„Der Placebo-Effekt kann die gleiche Wirkung haben wie Ibuprofen und sogar Morphium“
Interview Die Harvard-Professorin Kathryn T. Hall forscht zu den neurologischen Effekten von Placebos. Sie plädiert dafür, Scheinmedikamente nicht als Unfug zu betrachten, sondern besser zu erforschen und ihre Wirkung zu nutzen
Placebos können es in ihrer Wirkung mit herkömmlichen Schmerzmitteln aufnehmen
Foto: Scott Barbour/Getty Images
Ein Placebo-Effekt tritt auf, wenn Scheinheilmittel, etwa Tabletten oder Spritzen ohne Wirkstoff, aber auch eine Scheinoperation, zu einer echten klinischen Verbesserung der Symptome führen. Die Wirkung von Placebos ist manchmal so stark, dass sie bei klinischen Studien zu einem neuen Medikament zum Verhängnis werden kann. Das ist der Fall, wenn dessen Wirksamkeit über eine Placebo-Kontrolle hinaus nachgewiesen werden muss, aber nicht kann. Die Assistenzprofessorin an der medizinischen Fakultät der Universität Harvard Kathryn T. Hall gehört zu den führenden Köpfen in der Placebo-Forschung. In ihrem neuen Buch „Placebos“ geht sie deren starker Wirkung auf den Grund.
Sie argumentieren, dass die Wirkung von Placebos unterschätzt wird. In
ass die Wirkung von Placebos unterschätzt wird. Inwiefern?Sehr häufig wird sie eher als Schnickschnack betrachtet und nicht als echte neuropsychologische Reaktion. Bei Ärzt:innen löst es unter Umständen Unwohlsein aus, dass dieses unbekannte Phänomen eine starke Wirkung haben kann. Zudem scheinen viele klinische Forscher:innen zu leugnen, dass Placebos eine Bedrohung für die Entwicklung von Medikamenten darstellen. Ich möchte Placebos ins alltägliche Gespräch holen – nicht nur als Anomalie oder etwas, das klinische Studien „schlägt“. Es geht darum, uns ernsthaft mit Placebos zu beschäftigen und sie vielleicht sogar nutzbar zu machen.Wie stark können Placebos wirken?Oft genauso stark wie viele Medikamente. Bei Schmerzen zum Beispiel ist ein sehr starker Placebo-Effekt möglich, der in einigen Fällen Schmerzmitteln wie Ibuprofen oder sogar Morphium Konkurrenz machen kann. Am größten ist die Wirkung bei eher neurologischen und psychologischen Beschwerden; wenig Auswirkungen dagegen scheinen Placebo-Effekte auf die Ergebnisse klinischer Versuche zur Behandlung von Krebs, Viren oder bakteriellen Infektionen zu haben. Weitere Symptome, bei denen bei klinischen Versuchen eine starke Placebo-Wirkung festgestellt wurde, sind unter anderem Depressionen, Reizdarmsyndrom, Epilepsie, Bluthochdruck und Asthma. Allerdings reagiert nicht jeder Mensch gleich.Wie funktionieren Placebos?Seit Anfang der 2000er Jahre setzt die Forschung Neuroimaging – eine Bildgebung des zentralen Nervensystems – ein, um das Gehirn beim Prozess der Reaktion auf Placebos zu untersuchen. So wurde sichtbar, dass dabei eine Menge passiert: Es handelt sich um eine reale neurologische Reaktion, bei der viele verschiedene Teile des Gehirns zusammenarbeiten. Bei Schmerzen zum Beispiel werden eingehende Signale an die Schmerz verarbeitenden Bereiche unseres Gehirns gesendet. Gleichzeitig gibt es regulierende Einflüsse auf diese Gehirn-Areale, die um den von uns erlebten Schmerz herum Bedeutung und Kontext schaffen können. Placebos können Opioid-Signale auslösen, die unserem Körper helfen, Schmerzen zu kontrollieren. Außerdem sind sie für Dopamin-Signale verantwortlich, die unterstützen, dass wir uns gut fühlen.Es hat sich auch überraschenderweise gezeigt, dass manche Operationen nicht mehr bringen als ein Placebo.Scheinoperationen erfordern einen ziemlich hohen Aufwand. Man muss einen Chirurgen im Raum haben, den Geruch und die Utensilien. Wenn man verlässliche Daten sammeln will, ist es zudem notwendig, viele solcher Operationen durchzuführen. Dennoch gibt es einige Fälle, bei denen echte und scheinbare Operationen verglichen wurden. Zu häufig durchgeführten Operationen, die sich in jüngster Zeit als nicht besser als Scheinoperationen erwiesen haben, gehören die Schlüssellochchirurgie bei Kniearthrose und beim Impingement-Syndrom an der Schulter.Sie weisen darauf hin, dass derzeit nur wenige neue Medikamente zur Behandlung neurologischer und psychischer Probleme zugelassen werden. Klinische Studien haben keinen Erfolg, weil die Placebo-Wirkung nicht übertroffen wird. Sollte das ein Grund sein, Medikamente durchfallen zu lassen?Einige Pharma-Unternehmen forschen nicht mehr nach Medikamenten gegen chronische Schmerzen und Depressionen, weil es so schwierig und teuer ist, den Placebo-Effekt zu schlagen; unterdessen wächst die Zahl der Menschen, die an diesen gesundheitlichen Beeinträchtigungen leiden. Wir haben die Hürden für moderne Medikamente sehr hoch gesetzt. Es wird bereits nach Strategien geforscht, mit denen man die Wirkung von Placebo-Teilnehmer:innen in klinischen Studien reduzieren kann. Aber die Entwicklung dieser neuen Konzepte, die vom Goldstandard abweichen, braucht Zeit. Man kann sich an die Regeln halten und argumentieren, dass wir Medikamente besser machen müssen als Placebos. Aber vielleicht könnten wir auch danach schauen, was für einige Leute funktioniert, solange es unschädlich ist.Lässt sich voraussagen, wer auf Placebos anspricht?Man hat dazu Persönlichkeitsmerkmale untersucht. Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen und Extrovertiertheit sind die beiden Wesenszüge, die am häufigsten bei Leuten, die auf Placebos ansprechen, beobachtet werden. Aber auf ihrer Basis lässt sich keine verlässliche Vorhersage machen. Neuroimaging (Bildgebung des zentralen Nervensystems, Anmerkung d. Redaktion) zeigt, dass es möglicherweise auf die Anatomie des Gehirns ankommt. Wir haben auch begonnen, genetische Ursachen zu erforschen. Das ist mein Forschungsschwerpunkt. Die Gene, die die Reaktion einer Person auf Placebos beeinflussen, kann man als ihre „Placebome“ bezeichnen.Placebo-Therapie ist mit einem Dilemma konfrontiert: Patient:innen zu sagen, dass sie eine Fake-Medizin bekommen, könnte verhindern, dass der Placebo-Effekt eintritt. Sollten wir dennoch heute in der Medizin versuchen, Patient:innen mit Placebos zu behandeln?In Deutschland wird der Einsatz von Placebos in der klinischen Praxis für kleinere Beschwerden und unter bestimmten Voraussetzungen akzeptiert – wenn auch Bioethiker:innen sich sorgen, dass die Rechte von Patient:innen verletzt werden könnten. Es sind zudem markengeschützte Placebos wie Zeebo erhältlich, obwohl sie nicht in klinischen Studien getestet wurden. Ein möglicher Weg in die richtige Richtung sind für mich die kleinen klinischen Studien mit sogenannten Open-Label-Placebos (OLPs). Dabei wissen die Behandelten, dass sie ein Placebo erhalten, aber es wird ihnen erläutert, wie es wirken kann. Studien zu gesundheitlichen Problemen wie Rückenschmerzen, krebsbedingter Müdigkeit und Reizdarmsyndrom (IBS) ergaben, dass sich der Zustand der Patient:innen im Vergleich zu keiner Medikation nach Gabe von OLP deutlich verbesserte.Was ist der Noceboeffekt?Der Noceboeffekt ist die negative Auswirkung, die negative Informationen oder negative Erwartungen auf klinische Heilungsergebnisse haben können. Angenommen jemandem wird gesagt, dass eine Spritze wahrscheinlich weh tut, die Stelle schmerzen wird und es gut sein kann, dass man sich hinterher müde fühlt. Nach dieser Ansage werden die Symptome ziemlich sicher verstärkt auftreten.Es gibt das Phänomen, dass schwarze Patient:innen und andere Persons of Colour von einem Noceboeffekt betroffen sind, Weiße dagegen nicht. Woher kommt das?Leute, die historisch marginalisiert wurden, erwarten aus guten Gründen nicht immer Hilfe oder Aufmerksamkeit von ihren Ärzt:innen. Nicht nur fällt der positive Placebo-Effekt weg, falls ihnen Ärzt:innen fehlen, die sich Zeit nehmen, Verständnis und Zuwendung zeigen. Zudem können vorherige negative Erlebnisse sowie Erfahrungen, die sie mit Freunden und Familie teilen, zu negativen Erwartungen führen. Diese wiederum können die Symptome verschlimmern und die Bereitschaft reduzieren, sich an das zu halten, was verschrieben oder geraten wird.Alternative Medizin wie etwa die Homöopathie zeigt keine beständigere Wirkung als Placebos. Hat diese Medizin dennoch einen Wert, weil sie einen Placebo-Effekt hervorruft, oder ist es unfair, Patient:innen teure Behandlungen anzubieten, die nicht an sich wirken?Sowohl die westliche Medizin als auch die Komplementärmedizin, die die Schulmedizin ergänzen soll, bieten Behandlungen an, die nicht für alle Patient:innen und auch nicht immer funktionieren. Unter Anleitung ausgebildeter Praktiker:innen aus dem Heilbereich müssen die Einzelnen den Weg finden, der ihnen hilft – vorausgesetzt er ist unschädlich. Die Homöopathie hat Placebos in vielen Studien geschlagen. Das könnte aber zum Teil daher rühren, dass Homöopathie mit langfristiger angelegten Konsultationen beim Arzt oder Homöopathen verbunden ist, was – wie wir wissen – einen tiefgreifenden positiven Effekt hat.Können wir allein durch die Kraft unseres Geistes einen Placebo-Effekt bewirken? Können wir uns gesund denken?Wenn das jemand kann, gut für ihn oder sie. Mir ist es nicht gelungen. Viel bewirkt in diesem Zusammenhang die Interaktion mit anerkannten Vertreter:innen eines Heilberufs, denen man vertraut. Es geht darum, dass Patient:innen ihre Geschichte erzählen, die gehört wird und dann „etwas einnehmen“, das aufdieser Interaktion basiert.Könnten wir Medikamente entwickeln, die einen Placebo-Effekt auslösen oder verstärken?Die wissenschaftliche Forschung sagt uns, dass der Placebo-Pfad tatsächlich mit Medikamenten beeinflusst werden kann. Und das ist eine fundamentale Beobachtung. Vielleicht haben wir sogar schon die ganze Zeit auf diese Weise Medikamente entwickelt – indem wir, ohne dass es uns bewusst war, mit Medikamenten den Placebo-Pfad behandelt haben! Ob wir gezielt Medikamente einsetzen können, um Placebo-Effekte zu fördern, bleibt abzuwarten.