Die Bewohnbarkeit der Erde sichern

Rezension Namhafte Intellektuelle deuten die Zeichen der Zeit: Was hat Populismus mit wachsender Ungleichheit zu tun? Wie antwortet die Linke auf den Überdruss an der Demokratie?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Wie wollen wir leben?
Wie wollen wir leben?

Foto: NASA/Newsmakers

Dem Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung, René Scheu, ist das Buch Die grosse Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit bloss einen Verriss wert (NZZ, 4. Mai 2017). Allen Ernstes stellt er diesem Sammelband mit Beiträgen von international führenden Intellektuellen als «wohltuendes Antidot» ein Werk unseres grossen Schweizer Denkers Kaspar Villiger entgegen, der sich mit aller Geistesschärfe, die ihm zur Verfügung steht, dem «progressiven Zeitgeist» widersetzt. Kurz zuvor war noch in «Bücher am Sonntag», der monatlichen Beilage der NZZ am Sonntag, eine durchaus wohlwollende Besprechung des Soziologen Walter Hollstein zu lesen gewesen, der den Band als «gescheite Wegleitung» bezeichnet, «um unsere Epoche zu verstehen» (NZZaS, 30. April 2017).

Nebenbei bemerkt: Die NZZ-Rezension sagt viel über die geistige Situation der Redaktion dieser Zeitung aus. Es wird immer offenkundiger, dass die NZZ wieder auf stramme Bürgerlichkeit ausgerichtet werden soll. Die noch vorhandenen Nischen eines freien Denkens geraten zunehmend unter Druck.

Führer und Fans

Das Buch Die grosse Regression antwortet auf die aktuelle Zeitenwende – hin zu einer rückwärtsgewandten Moderne, die durch eine Wiedergeburt nationalistischer Politikmuster und die Zerstörung zivilisierter Formen des Umgangs miteinander gekennzeichnet ist. Der kürzlich verstorbene Soziologe Zygmunt Bauman charakterisiert diese Entwicklung so: Die Hoffnung, «den Lauf der Geschichte unter die Vormundschaft des Menschen stellen zu können», verschwinde und die Zivilisation übertreffe nunmehr die Natur hinsichtlich ihrer Unbeherrschbarkeit. Anders formuliert: Die Geschichte der Menschheit droht wieder zur blossen Naturgeschichte herabzusinken. Der in Basel lehrende deutsche Soziologe Oliver Nachtwey spricht von einer Entzivilisierung als Kehrseite der Individualisierung, die als Befreiung aus alten Abhängigkeiten verstanden worden war. Unter diesem Banner kam es dann aber auch zu einem Abbau von notwendigen sozialen Sicherungssystemen. Die gesellschaftlichen Zwänge wurden nicht geringer, doch die Individuen sind nun mehr und mehr auf sich selbst gestellt.

Der nach dem Zweiten Weltkrieg in den Industriegesellschaften einsetzende kollektive Aufstieg der Arbeiterklasse und anderer lohnabhängiger Schichten scheint an ein Ende gelangt zu sein und die soziale Ungleichheit nimmt wieder zu. Weil die Demokratie nicht mehr halten kann, was sie einst versprochen hat, entsteht ein Überdruss an ihr. Das ist der Nährboden für populistische Führer: Sie hassen die Demokratie, «weil sie ihrer eigenen monomanischen Machtgier im Weg steht». Deren Anhänger leiden ihrerseits an «Demokratiemüdigkeit», konstatiert der indische Kulturwissenschaftler Arjun Appadurai. So treffen sich Führer und Fans.

Die unmögliche Modernisierung

Noch weiter und tiefer in der Analyse geht der französische Politikwissenschaftler Bruno Latour. Er ist der einzige unter den 15 Autorinnen und Autoren des Buches, der die ökologische Frage ins Zentrum seiner Überlegungen stellt. Latours Fazit lautet: Die versprochene Modernisierung ist gar nicht möglich, «weil der Planet für ihre Träume von grenzenlosem Wachstum nicht ausreicht». Also treten Leute wie Trump die «Flucht nach vorne» an. Gewinne sollen maximiert werden, während man den Rest der Welt seinem Schicksal überlässt. Diese Bewegung verbindet sich mit einer «Flucht zurück» zu nationalistischem Denken: Man will das Volk glauben lassen, dass es wieder etwas zähle. Zwischen beiden Bewegungen tut sich ein massiver Widerspruch auf. Würde dieser erkannt, dann müsste sofort mit einer Politik der «Erdung» begonnen werden, welche die Bewohnbarkeit des Planeten für alle, und nicht nur für wenige sichert, betont Latour.

Ist die Linke dieser Aufgabe tatsächlich gewachsen? Zweifel säen vor allem die wenigen im Band vertretenen Autorinnen. Äusserst scharf kritisiert die israelische Soziologin Eva Illouz die linken und liberalen Eliten ihres Landes, die hauptsächlich von Aschkenasen (Juden mittel- und osteuropäischen Ursprungs) abstammen, während die Arbeiterklasse mehrheitlich den Mizrachim angehört, die aus Nordafrika und dem Nahen Osten kamen. Die Linke habe diese Volksgruppe nie vertreten und sei blind für ihr Schicksal geblieben, konstatiert Illouz. In diese Lücke seien die Fundamentalisten gesprungen. Die Autorin kommt zum Schluss, in Israel tobe «ein gewaltiger Klassenkampf», der zugleich mit einem ethnischen Konflikt verbunden sei. Die Linke habe es bis jetzt jedoch nicht geschafft, sich mit der Welt jener auseinanderzusetzen, die ihr Heil im Fundamentalismus suchen.

Eine linke Erzählung

Ähnliches gibt es von der Vereinigten Staaten zu berichten. Der Text der US-amerikanischen Philosophin Nancy Fraser ist eine Abrechnung mit dem Establishment der Demokratischen Partei, insbesondere mit deren Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton. Für die berechtigten Sorgen der Menschen, die Trump unterstützen, habe sie kein Verständnis aufgebracht – und so den Eindruck verstärkt, «die Progressiven seien Verbündete des globalen Finanzwesens». Diesem «progressiven Neoliberalismus» gilt Frasers scharfe Kritik. Bernie Sanders hätte eine Alternative darstellen können, weil er die sozi-ökonomischen Probleme thematisierte, unter denen viele US-Bürgerinnen und -Bürger leiden. Die beharrenden Kräfte in der Demokratischen Partei erwiesen sich jedoch als mächtiger.

Fraser hält fest: Es fehle noch immer an einer nachhaltigen linken Präsenz in den USA – und damit auch an einer linken Erzählung, welche in der Lage sei, die legitimen Klagen der Trump-Wählenden mit einer Fundamentalkritik am Finanzkapitalismus und einem umfassenden Verständnis von Emanzipation zu verbinden. Um die Entfaltung einer solchen Erzählung als individuelle wie kollektive Befreiungsgeschichte geht es nicht nur in den Vereinigten Staaten.

Heinrich Geiselberger (Hrsg.): Die grosse Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Suhrkamp Verlag 2017, 319 S.

Die Besprechung erschien zuerst in der linken Zürcher Wochenzeitung P.S. vom 30. Juni 2017. Dies erklärt auch den Schweizbezug im Einstieg zum Beitrag. Für Nicht-SchweizerInnen: Kaspar Villiger war Mitglied der Landesregierung und später Verwaltungsratspräsident der UBS.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Seifert

Journalist / Publizist / interessiert an Fragen der sozialen Ökologie

Seifert