Das Jüngste Gericht

Giftgas Im von Rebellen gehaltenen Chan Scheichun starben über 80 Syrer bei einem Angriff mit Sarin. Woher kam die Attacke?
Ausgabe 15/2017
Ein syrischer Arzt sucht Schutz nach einem Luftangriff
Ein syrischer Arzt sucht Schutz nach einem Luftangriff

Foto: Omar Haj Kadour/AFP/Getty Images

Chan Scheichun ist eine Geisterstadt, seine Straßen sind verlassen und still, als würden sie um die Opfer des Gräuels trauern. Das Einzige, was an das Geschehene erinnert, ist ein kleiner schwarzer Krater unweit des nördlichen Teils, wo allem Anschein nach eine Rakete mit Nervengas niederging und über 80 Menschen tötete – einer der folgenschwersten Angriffe mit Giftwaffen, die sich in den sechs Jahren des syrischen Bürgerkrieges ereignet haben.

Alles, was von dem Angriff auf die Stadt in der von Rebellen gehaltenen Provinz Idlib bleibt, ist ein schwacher Geruch und ein abgebrochenes kleines, grünes Stück der Rakete. Die Symptome der Opfer passen zu Sarin, dem Nervengas, das 2013 auf eine von der Opposition gehaltene Gegend in der Nähe von Damaskus abgeworfen wurde und über 1.000 Menschen tötete. Danach hat Syriens Regierung ihr Chemiewaffenarsenal angeblich aufgegeben.

Moskau, das Baschar al-Assad militärisch unterstützt, erklärte, die syrische Armee habe eine von Rebellen betriebene Giftgasfabrik in Chan Scheichun bombardiert, woraufhin das Gas ausgetreten sei. Der Guardian, der als erstes westliches Medium den Schauplatz des Angriffs besucht hat, nahm eine Lagerhalle und Silos direkt neben der Einschlagstelle der Rakete in Augenschein. Es roch nach Getreide.

Anwohnern zufolge wurden die Silos bereits vor sechs Monaten bei Luftangriffen beschädigt und sind seitdem ungenutzt. „Sie können es sich ansehen. Da ist nichts außer Viehmist und einer Ziege, die bei dem Angriff erstickt ist“, meint ein Augenzeuge. Der russischen Darstellung begegnen die Bewohner mit Unglauben.

Es gibt keine Hinweise darauf, dass in der Nähe des Ortes, an dem so viele Menschen an einem Nervengas starben, irgendwelche Gebäude getroffen wurden. Die Häuser auf der anderen Straßenseite scheinen von außen unbeschädigt. Es gibt keinen kontaminierten Bereich, der sich in der Nähe irgendeines Gebäudes befindet. Der Kontaminationsbereich breitet sich von einem Loch in der Straße her aus.

„Es war wie das Jüngste Gericht“, sagt Hamid Khutainy, der in Chan Scheichun freiwillig in der Zivilverteidigung mithilft. Den Zeugen zufolge begannen die Luftangriffe am Dienstagmorgen kurz nach 6.30 Uhr mit vier Bomben, die in der Nähe der Stadt abgeworfen wurden. Zunächst dachten alle, es handle sich um einen weiteren Luftschlag, bis die Notfallhelfer, die vor Ort eintrafen, zu Boden fielen.

„Sie gaben durch, ,Zentrale, wir verlieren die Kontrolle‘. Wir hatten keine Ahnung, was sie uns damit sagen wollten. Dann kam die Aufforderung: ,Kommt und rettet uns, wir können nicht mehr gehen.‘ Also gingen das zweite und das dritte Team los, lediglich mit Gesichtsmasken geschützt.“ Mehr Ausrüstung sei nicht verfügbar gewesen. Die Menschen beschreiben eine Szenerie des Schreckens. Die Verwundeten zitterten und krümmten sich auf dem Boden, Schaum vor dem Mund, die Lippen blau, im einen Moment bewusstlos, dann wieder ansprechbar.

Überall Leichen

„Ich fand Kinder am Boden liegen, die in ihren letzten Zügen lagen, ihre Lippen verfärbten sich blau“, berichtet Abu al-Baraa, der in der Nähe wohnt. Als er herbeieilte, um zu helfen, dämmerte ihm das Ausmaß dessen, was geschehen war. „Menschen auf den Dächern und in den Kellern. Menschen auf dem Boden, auf den Straßen. Wo immer man hinsah, waren Leichen.“ Während die medizinischen Helfer versuchen, die Situation zu bewältigen, wird das Zentrum für medizinische Versorgung von acht bis zehn weiteren Luftschlägen getroffen. Der Standort wird aufgegeben.

Auf einem nahegelegenen Friedhof ist die rote Erde auf den Gräbern noch frisch aufgeworfen, am Vortag wurden hier die Toten begraben. Abdulhamid al-Yousef, der als einer der wenigen seiner Familie überlebt hat, hat gestern seine Frau und seine neun Monate alten Zwillinge, Ahmed und Aya, beerdigt. Jetzt sitzt er zu Hause, nimmt Beileidsbekundungen entgegen. Yousef war den anderen Opfern des Angriffs zu Hilfe geeilt. Seine Frau und die Kinder waren in den Schutzraum im Keller geeilt. Das Giftgas drang dort ein – und tötete sie alle. Am nächsten Abend beerdigte er seine beiden Säuglinge. Wie im Trance wiederholt Yousef ihre Namen. „Aya und Ahmed, meine Seelen.“

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Kareem Shaheen | The Guardian

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