesetzt und besteuert darüber hinausgehende Einnahmen mit 80 Prozent.Es dauerte bis Ende August, dass aus Robert Habecks Ministerium Überlegungen drangen, Übergewinne zumindest von bestimmten Energieversorgern einzukassieren. „Der Staat könnte einen fixen Preis festlegen, den Erzeuger von Wind- und Solarkraftwerken sowie Braunkohlekraftwerken bekommen. Die Summe, die sie darüber hinaus aus den Verkäufen an den Strommärkten erzielen, müssten die Produzenten an den Staat abtreten“, verrät der Spiegel. Eine Übergewinnsteuer auf Kohle, vor allem aber auch auf die, die gerade viel Geld mit grünen Energien verdienen – ist das die Art von „Willkür“, mit der auch Christian Lindner das Ganze seiner atomkraftaffinen Klientel verkaufen kann? Griechenland übrigens hat bei seiner Steuer die Erneuerbaren ausgenommen, wohl um dort die Investitionen nicht zu gefährden.Dass eine Übergewinnsteuer in Deutschland rechtlich möglich ist, haben der wissenschaftliche Dienst des Bundestags und das Netzwerk Steuergerechtigkeit längst festgestellt. Letzteres beziffert die Einnahmen in der Studie Kriegsgewinne besteuern auf 30 bis 100 Milliarden Euro pro Jahr, je nach Ausgestaltung. Allein die sechs Ölkonzerne Saudi-Aramco, BP (Aral), Total, Shell, ExxonMobile und Wintershall Dea kämen 2022 absehbar auf einen weltweiten Übergewinn von 1.160 Milliarden Dollar.