Interview Viele Menschen in Deutschland können 480 Euro mehr im Jahr für die Gasumlage nicht bezahlen, sagt Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband. Wirke die Politik nicht der steigenden Angst entgegen, werde es gefährlich
Stürmt die Gasheizung! Kommt es bald zur Revolution?
Collage: der Freitag, Material: dpa, istock, unsplash, wikimedia commons
der Freitag: Herr Schneider, die Gasumlage soll 2,419 Cent pro Kilowattstunde betragen. Sie haben sich befremdet darüber geäußert, dass ausgerechnet eine privatwirtschaftliche Gesellschaft von Netzbetreibern, die Trading Hub Europe GmbH, das Volumen dieses Kuchens beziffert. Warum?
Ulrich Schneider: Meinem Gefühl nach ist die Festsetzung einer Umlage, die für viele Menschen eine Herausforderung darstellt, eine hoheitliche Aufgabe. Ich bin jedenfalls davon ausgegangen, dass dies eine öffentliche Körperschaft tun würde. Ich kenne mich im Energiegeschehen nicht aus, das war bis vor Kurzem für uns alle eine Black Box. Aber so gesehen könnten wir im Bereich der sozialen Infrastruktur auch Sozialverbände oder Gewerkschaften entscheiden lassen
reich der sozialen Infrastruktur auch Sozialverbände oder Gewerkschaften entscheiden lassen, wie viel gebraucht wird.Nette Idee ...(Lacht) Ja, aber ich glaube, es ist auch vernünftig, dass bestimmte Aufgaben beim Staat verbleiben.Was bedeutet die Umlage nun konkret für Menschen mit geringem Einkommen?So, wie sie jetzt beziffert ist, bedeutet das eine Erhöhung des Gaspreises von über 30 Prozent, im Durchschnitt sind das für einen Vier-Personen-Haushalt rund 480 Euro im Jahr. Und es leben viele Menschen in Deutschland, die nicht einmal mehr diese 480 Euro stemmen können. Es gibt 13,8 Millionen, die unter der Armutsgrenze leben, zwei Millionen gehen regelmäßig zur Tafel, Millionen beziehen Altersgrundsicherung und Hartz IV. Diese Menschen wissen schon jetzt nicht, wie sie das Monatsende erreichen sollen.Die Bundesregierung hat angekündigt, dass Bezieher von Transferleistungen unterstützt werden. Was wäre für diese Gruppe die Mindestforderung?Wir benötigen ein weiteres Entlastungsprogramm für einkommensschwache Haushalte, und zwar nicht erst im nächsten Jahr, wie es der Kanzler angekündigt hat, sondern im Oktober oder November. Dazu zählt die Erhöhung der Regelsätze von Hartz IV und der Altersgrundsicherung von 200 Euro monatlich. Die Gaskosten werden für diese Gruppe zum größten Teil zwar übernommen, und es ist zunächst anzunehmen, dass die Umlage zu den Wohnkosten zählt. Doch mit erhöhten Gaspreisen steigen alle Preise, die auch die Armen bezahlen müssen.Sie haben die 13,8 Millionen erwähnt, die arm sind. Das sind erheblich mehr als die, die staatliche Transferleistungen erhalten. Rutscht der Rest durchs Netz?Diese 13,8 Millionen Menschen leben in 7,7 Millionen Haushalten, rund 3,4 Millionen davon erhalten Grundsicherung, 618.000 Haushalte beziehen Wohngeld, es bleibt eine Lücke von über vier Millionen Haushalten. Deshalb schlagen wir deutlich verbesserte Leistungen bei BAföG und Wohngeld vor – und eine deutliche Ausweitung der Anspruchsberechtigten, die Einkommensgrenzen beim Wohngeld müssen angepasst werden.Placeholder authorbio-1Wohngeldanträge sind extrem aufwendig, auch in der Bearbeitung. Wäre es nicht einfacher, direkte Unterstützung zu gewähren, ohne große Bürokratie?Wir müssen das Antragswesen beim Wohngeld deutlich vereinfachen, und auch den sehr eigenen Eigentumsbegriff im Wohngeldrecht. Wie andere Experten denken wir, dass es beim Wohngeld eine erhebliche Dunkelziffer von Berechtigten gibt, die keinen Antrag stellen, weil es so kompliziert ist. Was Sie vorschlagen, hört sich einfach an, ist es aber nicht, denn man erreicht nur einen Teil der Betroffenen über die Finanzämter oder die Rentenkassen. Und der Staat braucht von all diesen Menschen eine Bankverbindung, um Leistungen auszahlen zu können.Denken Sie, dass es zwischen den verschiedenen Gruppen zu sozialen Verwerfungen kommt, dass es neue Neiddebatten gibt?Die Neiddebatten werden eher von denen angeschoben, die zu den Wohlhabenden gehören, sie entfalten eine Rhetorik über Leistungsträger, die entlastet werden müssen, oder unterstellen den Menschen Gratismentalität.Sie haben aber selbst von einem Verzweiflungswinter gesprochen, der in einen Wutwinter umschlagen könnte. Die Rechten könnten den Unmut instrumentalisieren.Politisch wird es gefährlich, weil eine enorme Angst entsteht, auch in der Mittelschicht, wenn die Leute fürchten, ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen zu können. Die untersten 40 Prozent in der Einkommensskala haben so gut wie gar keine Rücklagen, mit einer harten Nachzahlung stehen sie mit dem Rücken zur Wand. Wo Angst und Verzweiflung herrschen, macht man es rechtsradikalen Kräften leicht, ich meine da ganz speziell die AfD. Um dem entgegenzuwirken, braucht es eine sofort wirkende, ausgleichende Sozialpolitik.Sie schlagen vor, die Unterstützungsleistungen aus Übergewinnen, etwa bei RWE, zu finanzieren. RWE hat angekündigt, auf die Gasumlage zu verzichten.Ich glaube, dieses Angebot geht auf das Kalkül zurück, damit die Diskussion um eine Übergewinnsteuer abzuwürgen. Selbst wenn RWE die Umlage nicht weitergibt, bleiben dem Unternehmen die Gewinne, und die Debatten über eine Übergewinnsteuer bleiben völlig berechtigt. RWE hat als Gesamtkonzern in vielen Bereichen Gewinne gemacht. Es kann doch nicht angehen, dass ein Konzern nach Gutdünken auf die Abgabe verzichtet und es vom Zufall des Wohnorts und der Willkür einzelner Unternehmenschefs abhängt, wer die Abgabe bezahlen muss.Ist eine Art neuer Solidaritätspakt fällig, der alle sehr Wohlhabenden in die Pflicht nimmt?Mich stört der Begriff des Paktes, die irrige Vorstellung, man könnte sich mit Reichen an einen Tisch setzen und sie dazu bewegen, etwas abzugeben. So etwas lässt sich nur durch knallharte politische Mehrheitsentscheidungen durchsetzen. Was wir brauchen, sind eine Vermögens- und Erbschaftssteuer, die ihren Namen verdienen, eine Transaktionssteuer und anderes. Ich bin guten Mutes, dass die NGOs diese Fragen im Herbst wieder auf die Tagesordnung setzen werden. Es müssen ja nicht nur Entlastungsmaßnahmen finanziert werden, sondern auch der Klimaschutz, und wir müssen den Sozialstaat aufrechterhalten. Jetzt brauchen wir Solidarität.Placeholder infobox-1
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