Mobilität Unser Redakteur fuhr in den vergangenen drei Monaten mit dem Zug von Berlin nach Frankreich, Brandenburg, München, Köln und jeweils zurück. Dank Verspätungen blieb viel Zeit, um hinter die Probleme der Deutschen Bahn zu blicken
Bahnhof Mannheim: Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen – wohl selten war dieser Spruch treffender als im Bahn-Sommer 2022
Foto: Miguel Villagran/Getty Images
Buttercroissant, Apfel-Streuselkuchen und Brownie – „mehr Essen haben wir leider nicht, die Kühlung ist ausgefallen“, sagt die Bordgastronomin, und für einen Moment wirkt es, als würde der hungrige Fahrgast jetzt gleich explodieren. Halle (Saale) Hauptbahnhof, ein Donnerstagabend, in Berlin war der ICE wegen einer „Reparatur am Zug“ schon mit 90 Minuten Verspätung losgefahren, jetzt steht er, der Grund: ein „Böschungsbrand“. Die Strecke Richtung München ist gesperrt. „Das kann doch nicht wahr sein“, ungläubig versenkt der Fahrgast den Kopf in seinen Händen, blickt dann vom Tisch zur Gastronomin auf, bestellt ein Croissant und eine Cola. „6,20 Euro, bitte.“ Er legt einen Zehn-Euro-Schei
hein auf den Tisch, sagt „Stimmt so“ und „Alles Gute noch“. Dann zieht er mit seiner Vesper von dannen.Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen – wohl selten war dieser Spruch treffender als im Bahn-Sommer 2022. Allein mit dem Berlin-München-Trip über Halle (Saale) ließen sich alle Zeilen dieses Artikels füllen. 9-Euro-Ticket, horrende Benzinpreise, offensichtliche Klimakrise: Die Bahn boomt. Am 10. August verschickte der Vorstand Personenfernverkehr der Deutsche Bahn AG, Dr. Michael Peterson, eine Mail an Bahncard-Inhaber: „Noch nie sind so viele Menschen so viele Kilometer Bahn gefahren wie in den letzten drei Monaten.“ Der Freude darüber folgte die Entschuldigung: „Wir bieten Ihnen zurzeit nicht die Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit, die Sie von uns erwarten bzw. die unseren eigenen Ansprüchen entspricht.“Bremer in DortmundBlankliegende Nerven, sinkende Hemmschwelle, tätliche Angriffe: Die Bahn-Gewerkschaften berichteten in den vergangenen Wochen vom Druck, den der Ansturm und die Personal-Unterausstattung für die Mitarbeiter in Zügen und an Bahnhöfen bedeuten. Keine Spur davon jedoch beim Donnerstagabend-Trip nach München, auch nicht bei etlichen Regionalexpress-Fahrten zwischen Berlin und Brandenburg, auch nicht auf dem Weg in den Urlaub, nach Frankreich, im Juli; die Fahrgäste so entspannt wie das Personal auch zuletzt auf der Strecke Berlin-Köln-Berlin – und da war auf der Hinfahrt das Stellwerk in Dortmund vom Starkregen überflutet worden und ausgefallen: Nicht einmal von Bambule rund um den Dortmunder Hauptbahnhof war etwas zu lesen – und irgendwie scheinen es an dem Samstag Tausende Werder-Bremen-Fans in die BVB-Arena geschafft zu haben, so ohrenbetäubend war ihr Jubel im Stadion nach dem legendären 3:2-Auswärtssiegtor. Im Internet hatten sie schnell die Alternativroute über Recklinghausen und Wanne-Eickel nach Dorstfeld untereinander kommuniziert.Böschungsbrand, Starkregen – es sind eben nicht nur die verheerenden Folgen des 1994 eingeschlagenen Privatisierungskurses, die der Bahn jetzt, im Moment ihrer größten Popularität, zusetzen: Auf den Gleisen der Republik lässt sich erleben, wie die Klimakrise Infrastruktur unter Stress setzt. Es trifft dabei einen Konzern, der den Anteil grüner Energie an seinem Strommix auf beachtliche 62 Prozent beziffert, diese etwa aus Windparks bezieht, aber noch viel mehr eigene Flächen für Fotovoltaik nutzen könnte und heute vor allem Wasserkraft-Zertifikate aus Norwegen kauft.Die Klimabilanz trübt, was der Bahn-Vorstand unter seinem Chef zwischen 1999 und 2009, dem Flugverkehrs-Manager Hartmut Mehdorn, mit Eon ausdealte: die langfristige Versorgung der Bahn mit Strom aus dem 2020 (!) in Betrieb genommenen Steinkohlekraftwerk Datteln 4. In Datteln könne „ein Viertel der Peak-Leistung“ der im gesamten Bahnnetz anfallenden Last erzeugt werden, wirbt der Betreiber des Kraftwerks auf seiner Homepage – Uniper, einst eine Eon-Abspaltung, nun Ausgangspunkt der Gasumlage. „Der Kohlestrom aus Datteln widerspricht eklatant dem Ziel des Klimaschutzes und des zunehmenden Ökostrom-Anteils im Bahnnetz – und das über die gesamte Laufzeit dieses Kraftwerks, das wohl erst 2038 als letztes Kohlekraftwerk in Deutschland vom Netz gehen wird“, schreibt der Biophysiker und Politikwissenschaftler Bernhard Knierim im Alternativen Geschäftsbericht der Deutschen Bahn 2020/21 des Bündnisses Bahn für Alle. Er erinnert zudem daran, wer 2018 einer der Vorsitzenden der Kohlekommission wurde: Ex-Kanzleramtschef Roland Pofalla (CDU), Bahn-Infrastruktur-Vorstand von 2015 bis April 2022.Wer die Misere der Bahn verstehen will, muss nur all die Alternativen Geschäftsberichte der vergangenen Jahre lesen. Bahn für Alle hat es wirklich „schon immer gesagt“: Der heutige Zustand der Bahn ist nicht nur, aber doch ganz maßgeblich Folge des 1994 eingeschlagenen Privatisierungskurses. Das für die vollständig bundeseigene Aktiengesellschaft Bahn zuständige Bundesverkehrsministerium leiteten seither unter anderem Matthias Wissmann (CDU, 1993 – 1998, von 2007 bis 2018 Präsident des Verbands der Automobilindustrie, VDA), einige SPD-Granden, zuletzt Wolfgang Tiefensee (2005 – 2009), dann CSUler wie Alexander Dobrindt (2013 – 2017) und Andreas Scheuer (2018 – 2021). Peter Ramsauer (CSU, 2009 – 2013) sagte über die Praxis, Personal abzubauen, Strecken, Weichen wie Bahnhöfe stillzulegen, Kosten zu senken und Zahlen zu optimieren, einmal: „Für dieses politische Ziel haben der frühere Bahnchef Hartmut Mehdorn und sein Aufsichtsratsvorsitzender Werner Müller die Bilanz der Braut fürs Börsenparkett geschmückt.“ Der Börsengang scheiterte 2007/08, wegen der Bankenkrise.All das ist sehr weit weg, wenn im Juli zwischen Ärmelkanal und Paris durch das Zugfenster doch noch ein französisches Flussbett sichtbar wird, in dem Wasser fließt und hoffentlich nicht zur Kühlung eines Atomkraftwerks dienen muss. Bei der Anreise in den Urlaub eine Woche zuvor hatte der ICE zwischen Frankfurt am Main und Paris am ersten Halt in Mannheim die Fahrt wegen eines „technischen Defekts“ beendet. Nach dem Urlaub stellte sich heraus: Genau an diesem ICE in Mannheim hatten sich die Wege mit Freitag-Kollegin Christine Käppeler gekreuzt (siehe Text links). Auf der Rückreise dann empfahl der Zugchef vor Karlsruhe „Fahrgästen mit Ziel Berlin“, hier schon umzusteigen, denn in Frankfurt würde der Anschluss wohl nicht erreicht. Das klappte, und im zweiten ICE nach Berlin stand dann irgendwo hinter Kassel-Wilhelmshöhe plötzlich Freitag-Kollege Velten Schäfer im Türbereich zwischen zwei Wagen (siehe Text rechts). Ein unerwarteter Plausch mit einem Kollegen samt Baby im Tragerucksack fällt in einem ICE entspannter aus als in einem Autobahn-Stau, jede Wette. Und wann fährt man schon mal langsam in einem wegen des Mannheim-Paris-ICE-Ausfalls völlig überfüllten kleinen Zug der Südwestdeutschen Landesverkehrs-GmbH durch die deutsch-französische Grenzregion, von Offenburg nach Straßburg, wo ein leerer TGV nach Paris wartet, wie auf der Urlaubs-Hinfahrt?Die Südwestdeutsche Landesverkehrs-GmbH (SWEG), so lässt sich nachher feststellen, gehört zu 95 Prozent dem Land Baden-Württemberg und zu je 2,5 Prozent dem Landkreis Sigmaringen sowie dem Zollernalbkreis. So ähnlich, wie es zwischen Offenburg und Straßburg läuft, ist es im Zeichen des Privatisierungskurses seit 1994 generell im Schienen-Personennahverkehr: Die Länder schreiben Strecken aus, auf diese können sich dann allerhand Eisenbahnverkehrsunternehmen bewerben. Die Zuschläge gehen an Unternehmen in öffentlichem Besitz wie die SWEG oder an private Unternehmen oder, und das häufig, an Tochterfirmen von Staatsbahnen anderer EU-Staaten. So will es bis heute das Wettbewerbs-, Markt- und Profit-Mantra der EU, weswegen sich wiederum Töchter der Bahn ihrerseits auf Strecken im Ausland bewerben.Dass Wettbewerb auf der Schiene eine Idee von unsäglicher Dummheit ist, weiß spätestens, wer sich das Schicksal der britischen Eisenbahn im Dokumentarfilm Der große Ausverkauf (2007) von Florian Opitz vor Augen geführt hat. Doch im Jahr 2022 befürchtet das Bündnis Bahn für Alle, dass es in Deutschland bald noch schlimmer kommen könnte in Sachen Privatisierung.Dabei klingen die Pläne von SPD, Grünen und FDP im Koalitionsvertrag erst mal gut: „Die Infrastruktureinheiten (DB Netz, DB Station und Service) der Deutschen Bahn AG werden innerhalb des Konzerns zu einer neuen, gemeinwohlorientierten Infrastruktursparte zusammengelegt.“ Und weiter: „Diese steht zu 100 Prozent im Eigentum der Deutschen Bahn als Gesamtkonzern. Gewinne aus dem Betrieb der Infrastruktur verbleiben zukünftig in der neuen Infrastruktureinheit.“ Das klingt nach einem guten Versprechen.Die Ampel im Auge behaltenBahn für Alle aber warnt: „Es wird deutlich, dass diese Versprechen für den Fernverkehr, die zahlreichen Nahverkehrstöchter, den Güterverkehr nicht gegeben werden.“ In der vom Bündnis beauftragten Studie Die Bahn in Deutschland: Trennung von Netz und Betrieb zu Lasten von Klima, Fahrgästen und Beschäftigten? schreibt Autor Carl Waßmuth weiter: „Mit anderen Worten: Dort darf das 100-prozentige Eigentum aufgegeben, dürfen also Betriebsteile verkauft werden, es wird weiterhin keine Gemeinwohlorientierung geben, Gewinne werden transferiert, eine Förderung der Wagenbeschaffung und des Fernverkehrs durch den Bund bleibt ausgeschlossen.“ Entlastet von den größtenteils vom Staat, also von Steuergeldern an die zusammengelegte Infrastruktureinheit bezahlten Netz-Investitionskosten in Milliardenhöhe, wird aus den Betriebs-Töchtern der Bahn eine für privates Kapital lukrative Anlagemöglichkeit, mit der sich riesige Renditen erwirtschaften ließen. Wer die Bahn liebt und keine noch schlimmeren, britischen Verhältnisse will, sollte vielleicht als die wichtigste Lehre aus diesem Bahn-Sommer mitnehmen, dass es gilt, die Bahn-Politik der Ampel-Koalition aufmerksam im Auge zu behalten – und im Zweifelsfall seine kritische Stimme zu erheben.Die schönste Pointe der Bahn-Abenteuer dieses Sommers ist übrigens diese: Es war schon dunkel, als die Feuerwehr den Böschungsbrand hinter Halle gelöscht hatte, per Durchsage war zu Freigetränken ins Bordbistro geladen und erklärt worden, wie die Entschädigungszahlungen für die Verspätung beantragt werden können. Weiter ging es trotzdem nicht. Jetzt klang aus den Lautsprechern eine junge, männliche Stimme mit hörbarem Unverständnis – Fahrgäste tippten, es sei ein zurückgelassener, tapferer „Praktikant“: Irgendeine „Zentrale“ habe bestimmt, dass das Zugbegleiter-Team in einen anderen ICE habe wechseln müssen. Die Ablösung sei erst noch auf dem Weg. Als die neuen Zugbegleiter dann angekommen waren, übernahm deren hörbar krisenerprobter Chef mit oberbayerischem Zungenschlag das Mikrofon: Erfurt, Bamberg, Nürnberg, Donauwörth, Augsburg – vor jedem Halt zählte er die eigentlichen Anschlussbahnhöfe der jeweilig nächstgelegenen Mittelstädte auf: Denn für die 110 Kilometer von Nürnberg nach Weiden in der Oberpfalz etwa würde nun die Bahn das Taxi übernehmen. Bei ihm, dem Zugchef, solle man sich in Wagen 13 einfinden, um Taxi-Fahrgemeinschaften zu bilden. Denn der Block mit den Taxigutscheinen ist immer endlich. Den letzten Taxigutschein des Blocks bekam kurz vor Augsburg der Autor dieses Textes.Placeholder authorbio-1
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