Amokläufe in Brasilien: Der Hass auf Frauen kommt aus den USA
Misogynie In Brasilien häufen sich die Amokläufe an Schulen. Die Täter sind jugendlich und wurden im Internet radikalisiert. Die neue Regierung unter Lula da Silva schnürt deshalb ein neues Milliardenpaket gegen die Welle der Gewalt. Wird es helfen?
Blumenau, Brasilien, Mai 2023: Gedenken an die Opfer nach dem tödlichen Amoklauf eines 25-Jährigen in einer Kita
Foto: Fábio Monteiro/Imago Images
Manaus, 10. April. Im Süden der Amazonasmetropole betritt ein Zwölfjähriger eine Privatschule. In der Hand hält er ein Messer, im Rucksack befinden sich Molotowcocktails. Zeug*innen erzählen später, wie der Junge plötzlich anfängt, auf Menschen einzustechen. Er kann überwältigt werden, zwei Schülerinnen und eine Lehrerin werden verletzt, aber niemand stirbt. Die Schule hatte Glück, woanders ging es nicht so glimpflich aus.
Im November 2022 hatte ein 16-Jähriger in der Küstenstadt Aracruz vier Menschen an zwei Schulen erschossen. Ende März erstach ein 13-Jähriger in São Paulo seine Lehrerin und verletzte mehrere Mitschüler*innen. Lange Zeit galten Amokläufe an Bildungseinrichtungen als Problem der
oblem der USA. Nun breitet sich die Epidemie auch in Brasilien aus.Die Parallelen zu den USA sind nicht von der Hand zu weisen. Auch die Angreifer in Brasilien sind meist jung, männlich und weiß. Die meisten Opfer sind Frauen oder Mädchen. Laut Augusto Jobim, Professor für Kriminalwissenschaften an der Päpstlichen Katholischen Universität von Rio Grande do Sul (PUCRS), gelten Schulen in der Wahrnehmung vieler junger Männer als „weibliche Orte“ – und somit als Ziel ihrer Misogynie. Auch in anderen Ländern wurden vor allem Frauen Opfer von Amokläufen. Anfang Mai tötete ein 13-Jähriger an einer Schule in Belgrad neun Menschen, davon acht Mädchen.In Manaus fanden die Ermittler*innen bald heraus, dass den Täter sein Hass auf Frauen antrieb und er sich im Netz radikalisiert hatte. Auch die anderen Attentäter waren in sozialen Netzwerken aktiv und hatten Kontakt zu neonazistischen Gruppen. „Der Hass auf Frauen ist im Internet eine Art Einstiegsdroge. Und die Misogynie schweißt Männer in virtuellen Gemeinschaften zusammen“, sagt Lola Aronovich, Literaturprofessorin an der Bundesuniversität von Ceará, Bloggerin und feministische Aktivistin, dem Freitag.Seit vielen Jahren beobachtet sie antifeministische Gruppen im Netz. Deshalb wird sie seit 13 Jahren bedroht, ist Teil eines Schutzprogramms ihres Bundesstaates. „Mein Rekord war es, drei Wochen lang keine Morddrohung zu erhalten.“ Ein 2018 verabschiedetes Gesetz gegen Hass im Netz trägt ihren Namen: Lei Lola, das Lola-Gesetz.„Werde zum Helden“Laut einer vom Instituto Papo de Homem durchgeführten Umfrage gaben sieben von zehn Jungen im Alter von bis zu 17 Jahren an, mit einer emotionalen Störung wie Angstzuständen und Depressionen zu kämpfen. Vielen jungen Männern fehlt es zudem an Zuneigung und psychosozialer Betreuung. Das macht sie laut Expert*innen anfällig für radikale Antifeministen im Netz. Die Amokläufe seien nur der Höhepunkt einer ganzen Reihe von Schritten.„Es ist nicht so, dass ein junger Mann aufwacht und sich spontan entschließt, Menschen zu ermorden“, meint die Forscherin Aronovich. Im Darknet hören sogenannte Rekrutierer den Jugendlichen zu, spielen vor, sie zu verstehen. Wenn sich die jungen Männer beweisen, werden sie in exklusivere Gruppen aufgenommen. „Im Netz bekommen junge Männer zu hören: ‚Wenn du dich umbringen willst, nimm noch ein paar Mitschüler mit, so wirst du zum Helden.‘“Nicht nur in den Untiefen des Internets sammelt sich allerlei antifeministischer Hass, sondern auch auf den Profilen von Influencern mit Tausenden von Followern. Einer davon ist Thiago Schutz, selbsterklärter Coach. Er predigt männliche Überlegenheit, verherrlicht sexuelle Übergriffe und bedroht Feminist*innen. Zudem definiert er sich selbst als Sprecher der „Redpiller“ in Brasilien.Die Bewegung bezieht sich auf den Film Matrix, in dem der Protagonist Neo vor der Wahl steht. Rote Pille: das Leben so sehen, wie es wirklich ist. Blaue Pille: weiterhin in einer Welt der Illusionen leben. Die Redpiller sehen sich zugleich als Erleuchtete wie auch als Opfer des Feminismus. Misserfolge werden Frauen oder LGBTIQ zugeschoben. Damit gibt es etliche Anknüpfungspunkte zur Incel-Szene, einer in den USA geborenen Internet-Subkultur.Die größte Incel-PlattformDer Begriff „Incels“ setzt sich aus den englischen Wörtern „involuntary“, also unfreiwillig, und „celibates“, zölibatär, zusammen. Diesen Männern gelingt es laut eigener Aussage nicht, Beziehungen zu führen. Neben Selbsthass führt das auch zu einem extremen Hass auf Frauen – und nicht selten zu Gewalt. Am 23. Mai 2014 tötete ein 22-Jähriger sechs Menschen in der Nähe einer Universität in Kalifornien. In seinem Manifest schwadronierte der Täter von einem „Krieg gegen Frauen“ und beschrieb seine Tat als Rache dafür, dass Frauen ihm Sex vorenthalten würden.Trends werden in den USA geboren, machen aber auch schnell im internetverrückten Brasilien die Runde. Laut einem Bericht des britischen Center for Countering Digital Hate gehört der südamerikanische Staat zu den Ländern mit den höchsten Nutzerzahlen auf der größten Incel-Plattform. Trotz allem wird Misogynie als Tatmotiv meist ignoriert und Mobbing als Haupterklärung genannt.Mobbing ist tatsächlich ein ernstes Problem in Brasilien: Einem OECD-Bericht zufolge gaben 28 Prozent der Schulleiter*innen an, Mobbing unter Schüler*innen beobachtet zu haben. Das ist doppelt so viel wie der Durchschnitt in anderen Ländern. Außerdem auffällig: das Alter der Attentäter. Eine Recherche der New York Times zeigt, dass in den nuller Jahren die meisten Amokläufe von Männern zwischen 25 und 45 Jahren durchgeführt wurden.Die Täter werden immer jünger, heute sind viele minderjährig. „Eine neue Generation des Hasses“, meint Aronovich. Das hängt vor allem mit dem Internet zusammen. Es gibt Hunderte, wenn nicht Tausende Gruppen und Foren, in denen Internetnutzer Amokläufern huldigen und sich gegenseitig zu Taten anstiften. Der 13-jährige Schüler, der im März einen Amoklauf in São Paulo verübte, kündigte seine Tat auf Twitter an. Die Amokläufe stehen auch im direkten Zusammenhang mit dem Anstieg des Neonazismus. Recherchen der mittlerweile verstorbenen Anthropologin Adriana Dias zeigen, dass immer mehr Neonazi-Zellen in Brasilien aktiv sind.Die neue Regierung setzt auf alte RezepteIn ihrer letzten Erhebung stellte sie 530 Neonazi-Zellen im Land fest – ein Anstieg um 270 Prozent zwischen Januar 2019 und Mai 2021. Mehrere Schulattentäter trugen Hakenkreuz-Binden und eine in Neonazi-Kreisen beliebte Totenkopf-Sturmhaube und waren in rechtsextremen Online-Foren aktiv. Weiße Vorherrschaft, Sexismus, Transfeindlichkeit – es ist eine giftige Mischung, die die jungen Männer antreibt. Auch der ultrarechte Ex-Präsident Jair Bolsonaro habe radikalen Antifeministen Auftrieb gegeben. „Er hat ihnen etwas vorgelebt, indem er regelmäßig Frauen und Journalisten beschimpfte“, meint Aronovich. „Auch sein Versprechen, die Waffengesetze zu liberalisieren, kam gut an bei ihnen.“Die neue Regierung unter dem Sozialdemokraten Luiz Inácio „Lula“ da Silva tut sich schwer mit der Welle der Gewalt. Zwar stellte sie als Reaktion auf die Anschläge ein millionenschweres Paket zur Verfügung, das vom Justizministerium und nicht, wie von vielen gefordert, vom Bildungsministerium verwaltet wird. „Die Reaktion auf die Anschläge war eine Katastrophe“, sagt der Kriminologie-Professor Jobim. Die Regierung setze auf alte Rezepte: mehr Polizei, stärkere Überwachung, weitere Militarisierung. „Sie antworten mit der gleichen Logik, die diese Gewalt verursacht. Das geht an der Wurzel des Problems vorbei.“Placeholder authorbio-1