Wenn es eine Rangliste politischer Modewörter gäbe, würde „woke“ zumindest den Preis für die schnellste Karriere gewinnen. Von einer positiven Bezeichnung für Wachsamkeit gegenüber rassistischer Diskriminierung hat sich das Wort innerhalb weniger Jahre zum negativen Kampfbegriff entwickelt, zum inflationär gebrauchten abwertenden Etikett für alles, was nach linker Identitätspolitik aussieht. Dem wäre leicht entgegenzutreten, wäre die Sache nicht komplizierter, als es manchmal scheint: Hinter der Polemik um Wokeness und Identitätspolitik verbergen sich sehr reale Konflikte, die weite Teile der Gesellschaft auf ungute Weise zu polarisieren drohen – und gerade deshalb einer ernsthaften Debatte jenseits populistischer Zuschreibungen bedürfen.
Genau daran fehlt es im öffentlichen Diskurs unserer Tage viel zu oft. Zum Beispiel dann, wenn Markus Söder über Bedrohungen der bayerischen Lebensart referiert: „Die Grünen sind für ein Indianerverbot, sie sind für ein Autowaschverbot, sie sind für ein Fleischverbot, sie sind für ein Böllerverbot, sie sind sogar für ein Luftballonverbot, liebe Freundinnen und Freunde!“
Morgens Indianer spielen, mittags das Auto waschen, abends im ballongeschmückten Garten ein zünftiges Stück Rindfleisch grillen (nicht ohne bei einer Maß Bier ein vollständiges Drogenverbot zu fordern), und an Silvester wird kräftig geböllert – das alles soll bald Geschichte sein? Mit anderen Worten: „Es droht tatsächlich eine düstere Woke-Wolke unseren weiß-blauen Himmel über Bayern zu verdunkeln.“
Sahra Wagenknecht hat sicher nicht viel gemeinsam mit dem bayerischen Ministerpräsidenten. Während er die woken Wolken von links heraufziehen sieht, wo er die Grünen verortet, versteht sich die werdende Parteigründerin selbst als Linke, allerdings in heftiger Abgrenzung zu all den „Lifestyle-Linken“, die angeblich vor lauter Sympathie für Klimaschutz, Geflüchtete und die queere Szene die wahren Bedürfnisse der sozial Benachteiligten vergessen. Was, wenn auch aus anderer Perspektive, zu erstaunlichen Ähnlichkeiten mit dem Söder-Sound führt: „Als links gilt heute vor allem dieser woke Diskurs über immer abstrusere Sprachregeln, die übergriffige Anmaßung, Menschen vorzuschreiben, was sie essen, wie sie heizen, welches Auto sie fahren sollen. Wenn das links ist, habe ich damit nichts zu tun.“ Lieber seien ihr dann schon „sozial verantwortungsvolle Konservative, mit denen mich mehr verbindet als mit vielen grünen Politikern, denen soziale Probleme völlig egal sind.“
Bei allen Unterschieden stehen Söder und Wagenknecht sozusagen lagerübergreifend für jene Polarisierung, die eine sachliche und differenzierte Wokeness-Kritik so schwer macht. Sie scheinen gar nicht zu merken, dass sie genau das betreiben, was sie den angeblichen „Lifestyle-Linken“ vorwerfen: Partikularismus. Bei ihnen ist es ein Partikularismus, der zum einen schon in der Abwehr global gedachter Rechte und Freiheiten besteht, die gegen nationale Interessen ausgespielt werden – und seien es die vermeintlich wahren Interessen der deutschen Arbeiterklasse wie bei Wagenknecht. Zum anderen ist es ein Partikularismus, der im Ausschließen „anderer“ Lebensweisen mindestens ebenso rigide daherkommt wie die radikalsten Äußerungen aus dem „woken“ Lager.
Ausschluss via Inklusion?
Fatal wäre es aber, auf diese fragwürdigen Formen der Kritik mit undifferenzierter Verteidigung aller Formen von Wokeness zu reagieren. Wer die Debatte jenseits polemischer Zuspitzungen verfolgt, stößt schnell auf ein Paradox, über das zu reden sich wirklich lohnt: Entstanden als Chiffre für den universalistischen Anspruch auf Freiheit von Diskriminierung, steht die Wokeness heute ihrerseits im Verdacht des Partikularismus: Der identitätspolitische Anspruch auf gleiche Rechte, so der Vorwurf, führe nun selbst zur Spaltung der Gesellschaft. Wer anders lebe, anders denke, anders spreche als die „Woken“, werde vor die Wahl gestellt: entweder bestimmte Verhaltensmuster zu übernehmen oder – per „Cancel Culture“ – aus der Gemeinschaft der gleichen Rechte für alle zumindest gedanklich ausgeschlossen zu sein.
Diese Kritik kann nicht einfach abgetan werden, nur weil die Söders oder Wagenknechts sie zum Werkzeug antiliberaler Rhetorik gemacht haben. Hier wird nichts Geringeres verhandelt als das Ideal eines menschenrechtlichen Universalismus. Und vor diesem Hintergrund muss sich auch linke Identitätspolitik fragen lassen, wo der Kampf gegen den Ausschluss bestimmter Gruppen seinerseits ausschließende, diskriminierende Formen annimmt.
Zur Erinnerung: Das Wort „woke“ ist zwar schon in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts im antirassistischen Diskurs zu finden. Aber seinen Aufschwung erlebte es, als die Black-Lives-Matter-Bewegung mit der Parole „Stay woke“ gegen tödliche Polizeiangriffe auf Schwarze in den USA protestierte. Die Bedeutung war klar: „In hohem Maß politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung“, so definiert der Duden den Begriff, der dort erst 2021 landete. Im Jahr 2017 hatte das Oxford English Dictionary das Wort aufgenommen, und dort findet sich der treffende Zusatz: „Im neueren Gebrauch manchmal abwertend, insbesondere als Mittel zur Charakterisierung solcher Wachsamkeit … als doktrinär, selbstgerecht oder schädlich“.
Einfach ist es, wie gesagt, identitätspolitische Anstrengungen pauschal unter Verdacht zu stellen. Schwieriger ist es – aber umso notwendiger –, diesen Anstrengungen ohne vorgefertigte Abwehrreflexe und polarisierende Aggressivität, aber mit kritischem Blick zu begegnen. Mit einem Blick, der zwischen Identitäts- und Gerechtigkeitsfragen, zwischen Klimaschutz und Wohlstand, zwischen den Bedürfnissen der „kleinen Leute“ hier und der Flüchtenden von dort keine Widersprüche konstruiert, sondern die vermeintlich entgegengesetzten Interessen miteinander in Balance zu bringen versucht.
Wer vom Sockel runtermuss
Aus dieser Perspektive kann und darf sehr wohl über die Frage gestritten werden, ob es nicht Zeit sei, eine wohlverstandene Wokeness auch gegen einige ihrer eigenen Ausformungen zu verteidigen. Ob es etwa dem emanzipatorisch-universalistischen Anspruch genügt, Philosophen der Aufklärung wegen Nähe zum europäischen Kolonialismus rigide und pauschal vom Sockel zu stoßen, statt die universalistischen und auch antikolonialen Tendenzen stark zu machen, die es bei ihnen ebenfalls gab. Ob „kulturelle Aneignung“, definiert als der künstlerische Versuch des verstehenden Eintauchens in andere Kulturen, nicht auch im Sinne wohlverstandener Wokeness etwas Positives sein kann. Ob die Kritik an mehr oder weniger klimaschädlichen Verhaltensweisen der ökologischen Transformation und dem dafür notwendigen Konsens nicht auch schaden kann, wenn sie allzu moralisch bis moralisierend eingefärbt ist. Oder ob Menschen, die ein „binäres“ Alltagsverständnis von Geschlechtlichkeit mitbringen, mit zugewandter Ansprache nicht besser zu erreichen wären als mit einer Rhetorik der Abwehr.
Wohlgemerkt: Hier ist bewusst von Fragen die Rede. Von Fragen deshalb, weil es dringend notwendig erscheint, den polarisierten Debatten einen abwägenden, wertschätzenden Diskurs entgegenzusetzen. Genau dazu will die Reihe einen Beitrag leisten, die der Freitag in Kooperation mit der Evangelischen Akademie in Frankfurt am Main ins Leben gerufen hat. Am Donnerstag, dem 2. November, startet sie mit einer Diskussion zum Thema „Alles woke, oder was?“
„Gegenlicht – Forum für Gegenwartsfragen“ lautet der Titel der Debattenserie in Frankfurt, und darin ist der wichtigste Anspruch angedeutet: kontroverse Themen auch einmal aus Perspektiven zu beleuchten, die vom Scheinwerferlicht der Talkshows und Social-Media-Kämpfe nicht erhellt werden. Mit den Worten der Ankündigung: Diskussionen zu ermöglichen, „die der Polarisierung öffentlicher Debatten einen konstruktiven Umgang entgegensetzen“. Zum Gespräch auf dem Podium wurden deshalb gerade nicht Protagonistinnen und Protagonisten der Polarisierung geladen, sondern zwei Personen, die eine sachliche und differenzierte Auseinandersetzung versprechen: auf der einen Seite Sarah-Lee Heinrich, bis vor wenigen Tagen Vorsitzende der Grünen Jugend, die sich dezidiert für eine ganzheitliche und gemeinsame Betrachtung von Identitätspolitik, Klimaschutz und Klassenfragen ausgesprochen hat. Auf der anderen Michael Roth, Professor für Systematische Theologie in Mainz und Autor des Buches Über kirchliche Propheten mit Tarifvertrag, der für „moralische Abrüstung“ (nicht nur) in der evangelischen Kirche plädiert. Es moderiert Freitag-Redakteurin Ebru Taşdemir.
ALLES WOKE, ODER WAS?
Über Diversität, Moral und eine überhitzte Debatte diskutieren Sarah-Lee Heinrich (Grüne) und Prof. Michael Roth (Uni Mainz)
Termin: Donnerstag, 2. November 2023, 18 Uhr, der Freitag in Kooperation mit der Evangelischen Akademie Frankfurt am Main
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