Führende Politiker weltweit behindern Waffenruhe in Gaza aus Eigeninteresse
Meinung Netanjahu weiß, warum er einen Waffenstillstand verhindert. Die Hamas-Führung kümmert sich wenig um das große Leid seit dem 7. Oktober. Und besonders US-Präsident Biden macht den taktischen Fehler, vor den Wahlen den großen Wurf zu wollen
Ein israelischer Panzer an der Grenze zum südlichen Gazastreifen
Foto: Jack Guez/AFP/Getty Images
Die Menschen im Gazastreifen rufen nach einer Waffenruhe. Jeder Tag bringt mehr Blutvergießen, mehr Zerstörung, Hunger, Krankheit und Tränen. Sprechen wir es deutlich aus: 28.000 Palästinenser sind tot; insgesamt gibt es rund 100.000 Verletzte oder Vermisste. Unter den Überlebenden sind viele Kinder, die verstümmelt sind, zu Waisen gemacht wurden, fürs Leben traumatisiert bleiben.
Weltweit fordern Demonstranten einen Waffenstillstand. Sie appellieren an Politiker, mehr zu tun, das Gemetzel jetzt zu stoppen. In Moscheen, Kirchen, Synagogen beten Menschen aller Glaubensrichtungen dafür, dass das Abschlachten ein Ende hat. Den 1.200 Toten in Israel vom Oktober werden täglich die verlorenen Leben von Soldaten hinzugefügt, die ausgeschickt sind,
ckt sind, sie zu rächen.Den Vereinten Nationen gehen die Adjektive aus, um den Horror in Gaza zu beschreibenArabische und europäische Regierungen, die USA, Russland, China und Iran wollen alle eine Waffenruhe oder ein Waffenstillstandsabkommen oder eine „humanitäre Pause“ – zumindest sagen sie, dass sie das wollen. Die Huthi im Jemen ebenso wie irakische und syrische Milizen versprechen, dass eine Feuerpause ihre destabilisierenden Angriffe beenden würde. Zudem würde ein Waffenstillstand das Risiko eines katastrophalen, eskalierenden regionalen Krieges verringern. Die globale Sicht scheint klar. Es gibt einen internationalen Konsens, wiederholt ausgedrückt durch die UN, deren Organisationen die Adjektive ausgehen, um den Horror in Gaza zu beschreiben.Dieser Krieg ist unmenschlich, unmoralisch und ungerecht, und er ist enorm schädlich, ökonomisch wie politisch. Eine Schande für uns alle, die gestoppt werden muss – jetzt, sofort. Was also hält da auf? Warum gibt es immer noch keinen Waffenstillstand?Für die Palästinenser, die im Gazastreifen festsitzen, wie für die Familien der Geiseln ist das eine unerträgliche Situation. Nachdem die Hamas am Wochenende ein Angebot vorgelegt hat, steigt der Optimismus gerade wieder.Aber selbst angenommen, man würde sich auf die komplexen Bedingungen eines begrenzten Deals einigen. Welche realistische Aussicht besteht, dass er halten wird, geschweige denn, dass er einen breiteren Frieden bringt? Das Grundproblem ist nicht der Mechanismus eines Waffenstillstands, sondern die stark auseinandergehenden, scheinbar unvereinbaren kurz- und langfristigen Agenden der betroffenen Parteien. Und kein Deal kann ein grundsätzliches Fehlen von Vertrauen beseitigen.Unklugerweise verknüpft US-Präsident Joe Biden ein Gaza-Abkommen mit seinem überambitionierten Versuch, eine umfassendere Lösung für den Nahen Osten zu schmieden. Im ersten Schritt möchte das Weiße Haus eine „anhaltende Pause der Kampfhandlungen“, ist aber derzeit noch gegen einen unbefristete „generellen Waffenstillstand“, weil man – dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu nachplappernd – die Gefahr sieht, dass die Hamas dann unbesiegt und an der Macht bleiben könnte.Bidens langfristiges „großes Abkommen“ beinhaltet letztlich, dass Israel einen vagen „politischen Horizont“ dafür akzeptiert, dass die Palästinenser nach einem unabhängigen Staat streben. Und doch ist für Washington die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien – nicht palästinensische Selbstbestimmung – der größere, unmittelbarere und verlockendere Preis.Biden braucht für die US-Wahlen einen großen außenpolitischen Erfolg Solange Biden sich weigert, Netanjahu entgegenzutreten, ist die Hebelwirkung der USA begrenzt. Und falls Donald Trump im November triumphiert, wird die US-Unterstützung für Netanjahu wahrscheinlich bedingungslos werden, wie Trumps Kumpel Netanjahu sehr genau weiß. Bidens Plan reflektiert, dass er für die anstehenden US-Wahlen einen großen außenpolitischen Erfolg braucht. Dabei beachtet er nicht ausreichend, was um der Gerechtigkeit willen eigentlich erforderlich ist – nämlich jetzt mit einem umfassenden Waffenstillstand zu beginnen.In Israel hält sich der unpopuläre Netanjahu nur knapp an der Macht. Die Forderung der Hamas nach einem dauerhaften Waffenstillstand lehnt er rundweg ab, da dies sein törichtes, oft wiederholtes Versprechen, den Feind zu vernichten und den „totalen Sieg“ zu erringen, zunichte machen würde. Sein Ziel, die israelische Sicherheitskontrolle über den Gazastreifen unbefristet aufrechtzuerhalten, würde ebenfalls unmöglich gemacht. Allein den Gedanken an einen palästinensischen Staat verabscheut er.Entgegen seinem Versprechen hat militärischer Druck die Geiseln nicht befreit. Nach vier Monaten ist die Hamas nicht besiegt – und viele israelische Soldaten sind gestorben. Zusätzlich zum Versagen der Sicherheitsmechanismen am 7. Oktober sollte das genug sein, um Netanjahu untergehen zu lassen. Ein länger als ein paar Wochen anhaltender Waffenstillstand und der daraus resultierende Druck, ihn dauerhaft zu machen, würde in jedem Fall dazu führen, dass rechtsextreme Minister seine Regierungskoalition zum Einsturz bringen. In erster Linie aus egoistischen politischen Gründen wird Netanjahu also, wenn möglich, alles außer einem bescheidenen Austausch von Geiseln gegen Gefangene ablehnen und wahrscheinlich auf einer streng zeitlich begrenzten Kampfpause bestehen.Was solche zynischen Kalkulationen angeht, ist er bei weitem nicht allein. Die Anführer der Hamas sind ebenfalls gespalten zwischen denen in Gaza, die erschöpft eine sofortige Waffenruhe wollen, und denen mit Sitz in Doha, die für einen besseren Deal Druck machen, der die Freilassung tausender „Sicherheitshäftlinge“, die Finanzierung des Wiederaufbaus und einen kompletten Rückzug der israelischen Armee beinhaltet.Die Geschichte der Palästinenser ist ein langer SchreiDie politischen Anführer der Hamas im Exil, besonders Ismail Haniyya, haben sich keineswegs um das unermessliche Leid gekümmert, das dem Anschlag vom 7. Oktober folgte. Ob er oder der Hamas-Kommandeur in Gaza, Jahja Sinwar, ihn angeordnet hat, ist umstritten. Seitdem versucht Haniyya, den größtmöglichen politischen Vorteil daraus zu ziehen und gleichzeitig seine eigene Sicherheit zu schützen. Warum also gibt es keine Waffenruhe? Die schlichte Antwort ist, dass eigennützige, ängstliche und wenig tatkräftige politische Führer sie behindern. Eines Tages, hoffentlich bald, werden die Waffen in Gaza schweigen, wenn auch nur, weil irgendwann alle Kriege zu Ende gehen. Aber wie lang die Stille dann andauern wird, ist eine komplett andere Frage. Die Geschichte des palästinensischen Volkes ist ein langer Schrei vor Wut und Schmerz. Pflaster darauf zu kleben, wird nicht helfen. Hinterzimmerabsprachen und faule Kompromisse werden scheitern. Ohne einen glaubwürdigen, international unterstützten Plan und einen festen Zeitplan für die Schaffung eines unabhängigen palästinensischen Staates wird der Schrei nicht aufhören.
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