UNRWA im Israel-Gaza-Krieg: Eine extreme Herausforderung
Vereinte Nationen Die Organisation UNRWA steht unter enormem Druck. Mitarbeiter sollen in Terrorakte der Hamas verwickelt sein. Was wird nun aus der Hilfe für die Palästinenser?
Seit 1949 betreut die UNRWA palästinensische Flüchtlinge. So lange gibt es auch schon das Flüchtlingslager in Chan Yunis
Foto: Ahmad Hasaballah/Getty Images
Zwölf Mitarbeiter des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) sollen am Massaker der Terrororganisation Hamas an israelischen Zivilist:innen am 7. Oktober 2023 beteiligt gewesen sein. Das erfuhr der UNRWA-Chef Philippe Lazzarini am 18. Januar vom israelischen Außenministerium. Der Schweizer informierte den UN-Generalsekretär António Guterres sowie US-Beamte und entließ beschuldigte Mitarbeiter fristlos; gleichzeitig wurde eine interne Untersuchung veranlasst. Das UN-Hilfswerk machte die Anschuldigungen selbst auch publik.
Die internationale Reaktion erfolgte prompt: Die USA, größter Einzelgeldgeber des UNRWA, setzten ihre Zahlungen aus, einige europäische Mitgliedsstaaten und Kanada folgten. Deutschland, das
ten ihre Zahlungen aus, einige europäische Mitgliedsstaaten und Kanada folgten. Deutschland, das seine Unterstützung seit Beginn des Krieges auf mehr als 200 Millionen Euro verdreifacht hat, suspendierte neue Zahlungen, bis das Ergebnis der internen Untersuchung abgeschlossen ist. Eine zweite, unabhängige Expertengruppe unter der Leitung der ehemaligen französischen Außenministerin Catherine Colonna will bis Mitte März einen ersten Zwischenbericht vorlegen.Für das UNRWA könnte das Einfrieren von mehr als 440 Millionen US-Dollar schon Ende Februar das Aus bedeuten – und für die Bevölkerung im Gazastreifen den Zusammenbruch der dringender denn je benötigten humanitären Hilfe nach vier Monaten Krieg. Das UNRWA versorgt die leidende Zivilbevölkerung mit Nahrungsmitteln und Trinkwasser, liefert Benzin an die wenigen noch halbwegs operierenden Krankenhäuser, kümmert sich um die hygienischen Zustände an 154 Anlaufstellen, wo Hunderttausende durch den Krieg Vertriebene Zuflucht gefunden haben, versorgt Verletzte und Kranke in seinen Gesundheitszentren.Ein politisches Faustpfand gegen IsraelDer Tätigkeitsbereich des UNRWA erstreckt sich neben Gaza auch auf palästinensische Flüchtlinge in der Westbank, Jordanien, Syrien und im Libanon; das Hilfswerk beschäftigt 30.000 Mitarbeiter:innen. 1949 gegründet, war die UN-Organisation zunächst für eine Übergangszeit geplant, bis das Problem der Palästina-Flüchtlinge gelöst wäre. Als Flüchtlinge gelten seit 1952 all jene, deren „Wohnsitz zwischen 1. Juni 1946 und 15. Mai 1948 in Palästina war und die infolge des 1948er-Konflikts sowohl ihren Wohnsitz als auch ihren Lebensunterhalt verloren“. Im Völkerrecht verankert und durch die UN-Resolutionen 194 (III) von 1948 und 2252 von 1967 bestätigt, sind das Personen, die aus dem Staatsgebiet Israel oder den von Israel besetzten Gebieten vertrieben wurden und nicht zurückkehren konnten.Die Mehrzahl der Flüchtlinge lebt bis heute in verarmten Verhältnissen. Die meisten wollen ihren Flüchtlingsstatus nicht aufgeben, solange es keinen palästinensischen Staat gibt – und ihre Gastgeberländer nutzen dies als politisches Faustpfand gegen Israel. Der Flüchtlingsstatus der ursprünglich Vertriebenen wird gemäß internationalem Recht wie in allen langwierigen Flüchtlingssituationen – zum Beispiel Afghanistan oder Somalia – an die Nachkommen der männlichen Flüchtlinge weitervererbt, um den Familienzusammenhalt zu wahren; Anspruch auf Hilfe haben aber nur jene, die im Operationsbereich des UNRWA leben. Die ursprüngliche Zahl von 750.000 ist deshalb in den 75 Jahren des Bestehens des Hilfswerks auf 5,9 Millionen angestiegen. Die Frage des in internationalem Recht verankerten Rückkehrrechts war stets eines der Haupthindernisse bei arabisch-israelischen Friedensverhandlungen, fürchtet Israels Establishment doch um die jüdische Mehrheit in seinem Staat.Im Gazastreifen leben auf engstem Raum 2,2 Millionen Palästinenser:innen, davon sind 1,7 als Flüchtlinge beim UNRWA registriert. Vor dem jetzigen Krieg betrieb das UNRWA dort 183 Schulen mit über 300.000 Schüler:innen und 22 Gesundheitszentren. Es versorgt 1,2 Millionen Menschen mit Grundnahrungsmitteln und betreibt die dafür erforderliche umfangreiche Logistik. Keine andere Organisation könnte die Infrastruktur des UNRWA ersetzen.Für UNRWA größte Notlage seit 1967Vier von fünf Menschen in Gaza leben in Armut, die Arbeitslosigkeit beträgt fast 50 Prozent. Vor allem junge Menschen sind betroffen, die Mehrheit der Bevölkerung besteht aus Kindern und Jugendlichen. Das UNRWA ist außerdem für Reparaturen in den Flüchtlingslagern zuständig und bietet Mikrofinanzierungen für Arme und Kleinunternehmer:innen. Allein im Gazastreifen beschäftigt das Hilfswerk 13.000 Mitarbeiter. Dem UN-Standardverfahren gemäß übermittelt es die Liste seiner Angestellten jährlich an die israelische Regierung. 152 seiner Mitarbeiter:innen sind bereits Opfer der Kriegshandlungen geworden. Insgesamt sollen mittlerweile über 27.000 Palästinenser:innen, überwiegend Frauen und Kinder, getötet worden sein. Das UNRWA ist mit der größten Notlage seit 1967 konfrontiert, mit erheblichen Herausforderungen und extrem gefährlichen Arbeitsbedingungen.Im israelisch-palästinensischen Konflikt hat das Hilfswerk schon viele Krisen überlebt, doch keine war so brisant wie diese. Schon 2018 stoppte die US-Administration unter Donald Trump die Fördergelder für das UNRWA, rund ein Drittel des Gesamtbudgets. Die Begründung lautete, die UN-Organisation verlängere das Flüchtlingsproblem, anstatt es zu lösen.Die stärksten Ressentiments kommen indes aus Israel. Die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu pflegt wie all ihre Vorgängerregierungen ein ambivalentes Verhältnis zum UNRWA. Sie verabscheut das Hilfswerk, braucht es aber auch. Einerseits wird das Hilfswerk als feindlich betrachtet, weil es die humanitären Interessen der palästinensischen Flüchtlinge vertritt; andererseits leistet es quasistaatliche Aufgaben, die ansonsten von der Besatzungsmacht Israel übernommen werden müssten, so bestimmen es die Genfer Konventionen. Obwohl Israel sein Militär und seine Siedler 2005 aus dem Gazastreifen abzog, kontrolliert es das 365 Quadratkilometer kleine Gebiet weiterhin an den Außengrenzen, vom Meer und aus der Luft.UNRWA fungiert als Sündenbock Israel und PalästinaNachdem Hamas 2007 in Gaza an die Macht kam, verhängte Israels Regierung eine vollständige Blockade, deren Anfänge in die frühen 1990er Jahre zurückreichen und die die Bevölkerung ökonomisch an den Rand des Kollapses trieb. Das UNRWA arbeitet eng mit den israelischen Behörden zusammen. Es war stets der Puffer, ohne dessen Hilfe Gaza nicht lebensfähig gewesen wäre. Es gibt auch Kritiker, die darin indirekt eine Verwaltung der Besatzung sehen, weil die Palästinenser:innen in einem Abhängigkeitsverhältnis zum UNRWA bleiben, statt um ihre Unabhängigkeit zu kämpfen und Israel für die Folgen der Besatzung in die Verantwortung zu nehmen.Es ist nicht das Mandat des UNRWA, Lösungen herbeizuführen, vielmehr hilft es, solange der Konflikt ungelöst ist. Auch deshalb fungiert es oft als Sündenbock für die israelischen und zugleich für die palästinensischen Gegner. Das UNRWA hat Neutralität zu üben und die Werte von Menschlichkeit und Gleichheit zu fördern.In seinen Schulen muss es die Lehrbücher der Gastländer nutzen, in Gaza und der Westbank also diejenigen der Palästinensischen Autonomiebehörde. Es untersucht diese auf diskriminierende, intolerante oder aufwiegelnde Inhalte, muss mit ihnen aber umgehen, ändern kann es sie nicht. Im Schuljahr 2018 – 2019 widersprachen 3,6 Prozent der Schulbuchseiten den Werten der Vereinten Nationen. UNRWA-Lehrer werden jedoch nicht nur mittels Begleitmaterial geschult, mit problematischen Inhalten umzugehen. Wie alle Mitarbeiter:innen des Hilfswerks müssen sie Kurse in Neutralität, Ethik und Geschlechtergerechtigkeit absolvieren. In den sozialen Medien dürfen sie auch privat nichts veröffentlichen, was mit der Neutralität der UN unvereinbar ist. Kurzum, das Hilfswerk steht unter strenger Kontrolle. Seit einiger Zeit nutzt es deshalb den eigentlich korrekten Begriff „Besatzung“ in seinen Veröffentlichungen nicht mehr.Von Wien nach GazaDie Mehrzahl der UNRWA-Mitarbeiter sind palästinensische Flüchtlinge. Im Zuge der Oslo-Friedensvereinbarungen von 1993 wurde das Hauptquartier von Wien nach Gaza verlegt, in der Annahme, die Palästinenser:innen würden ihre Geschäfte künftig selbst führen. Es kam jedoch anders, nach der Machtübernahme von Hamas 2007 wurde der Großteil des nicht palästinensischen Personals aus Gaza nach Jordanien abgezogen und Gaza zunehmend vom Rest der Welt isoliert. Am Ort blieb überwiegend palästinensisches Personal, also vom Konflikt persönlich Betroffene. In einem Umfeld höchster Feindseligkeit neutral zu bleiben, ist für jeden eine extreme Herausforderung.Die jetzt verfügten Zahlungsstopps bedeuten, die Hilfsbedürftigen für die möglichen kriminellen Handlungen einiger Mitarbeiter zu bestrafen. Ihnen die überlebensnotwendige Hilfe zu verwehren, ist Aktionismus, der symbolisch für das allgemeine Chaos ist. 2018 konnte das UNRWA ohne die amerikanischen Gelder weiteroperieren, weil andere Staaten finanziell einsprangen. Derzeit haben etwa Norwegen und Portugal ihre Zahlungen erhöht, Norwegen hat das UNRWA sogar für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Doch die Kritik reißt nicht ab. Es heißt nun gar, zehn Prozent der Angestellten des UNRWA stünden mit Hamas und dem Islamischen Dschihad in Verbindung. „Es ist an der Zeit, dass die internationale Gemeinschaft und die UNO selbst begreifen, dass die Mission des UNRWA beendet werden muss. Das UNRWA erhält sich selbst aufrecht. Es erhält sich selbst aufrecht, auch in seinem Wunsch, das palästinensische Flüchtlingsproblem am Leben zu erhalten“, sagte Netanjahu gegenüber UN-Diplomaten. Das UNRWA sei von Hamas vollkommen infiltriert.Beobachter vermuten einen Zusammenhang zwischen der gegenwärtigen Offensive und Südafrikas Völkermord-Vorwürfen gegen Israel. Denn am selben Tag, als UNRWA-Mitarbeiter der Komplizenschaft mit Hamas beschuldigt wurden, stufte der Internationale Gerichtshof (IGH) Südafrikas Klage als teilweise „plausibel“ ein. Er rief die israelische Regierung dazu auf, die Bevölkerung Gazas vor genozidalen Handlungen zu schützen und humanitäre Hilfe sicherzustellen. Israelische Anwälte hätten das kommen sehen, sagt Lex Takkenberg, und wären deshalb wohl zum Gegenangriff übergegangen. „Sie konnten schlecht den IGH angreifen und kritisierten stattdessen das UNRWA, auf dessen Lageberichte Südafrikas Anklage teilweise beruht“, so der ehemalige Ethik-Beauftrage des UNRWA.Schon immer agierte das UNRWA im Morast der ungelösten Probleme des Nahen Ostens – geliebt, gehasst, benötigt und beschimpft. Abgesehen davon, dass bisher niemand weiß, wie es mit der Bevölkerung in Gaza nach der massiven Kriegszerstörung überhaupt weitergehen soll, scheint nun in Frage zu stehen, ob das UNRWA selbst überdauert, sollte sich tatsächlich bewahrheiten, dass Mitarbeiter an den Terrorakten gegen Israelis beteiligt waren. Doch selbst die israelische Regierung weiß, dass es ohne das UNRWA nicht geht – es sei denn, eine dauerhafte politische Lösung führt endlich zu dessen Auflösung.
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