Es war der Schlag für den britischen Premierminister Boris Johnson, auf den jede:r einzelne seiner Kritiker auf den Hinterbänken im Parlament gewartet hatte.
Am Dienstagabend traten erst der britische Gesundheitsminister Sajid Javid und kurze Zeit später der Finanzminister Rishi Sunak zurück. Sie verbreiteten ihre Rücktrittsbriefe über Twitter und kritisierten die Kompetenz der Regierung.
Keiner der beiden erwähnte die Skandale um sexuelle Belästigung und Partygate, die die Regierung seit Monaten belasten. Insbesondere Finanzminister Sunak nannte als Auslöser für den Rücktritt seinen abweichenden wirtschaftlichen Ansatz.
Hintergrund war jedoch offenbar Johnsons katastrophaler Umgang mit der Chris-Pincher-Affäre. Er hatte zugegeben, ihn zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden ernannt zu haben, obwohl er von den Vorwürfen sexueller Belästigung gegen ihn wusste. Nur kurze Zeit vor den Rücktritten hatte Johnson sich vor Fernsehkameras für die Ernennung Pinchers entschuldigt, sagte unterwegs im Tearoom des britischen Unterhauses aber auch: „Jeder verdient eine zweite Chance“.
Bekommt Boris Johnson noch eine Chance?
Das Problem ist, dass es bei Johnson nicht um eine zweite Chance geht, sondern um eine Chance mit deutlich höherer Zahl: Vorgeworfen werden ihm unter anderem Skandale wie Partygate, die Finanzierung seiner Wohnungsrenovierung durch Tory-Spender, die Verleihung eines Adelstitels an Jewgeni Lebedew gegen den Rat des Geheimdienstes sowie Versuche, das Regelwerk parlamentarischer Standards umzuschreiben, um Nachforschungen zu verhindern.
Die Rücktritte der beiden wichtigen Minister führten nicht sofort zu einer Rücktrittswelle im britischen Kabinett. Johnson gegenüber kritisch eingestellte Tory-Abgeordnete sind dennoch weiter überzeugt, dass das Ende des Premierministers nah ist.
Durch die Rücktritte sitzen jetzt zwei schwergewichtige Kontrahenten des Premierministers auf den Hinterbänken des Parlaments, wo sie mehr Zeit für Kampagnen um die politische Führung haben könnten, um sich schließlich als Nachfolger Johnsons durchzusetzen. Außerdem sind Sunak und Javid – wie Jeremy Hunt – jetzt in der Lage, von außerhalb der Regierung Kritik am Johnsonismus zu üben. Eine Reihe von Sunak-Anhängern, darunter die Abgeordneten Huw Merriman und Kevin Hollinrake, waren unter denen, die dem früheren Finanzminister applaudierten.
Noch ist auch möglich, dass in den kommenden Tagen weitere Rücktritte aus der Regierung dazu kommen. Das würde den Eindruck vermitteln, dass Johnson nicht in der Lage ist, genügend Unterstützung zu erhalten, um alle Lücken in seiner Regierung zu füllen.
Ablenkung durch eine Krise in der Labour-Partei
Passiert das nicht, wird sich die Aufmerksamkeit den Wahlen im 1922-Komitee zuwenden. Das Komitee ist Teil der Konservativen Partei, gilt als Vereinigung für Hinterbänkler und hat starken Einfluss auf die Machtpositionen in der Partei. Die Wahlen werden wahrscheinlich dazu führen, dass eine Reihe von Johnson-Kritikern an die Spitze des Komitees gewählt wird und sich die Bestimmungen zugunsten einer weiteren Vertrauensabstimmung über die Zukunft des Premierministers ändern.
Johnson hatte ein Misstrauensvotum in seiner Partei mit knapper Mehrheit überstanden – aber wenn an einem Punkt in den kommenden Monaten nur 32 Parlamentsabgeordnete ihre Meinung ändern, wäre seine Zeit als Premierminister vorbei.
Laut einer Quelle aus dem Kabinett sprachen sich einige verbleibende, Johnson gegenüber loyale Kabinettsmitglieder dafür aus, sich abzuschotten und ruhig zu verhalten. Die Hoffnung sei, dass der Labour-Politiker und Oppositionsführer im Unterhaus Keir Starmer in den nächsten Tag von der Polizei von Durham zu einer Strafe verdonnert wird. Dahinter steckt die Annahme, dass Johnson den Sturm überstehen könnte, wenn die Aufmerksamkeit bald auf eine Führungs- und Ethikkrise bei der Labour-Partei gelenkt werden kann.
Aber auch vielen Tory-Regierungsmitarbeitern erscheint die Situation unhaltbar. „Ich beobachte einfach, dass die Verzweiflung wächst“, äußerte einer. „Minister und Beamte verhalten sich so, als liefe alles außer Kontrolle. Die gesamte Breite der britischen Regierung wird von dieser Sache in Anspruch genommen. In solchen Zeiten kann man das System nicht dazu bringen, effektiv zu arbeiten. Es ist einfach eine weitere Shitshow. Aber ich glaube, es fühlt sich diesmal anders an, weil die Geduld nachlässt.“
Eine andere Regierungsquelle sagte: „Wir schleppen uns weiter.“
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