Der Hundertjährige, der Barcelonas erste urbane Farm auf einem Dach anlegte
Urban Farming Joan Carulla begann vor 65 Jahren seine Dachterrasse in Barcelona in einen himmlischen Schrebergarten zu verwandeln. Heute wachsen dort mehr als 40 Obstbäume. Ein Besuch beim Pionier der ökologischen Landwirtschaft in der Stadt
Als Joan Carulla Figueres die Dachterrasse seiner Wohnung in Barcelona in einen Garten verwandelte, geschah dies aus Nostalgie für seine ländliche Herkunft. 65 Jahre später sind die ökologischen Konzepte, die er seit langem verfolgt, allgemein gebräuchlich geworden, und er wird als Pionier des ökologischen Landbaus gefeiert. Carulla, der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag feiern konnte, gilt als Schöpfer des ersten Dachgartens der Stadt. In seinem „Schrebergarten im Himmel“ gibt es jedoch weit mehr als die üblichen Tomatenpflanzen und Geranientöpfe. Er beherbergt mehr als 40 Obstbäume, Weinstöcke, die jedes Jahr 100 Kilo Trauben hervorbringen, Oliven, Pfirsiche, Feigen, Knoblauch, Auberginen und sogar Kartoffeln. Die Kar
Kartoffeln sind seine Leidenschaft.„Der spanische Bürgerkrieg hat mich zum Vegetarier gemacht, erst aus Notwendigkeit, dann aus Überzeugung, Kartoffel für Kartoffel“, erzählt er. „Zum Frühstück gab es Kartoffeln, mittags noch mehr Kartoffeln mit einem Ei, das ich mit meinem Vater teilte. Abends dann Kartoffeln mit Gemüse.“Unter einer Weinrebe auf einem umgedrehten Bierkasten sitzend – mit leuchtenden Augen und einem erstaunlich scharfen Gehör und Gedächtnis – erinnert er sich an die Welt, in der er aufgewachsen ist, und wie er sich in den 1950er Jahren für den Vegetarismus interessierte, als er von Juneda, einem Dorf mit rauem Klima im katalanischen Hinterland, nach Barcelona zog.14 Jahre baute Joan Carulla an „seiner Sagrada Família“Sein Ansatz in der Landwirtschaft ist das, was wir heute als ökologisch bezeichnen, aber Carulla betont, dass er nichts Neues macht und arme Bauern schon immer aus der Not heraus ökologische Landwirtschaft betrieben haben. „Meine Großeltern hatten wenig Land und kein Geld für Dünger“, sagt er. „Sie benutzten tierische und pflanzliche Abfälle und Stroh. Wir lebten sehr genügsam. Wir haben nicht gehungert, wir haben einfach gelebt.“Wie seine Vorfahren stellt Carulla Kompost aus allem her, auch aus alten Zeitschriften und Obstkisten aus dünnem Holz. „Es gibt fast nichts, was wir nicht verwenden, alles zersetzt sich irgendwann.“Mit seiner Familie und einem Team von Bauarbeitern aus Juneda baute er 14 Jahre lang an dem Wohnblock, den er scherzhaft „unsere Sagrada Família“ nennt, nach Barcelonas berühmter Basilika, deren Bau Jahrzehnte dauerte und immer noch unvollendet ist.Sie verstärkten die Terrasse mit einer doppelten Schicht von Fliesen und Platten aus undurchlässigem Material und installierten ein unterirdisches Entwässerungsnetz, das 70 Tonnen Erde in einer Tiefe von 25 Zentimetern aufnehmen kann. Sie schufen ein System zum Auffangen und Speichern von 9.500 Litern Regenwasser, um Reserven für Trockenperioden zu haben, wobei sie während der beinahe drei Jahre andauernden Dürre in Katalonien kaum ausreichten.Sein Leben hielt er auf einer Olivetti-Schreibmaschine festAuf seiner langen Reise durch das Leben hat Carulla seine Gedanken auf einer manuellen Olivetti-Schreibmaschine festgehalten, für die sein Sohn Toni in der Stadt immer wieder Ersatzfarbbändern aufspüren musste. Diese Gedanken sind nun in einem Buch zusammengefasst worden, Mi siglo verde (dt. „Mein grünes Jahrhundert“) von Carlos Fresneda, dem Londoner Korrespondenten der Zeitung El Mundo. Darin befasst sich Carulla mit Themen wie Vegetarismus, was eine gute Kartoffel ausmacht, dem Agrochemie-Riesen Monsanto, gentechnisch veränderten Pflanzen und dem spanischen Bürgerkrieg. Er erzählt seine Geschichte auch in einem Video, das von der Dokumentationsfirma Otoxo Productions in Barcelona gedreht wurde.Der Krieg machte ihn aber nicht nur zum Vegetarier, sondern auch zum Pazifisten. Er war 15 Jahre alt, als Juneda von faschistischen Kampfflugzeugen bombardiert und beschossen wurde. Carulla spricht voller Schmerz über die 117 Menschen, die in dem Dorf getötet wurden, und darüber, wie die Repressalien von beiden Seiten am Ende des Krieges den Geist seines Vaters brachen und seine Mutter in ein frühes Grab trieben.„Sie war eines der stillen Opfer des Krieges“, sagt er. „Ich glaube, sie ist vor Schmerz und Leid gestorben.“ Er spricht auch darüber, wie er im Alter von 10 Jahren eine Erleuchtung hatte, als er schwor, un generador de amor (jemand, der Liebe erzeugt) zu werden. „Ich weiß nicht, woher dieser Ausdruck stammt, aber ich beschloss, dass ich die Liebe in allen Menschen erzeugen muss, die universelle Liebe.“Worauf Joan Carulla seine Langlebigkeit zurückführtEr führt seine Langlebigkeit darauf zurück, dass er nie geraucht oder Alkohol getrunken hat, dass er sich vegetarisch ernährt und „weil ich meine Arbeit als Kleinunternehmer und Landwirt immer genossen habe, im täglichen Kontakt mit meinen geliebten Pflanzen, und weil ich Neid und Hass aus meinem Geist verbannt habe“.„Ich lebe seit fast 70 Jahren in der Stadt, aber ich habe die Hände eines Landwirts, und darauf bin ich stolz“, sagt er, „auch wenn es scheint, dass meine Hände nach so vielen Jahren der Bodenarbeit nicht dafür gemacht sind, auf einem Handy zu scrollen.“Eine seiner größten Freuden ist es, wenn Schulen Besuche in seinem Garten organisieren. „In den letzten 15 Jahren sind Dutzende von Kindern hier vorbeigekommen. Es war ein Traum von mir, als ich diesen Kleingarten angelegt habe, ein Stück Land in der Stadt zu schaffen, um Kindern die Liebe zu Pflanzen beizubringen.“