Das fehlende Fragezeichen

Völkerstrafrecht Bei einer Podiumsdiskussion in Berlin diskutieren Völkerstrafrechtler über Möglichkeiten und Grenzen internationaler Strafgerichtsbarkeit

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Das Podium (v.l.): David Tolbert, Navanethem Pillay, Michael Koch, Michelle Jarvis und Nemanja Stjepanović
Das Podium (v.l.): David Tolbert, Navanethem Pillay, Michael Koch, Michelle Jarvis und Nemanja Stjepanović

Foto: Timo Al-Farooq/Flickr (CC BY-SA 2.0)

Der Zeitpunkt dieser Veranstaltung könnte passender nicht sein: am 15. Mai findet im prachtvollen, kronleuchterbehangenen Weltsaal des Auswärtigen Amtes (AA) in Berlin eine Podiumsdiskussion über die Rolle internationaler Strafgerichtsbarkeit für den globalen Frieden statt, nur einen Tag nachdem Israel, das nicht zu den Unterzeichnerstaaten des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gehört, bei Protesten in Gaza gegen die Eröffnung der US-Botschaft am neuen Standort Jerusalem 59 palästinensische Demonstranten getötet und über 2700 verletzt hat. Unter der Leitung Michael Kochs von der Rechtsabteilung des AA diskutieren David Tolbert (Präsident a.D., International Center for Transitional Justice), die ehemalige UN Hohe Kommissarin für Menschenrechte Navanethem Pillay, die stellvertretende Leiterin des International, Impartial and Independent Mechanism on Syria (IIIM) Michelle Jarvis, sowie Nemanja Stjepanović vom Humanitarian Law Center in Belgrad über Mandat und Grenzen internationalen Völkerstrafrechts.

Regionale und internationale Mechanismen

Dabei wird bereits eingangs internationale Strafgerichtsbarkeit keineswegs als alleiniger Mechanismus stehengelassen: „Navi“ Pillay unterstreicht die komplementäre Funktion des IStGH und hebt Afrika als „gutes Beispiel“ für regionale Gerichtsbarkeit hervor: wo es früher keine adäquaten nationalen Gerichtsbarkeitsmechanismen gegeben hätte, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu ahnden, würden heute regionale Maßnahmen verstärkt genutzt, und verweist auf das Verfahren des tschadischen Diktators Hissène Habré, dem von einem Sondertribunal der Afrikanischen Union (AU) im Senegal der Prozess gemacht wurde. Darüber hinaus weist Pillay, die von 2003 bis 2008 Richterin am IStGH war, die von einigen afrikanischen Spitzenpolitikern lancierte Kritik zurück, das Haager Gericht würde seinen Fokus zu sehr auf Afrika legen, und erinnert daran, dass die meisten afrikanischen Staaten das IStGH selbst angerufen hätten: von fehlendem lokalen Rückhalt könne also keine Rede sein. Dass von den elf Fällen, in denen das Büro der Chefanklägerin Fatou Bensouada derzeit ermittelt, überwältigende zehn afrikanische Staaten betreffen, das erwähnt Pillay nicht.

In ehemaligen Jugoslawien hingegen gestalte sich regionale Justiz als deutlich schwieriger: Laut Stjepanović hätte es aufgrund des tiefsitzenden inter-ethnischen Misstrauens gar keine regionale Alternative zum Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) geben können: jedwede regionale Maßnahme wäre von der Gegenseite als parteiisch abgestempelt worden. Doch auch das ITCY habe gezeigt, es könne eine „integrative Justiz zwischen nationalen und internationalen Mechanismen“ geben, so Jarvis vom IIIM: dem UN-Strafgericht hätten zahlreiche nationale Strafverfolgungsbehörden zugearbeitet, mit dem Resultat, bei der Beweissammlung Dokumente im Umfang von neun Millionen Seiten zusammengetragen zu haben.

Strafverfolgung ohne Mandat?

Was aber machen, wenn - wie in Syrien - Völkerstrafrecht an seine Grenzen stößt? Angesichts fehlender IStGH-Zuständigkeit und der Abwesenheit eines UN-Sondertribunals zu Syrien kommt dem von der UN-Vollversammlung mandatierten und in der Öffentlichkeit relativ unbekannten IIIM eine ganz besondere Bedeutung zu: eigeninitiativ sammelt er als eine Art Quasistrafverfolgungsbehörde vorab Beweismaterial für eventuelle Gerichtsverfahren. Die Wichtigkeit der vorbereitenden Natur dieser Arbeit solle nicht unterschätzt werden, mahnt Jarvis: Die Konflikte der letzten Jahrzehnte, bei denen erst nach deren Ende mühsam Beweise zusammengetragen werden mussten, hätten gezeigt, von welcher zentralen Bedeutung solch eine vorbereitende Tätigkeit für etwaige Strafverfolgung sein könne. Besonders der Syrienkrieg produziere dank des Smartphones eine Fülle später verwertbaren Beweismaterials: Sollte ein Gericht also irgendwann Zuständigkeit für Syrien bekommen, würde es diesem die Arbeit erheblich erleichtern.

Auch der Israel-/Palästina-Konflikt sei ein Beispiel für die Schwierigkeit von Strafverfolgung ohne Mandat und innerhalb unklarer Zuständigkeiten, so die Anwesenden: wie sollen die Hüter des Völkerstrafrechts diesbezüglich aktiv werden, wenn Israel das IStGH bis heute nicht anerkennt, Palästina seit 2014 aber schon? Erst gestern hat - von deutschen Medien kaum beachtet - die palästinensische Autonomiebehörde wegen der Tötungen in Gaza und des illegalen Siedlungsbaus in den von Israel besetzten Gebieten den Fall an das IStGH in Den Haag übergeben: auch dieser mit der Staatsgründung Israels ausgelöste und mittlerweile 70 Jahre andauernde Konflikt verdeutlicht die beißende Aktualität von Völkerstrafrechtsdiskursen.

Langer Atem und Geopolitik

Die Arbeit internationaler Strafjustiz gestalte sich nicht selten als äußerst schwierig, so David Tolbert: man benötige eine „enorme Menge an Informationen“, um begangene Verbrechen mit hochrangigen Militärs in Verbindung zu bringen. Hinzu kämen Aspekte wie Sicherheit, Kostenfragen und Übersetzungsprobleme. Als eines der größten Hindernisse nennt Tolbert die fehlende Konstanz internationaler Strafverfolgung: aufgrund der Natur demokratischer Staaten würden Regierungswechsel oftmals „policy changes“ zur Folge haben, welche dann den politischen und finanziellen Rückhalt durch den jeweiligen Staat veränderten und dadurch die Kontinuität von Verfahren behinderten. Der Friedensprozess in Kolumbien etwa zwischen Regierung und FARC sei jedoch ein gutes Beispiel für einen „langfristigen, inter-generationellen“ Ansatz mit dem Endziel gesellschaftlicher Aussöhnung.

Im Falle Bosniens bemängelt Tolbert das Fehlen gerade dieses Trickle-Down-Effekts von transitional justice auf die Gesellschaft, in der bis heute getrennte Schulen für muslimische und serbischstämmige Bosnier existierten und die ethnische Spaltung alles andere als überwunden sei (Beispiel Republik Srpska). Das Abkommen von Dayton habe Bosnien in einer Art gespalten, die alle Mechanismen restorativer Justiz nicht heilen könnten, kritisiert Tolbert jenen Friedensvertrag scharf, der 1995 unter Vermittlung der Clinton-Regierung den dreieinhalb Jahre dauernden Bürgerkrieg in Bosnien und Herzegowina sowie in Kroatien beendete.

Pillay ergänzt die Kritik an der internationalen Strafjustiz um den Aspekt der Handlungsunfähigkeit der UN: Besonders im Hinblick auf Syrien und Israels Gewalt in Gaza geißelt sie den Sicherheitsrat für die obstruktiven geopolitischen Spielchen mancher Mitglieder: während ihrer Amtszeit als Hohe Kommissarin für Menschenrechte habe es sechs Untersuchungskommissionen hinsichtlich israelischer Kriegsverbrechen gegeben, jedoch sei nichts passiert. Auch nimmt sie kein Blatt vor den Mund bezüglich der Rolle westlicher Waffenverkäufe in Konflikten des Globalen Südens: „No developing country produces arms“ erinnert sie die Anwesenden zu ausgelassenem Beifall, dessen Vehemenz um so überraschender wirkt, wenn man sich darin erinnert, in wessen geweihten Hallen man eigentlich gerade gastiert: im Außenministerium eines Staates, der laut Friedensforschungsinstitut SIPRI der viertgrößte Waffenexporteur der Welt ist, nach den USA, Russland und Frankreich.

Das fehlende Fragezeichen

Die Behandlung allzu tiefgreifender Fragen bleiben die Diskutierenden dem Publikum aber weitgehend schuldig, weshalb Letzterem dafür beim anschließenden Q&A Raum gegeben wird. Warum man erst abwarte, bis ein Konflikt entstehe, der dann mühsam aufgearbeitet werden muss, und nicht schon vorher nach vorbeugenden und innovativeren Lösungen suche, fragt jemand. Gerade das IIIM sei ja ein Beispiel innovativer Auseinandersetzung, so Jarvis: die „Kreativität seines Mandats (weder Gericht noch vollwertige Strafverfolgungsbehörde) ermögliche es „internationale Justiz in einer integrativeren Art zu konzeptionalisieren.“

Würde nicht besonders für israelische Verbrechen statt Strafverfolgung das Prinzip staatlicher Immunität gelten, fragt ein anderer. Die Causa Israel habe „nichts“ mit staatlicher Immunität zu tun, die Sache sei einfach zu kompliziert, wiegelt der Moderator in typischem Diplospeak ab, seine Antwort symptomatisch für die Vogel-Strauß-Taktik und Laissez-Faire-Haltung, die seit 70 Jahren deutsche Israelpolitik kennzeichnen.

Und ein AA-Mitarbeiter stellt sogar den Titel der Veranstaltung selbst in frage: fehle da nicht ein Fragezeichen hinter „International criminal justice: Element of the peace order?“ Schließlich gäbe es ja auch Beispiele dafür, dass Diktatoren auch ohne Androhung von Strafverfolgung „aus dem Amt geredet würden“, wie jüngst Yayah Jammeh in Gambia, bei dem es die Aussicht auf Straffreiheit und nicht Strafverfolgung war, die seine über zwei Jahrzehnte währende Herrschaft beendete.

Dieses fehlende Fragezeichen bleibt wohl das zentrale Manko einer spannenden Expertenrunde, die jedoch verfehlt hat, sich aus dem Feld normativer Strafgerichtsbarkeit hinauszuwagen: Man hätte alternative Formen der Aufarbeitung erörtern sowie der Perspektive der Opfer mehr Geltung verschaffen sollen. Denn um sie sollte es ja in erster Linie gehen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Timo Al-Farooq

Freier Journalist aus Berlin in London・IG: @talrooq

Timo Al-Farooq

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