„Jedes Opfer ist eine Lügnerin“: Skandale um sexuelle Gewalt in Italien
Sexismus Oberflächlich hat Italien in der Gleichstellung Fortschritte gemacht. Doch zwei öffentlichkeitswirksame Fälle zeigen aktuell, wie sehr sexualisierte Gewalt gegen Frauen immer noch heruntergespielt und gesellschaftlich legitimiert wird
In Solidarität mit den mutmaßlichen Opfern der jüngsten Fälle sexueller Gewalt gegen Frauen in Italien
Foto: Imago/Abacapress
Die Nachrichten in Italien wurden diese Woche von zwei Skandalen um sexuelle Gewalt beherrscht. In dem einen wird gegen den Sohn des Senatssprechers, Straßenkampf-Politiker Ignazio La Russa, wegen Vergewaltigung ermittelt. In einem anderen Fall wurde ein 66-jähriger Hausmeister einer Schule, der seine Hände von hinten in die Unterwäsche einer 17-jährigen Schülerin aus Rom steckte, freigesprochen, weil der Übergriff nur „zwischen fünf und zehn Sekunden“ dauerte.
Beide Fälle haben gezeigt, dass Italien nicht in der Lage ist, das Thema ernst zu nehmen. Nachdem bekannt wurde, dass eine 22-jährige Frau seinen Sohn angezeigt hatte, erklärte La Russa, sie hätte Kokain genommen, bevor sie im Mai den Mailänder Club Apophis
b Apophis besuchte, woraufhin die Zeitung Libero die verschreibungspflichtigen Medikamente des angeblichen Opfers enthüllte. Die Unterstellung: Es sei ihre eigene Schuld, wenn sie sich an nichts erinnere, was zwischen dem Angebot eines Drinks in dem Club und dem Aufwachen in La Russas Bett geschah (zu diesem Zeitpunkt wurde ihr mitgeteilt, dass sie auch mit einem anderen Mann Sex gehabt habe).Solche Opferverleumdungen sind bei Vergewaltigungsprozessen an der Tagesordnung: 2017 sprach ein Gericht in Ancona zwei Männer von der Vergewaltigung einer 22-jährigen Peruanerin frei, weil sie sagten (und die Richter stimmten ihnen zu), dass sie „hässlich“ sei. In einem berühmten Fall aus dem Jahr 1999 wurde ein Mann vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen, weil das Opfer enge Jeans trug, die sie angeblich nicht ohne ihr eigenes Zutun hätte ausziehen können.Die Geschichte mit dem Schulhausmeister gewann diese Woche an Fahrt, als viele Italiener:innen 10-Sekunden-Videos von sich selbst veröffentlichten, um zu zeigen, wie lang diese Zeitspanne sein kann. Das anzusehen war verstörend, machte aber auch deutlich, dass der Schutz von Frauen in Italien eine sehr niedrige Priorität hat. „Tut mir leid, wenn ich vulgär bin“, sagte eine sonst eher ruhige Freundin von mir in Parma, „aber warum nehmen wir nicht einen Besenstiel und schieben ihn dem Richter in den Arsch, nur für 10 Sekunden, und schauen, ob er immer noch denkt, dass das kein sexueller Übergriff ist“.Silvio Berlusconi etablierte eine Kultur der Sexualisierung von FrauenDas Land ist eindeutig Jahrzehnte hinter der Gleichstellungskurve zurück. Kurz nach meinem Umzug nach Parma war ich erstaunt, dass die Miss-Italia-Schönheitswahl 2000 fast 12 Millionen Zuschauer:innen anlockte. Das Trash-TV schien zu bestätigen, dass Geilheit normal ist: In den Sendungen wurden immer ältere Männer gezeigt, die von jungen Frauen in Bikinis umgeben waren, die mit kindlichen Spitznamen bedacht wurden.Der verstorbene Medienmogul Silvio Berlusconi hat nicht nur diese obszönen Begaffungs-Programme geschaffen, sondern auch dazu beigetragen, dass das Land seinen moralischen Kompass verloren hat: Seine „Bunga-Bunga“-Orgien und seine ständigen Witze über „Huren“ und „Schwuchteln“ suggerierten, dass sexueller und sprachlicher Anstand ungestraft verletzt werden können.Wenn ich feministische Freundinnen frage, ob Italien vielleicht nicht schlimmer ist als andere Länder, sagen sie mir, dass es in Italien wirklich so schlimm ist. „Der Sexismus hier ist systemisch. Wir haben an allen Fronten Rückschritte gemacht“, sagt Cecilia, eine Freundin aus Turin. Es handelt sich nicht nur um zufälligen Sexismus, sagt sie, sondern um ein Machtsystem, das Frauen ständig verunglimpft. „Institutionelle Figuren sagen automatisch, dass jedes Opfer ein:e Lügner:in ist“.Im Jahr 2021 veröffentlichte Beppe Grillo, der Komiker und Gründer der Fünf-Sterne-Bewegung (der verrückten politischen Partei), ein wütendes zweiminütiges Video, nachdem sein Sohn beschuldigt wurde, an einer Gruppenvergewaltigung im Jahr 2019 beteiligt gewesen zu sein. (Der Prozess läuft noch.) „Es ist überhaupt nicht wahr, dass es eine Vergewaltigung gab“, schrie Grillo in die Kamera in Richtung der Ermittler:innen. „Jemand, der morgens vergewaltigt wird und nachmittags zum Kitesurfen geht und die Vergewaltigung erst nach acht Tagen anzeigt, kommt Ihnen seltsam vor, [weil] es seltsam ist.“Beschuldigt werden die Opfer, nicht die mutmaßlichen TäterNach dem 2022 stattfindenden Treffen der Alpini, der viel bewunderten Gebirgsjäger:innen-Infanterie Italiens, meldeten sich mehr als 170 Frauen und berichteten von Übergriffen, die von Catcalling bis hin zu Klapse auf den Hintern, Berührungen und Beleidigungen reichten. Die meisten Alpini leugnen immer noch die Schwere der Vorwürfe. „Es liegt daran, wie sie sich anziehen“, sagte einer. „Sie geben sich provokant und spielen dann das Opfer“, sagte ein anderer.Die Missachtung der Opfer zeigt sich sogar dann, wenn Politiker:innen vorgeben, sich auf ihre Seite zu stellen. Im August letzten Jahres teilte Giorgia Meloni, die heutige Ministerpräsidentin, ein verschwommenes Video, in dem zu sehen ist, wie eine ukrainische Frau in Piacenza sexuell angegriffen wird, um darauf hinzuweisen, dass der mutmaßliche Täter ein Asylbewerber war. Vergewaltigung ist immer das emotional aufgeladene Thema, auf das sich rechtsextreme Parteien zuerst stürzen, wenn sie eine moralische Panik gegen Migrant:innen schüren wollen.Aber wenn der Beschuldigte „einer von uns“ ist, ist das eine ganz andere Geschichte. Journalist:innen von Rai News 24 (dem Sender des staatlichen Fernsehens) mussten diese Woche entsetzt feststellen, dass ihr Beitrag absichtlich manipuliert worden war, um die Schwere der Anschuldigungen gegen La Russas Sohn herunterzuspielen. Er war so verwässert, dass eine Journalistin ihren Namen aus dem Bericht zurückzog.Feministinnen der zweiten Welle tragen eine MitschuldGiulia Blasi, Mitbegründerin des italienischen #MeToo-Äquivalents #QuellaVoltaChe („Diese Zeit, als ...“) und Autorin von Handbuch für revolutionäre Mädchen, glaubt, dass ein Teil des Problems in der Unfähigkeit der Feministinnen der zweiten Welle liegt, den Stab an die nächste Generation weiterzugeben. „Unsere Mütter haben unglaublich viel geleistet und für die Legalisierung von Abtreibung und Scheidung [1978 bzw. 1970] gekämpft, aber dann wurden sie so bürgerlich und ließen sich nieder. 20 Jahre lang, in den 90er und frühen 00er Jahren, gab es um mich herum keinen Feminismus“, sagte sie.Jetzt, wo viele neue Organisationen für die Rechte von Frauen kämpfen, ist die Bewegung gespalten und verfolgt oft unpopuläre Nischenthemen.„Es gibt eine tiefe Kluft zwischen der zweiten und der dritten Welle“, sagt Blasi, wobei erstere sich schwertue, Elemente der Intersektionalität (die Verflechtung von Diskriminierungen) und der Geschlechtsidentität zu akzeptieren. Es gab auch eine Gegenbewegung gegen die inklusive Sprache (die Idee, italienische Substantive und Adjektive durch die Verwendung des Schwa-Symbols, ein kopfstehendes „e“, zu degenerieren).Oberflächlich betrachtet mag es so aussehen, als habe Italien wichtige Fortschritte in Sachen Gleichstellung gemacht: Das Land hat jetzt nicht nur eine Ministerpräsidentin, sondern mit Elly Schlein auch eine Oppositionsführerin. Die Nachrichtensendungen beginnen häufig mit Berichten über Femizide, was darauf schließen lässt, dass Gewalt gegen Frauen zumindest Teil des Mainstream-Diskurses ist. Doch der Optimismus wird immer wieder erschüttert. Bei einem anderen Urteil in der vergangenen Woche erhielt ein 43-jähriger Mann nicht die von der Staatsanwaltschaft geforderte lebenslange Haftstrafe, weil Carol Maltesi, die 26-jährige Frau, die er ermordet hatte, nach Ansicht des Richters „enthemmt“ war.„Frauen können immer für die Gewalt beschuldigt werden, die sie erleiden“, sagt Blasi. Es könnte viele Jahre dauern, um „dieses Gitterwerk der Selbstrechtfertigung der Männer“, wie sie es nennt, zu entwirren.