Rentnerinnen for Future: Wie die Schweizer KlimaSeniorinnen für den Klimaschutz kämpfen
Klage Die meisten von ihnen sind weit über 70, sie werden die Folgen des Klimawandels selber gar nicht mehr erleben. Warum die KlimaSeniorinnen trotzdem gegen die Schweizer Regierung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klagen
Die Klimakrise schmilzt die Gletscher und macht aus ihnen diesen See
Foto: Fabrice Coffrini/AFP via Getty Images
Bedächtig klettern die Frauen – die meisten sind schon über 70 – den Hang hinauf. Wanderstöcke klappern auf sonnenverbrannten Felsen, sie balancieren auf wackeligen Steine und reichen sich die Hände, um Gebirgsbäche zu überqueren. Dass die Hitze ihrer Gesundheit gefährlich werden kann, wissen die Rentnerinnen, wahrscheinlich sogar besser als viele andere. Doch sie haben nicht vor, sich deswegen einschränken zu lassen. „Ich bin Bergsteigerin“, sagt die 73-jährige Pia Hollenstein und winkt ab, als ich ihr von einem großen Felsen herunterhelfen will. „Ich schaffe das schon“.
Wer an Klimaaktivisten denkt, dem fallen die Schweizer KlimaSeniorinnen nicht unbedingt als erste ein. Ihre 2.400 Mitglieder leben in ei
n nicht unbedingt als erste ein. Ihre 2.400 Mitglieder leben in einem der reichsten Länder der Erde. Aufgrund ihres Alters – das jüngste Mitglied ist 64 Jahre alt – werden sie den fortschreitenden Klimawandel, und das Extremwetter, das er mit sich bringt, nicht mehr selbst erleben. Trotzdem gehören die KlimaSeniorinnen zu den Aktivisten, die am härtesten für eine lebenswerte Zukunft kämpfen.Die Frauen klagen gegen die Schweizer Regierung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, weil diese in ihren Augen zu wenig gegen die Erderwärmung unternimmt. Das, so die Argumentation, verstoße gegen ihre Menschenrechte. Die Klage beruht auf zwei einfachen Fakten. Hitzewellen werden immer heißer, weil die Menschen fossile Brennstoffe verbrennen. Und Frauen, insbesondere ältere, sterben eher, wenn die Temperaturen in die Höhe schießen.„Diese Hitzewellen sind erst der Anfang“„Als sie mich gefragt haben, ob ich mitmache, dachte ich, die Politik in der Schweiz ist ein hoffnungsloser Fall“, sagt Hollenstein, eine verrentete Krankenschwester und ehemalige Parlamentarierin der Grünen, die im Vorstand der KlimaSeniorinnen sitzt. „Aber das hier ist ein wichtiger Hebel“.An einem Montagmorgen im August begleite ich Hollenstein und einige ihrer Mitklägerinnen auf einer Wanderung um den Göschener See in den Alpen. Die Berge sind Herzstück der schweizerischen Identität. Und den hiesigen Tourismus- und Energiesektors. Es ist eine atemberaubende Landschaft, wir sehen alpine Tierwelt und besichtigen einen Staudamm. Die Frauen haben diesen Ort ausgesucht, um zu veranschaulichen, was mit dem Abschmelzen des Gletschers verloren gehen könnte.Was sie sich nicht ausgesucht haben, ist das Wetter. Zwei Tage zuvor hat der nationale Wetterdienst Hitzewarnungen für den größten Teil des Landes ausgesprochen. Eine Boulevardzeitung druckt ein Interview mit einem Meteorologen zum Thema Wetterwarnungen. Auf ihrer Titelseite warnt sie: „Diese Hitzewellen sind erst der Anfang“.Die unterschätzte Gefahr von HitzeDie KlimaSeniorinnen lassen sich davon nicht abschrecken. Ausgerüstet mit Wasserflaschen, Wanderstöcken und festen Schuhen treten sie die Wanderung an. Beatrice Braun, eine Künstlerin, erzählt mir, dass sie die bunten Socken an ihren Füßen selbst gestrickt hat. Die Frauen seien sich zwar der Belastung für ihren Kreislauf bewusst, zögen aber die kühle Bergluft der drückenden Hitze der Stadt vor. Nur ab und zu wird die Sonne und die Anstrengung der Wanderung zu viel. „Ich habe das gleiche Problem wie der Gletscher“, sagt Annemarie Ulmi-Klieber und deutet auf den Schweiß, der ihr über das Gesicht läuft. „Ich schmelze“.Hitze, so warnen Ärzte, ist weitaus gefährlicher als es den meisten Menschen bewusst ist. In Hitzeperioden sterben manche Opfer, einfach weil sie im Freien arbeiten. Viele andere sterben in Altersheimen und Krankenhäusern, weil ihre Körper durch das Wetter geschwächt sind und sich nicht gegen Krankheiten wehren können, die Herz, Lunge und Nieren betreffen.Nach der jüngsten Analyse von Sterblichkeits- und Temperaturdaten hat die Hitze im Jahr 2022 europaweit mehr als 60.000 zusätzliche Todesopfer gefordert. Die Zahl der Todesopfer im Jahr 2023, dem wärmsten seit Beginn der Aufzeichnungen, könnte noch höher sein.Ältere Frauen sind am gefährdetsten„Nach den derzeitigen Erkenntnissen aus epidemiologischen Studien sind ältere Frauen besonders anfällig für Hitze“, sagt Ana Vicedo-Carbera, Leiterin des Teams Klima und Gesundheit am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern. Die Wissenschaftlerin hat für den Gerichtsprozess den Stand der Wissenschaft zusammengefasst. Noch seien die Gründe dafür unklar, so Vicedo-Cabrera, aber „Veränderungen im Herz-Kreislauf-System aufgrund der Menopause oder die Tatsache, dass ältere Frauen tendenziell aktiver sind als Männer, könnten mögliche Gründe sein“.Die Klage der KlimaSeniorinnen ist Teil einer Strategie. Die Idee dahinter wurde erstmals vor zehn Jahren von Greenpeace-Aktivisten entwickelt und befasst sich mit einem Problem, das Klimaprozesse in der ganzen Welt behindert: Da die Klimakrise alle trifft und nicht nur eine bestimmte Person oder Gruppe, wären die Gerichte überfordert, wenn sie jeder Klage von Einzelpersonen gegen große Umweltverschmutzer zulassen würden.Was die Schweizer Anwälte für eine Chance auf eine erfolgreiche Klage brauchten, war eine Gruppe von Menschen – je kleiner, desto besser –, die nicht nur argumentieren können, dass ihr Recht auf Leben durch die steigenden Temperaturen verletzt wird, sondern auch noch, dass sie unverhältnismäßig stark betroffen sind.Es ist wissenschaftlicher Konsens, dass Hitze Frauen mehr schadet als Männern und alten Menschen mehr als jungen. Vicedo-Cabrera und ihre Kollegen fanden heraus, dass ältere Frauen in der Schweiz im Sommer 2022 am häufigsten an den Folgen der Hitze gestorben waren. Sie errechneten, dass 60 Prozent der Todesfälle in einer Welt ohne Klimakrise vermieden worden wären.Die KlimaSeniorinnen kämpfen nicht für sich selbstWährend ich schwitzend die Berghänge der Schweizer Alpen hinaufkraxele und mich abmühe, mit Frauen Schritt zu halten, die mehr als doppelt so alt sind wie ich, überrascht mich eine Aussage der KlimaSeniorinnen. Die Klage, so erzählen sie, haben sie nicht zu ihrem eigenen Vorteil eingereicht. Stattdessen dachten sie an die Menschen in meinem Alter.„Unsere Generation hat so viel für die Zerstörung des Klimas getan. Wir haben eine Verantwortung“, erklärt Hollenstein. „Es ist allen gedient, wenn wir die Schweiz erfolgreich dazu bringen können, mehr zu tun“.Placeholder image-1Nach jahrelangen Rückschlägen vor regionalen und nationalen Gerichten, die den Fall aus verfahrenstechnischen Gründen verwarfen, sind die KlimaSeniorinnen nun vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gezogen. Der Gerichtshof hat sich bisher noch nicht zu staatlichen Klimaschutzmaßnahmen geäußert, wird aber Anfang nächsten Jahres den Schweizer Fall zusammen mit ähnlichen Fällen eines französischen Bürgermeisters und mehrerer portugiesischer Jugendlicher anhören. Die Ergebnisse könnten die Tür zu Fällen in anderen Ländern öffnen, sollten die Regierungen in ganz Europa den Urteilen nicht nachkommen.Charlotte Blattner, eine auf Klimarecht spezialisierte Forscherin an der Universität Bern, sagt, sie hoffe, dass der Prozess einen Meilenstein setzt, Regierungen durch Menschenrechtsgarantien zu einer strengeren Klimapolitik zu bewegen. „Die Chancen, dass die KlimaSeniorinnen den Prozess in allen Punkten gewinnen werden, sind jedoch sehr gering“, so Blattner.In ihrer Stellungnahme an das Gericht erklärt die Schweizer Regierung, es sei „völlig legitim“, dass Bürgerinnen ihre Regierungen aufforderten, mehr gegen die Erderwärmung zu unternehmen. Die Europäische Menschenrechtskonvention sei jedoch nicht dazu gedacht, über nationale Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels zu entscheiden. „Die Festlegung und Auswahl der zu treffenden Maßnahmen ist in der Tat Sache der Regierung, des Parlaments und der Bevölkerung der Schweiz.“Die Schweizer Regierung versucht, die Klage abzuwehrenDie Regierung wehrt sich auch in der Sache und bestreitet, dass Frauen im Rentenalter automatisch einem höheren Risiko durch Hitzewellen ausgesetzt sind. Nicht alle KlimaSeniorinnen werden den Ausgang ihres Kampfes erleben – einige ihrer Mitglieder sind bereits verstorben, und selbst ein Sieg in Straßburg ist keine Garantie für eine Änderung der Politik. Sollten sie den Prozess gewinnen, so sagen sie, werden sie die Regierung dazu bringen, einen Plan zur Erfüllung ihrer Ziele vorzulegen, über den dann in einem Referendum abgestimmt werden soll. Die Schweizer Bevölkerung votierte in einem Referendum im Juni für ein Ziel von Netto-Null-Emissionen bis 2050. Ein Paket konkreter Maßnahmen zur Reduzierung der Umweltverschmutzung im Jahr 2021 lehnte sie aber ab.Für die Frauen ist das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof ein Schritt, der für sie als Kinder kaum vorstellbar war. Sie alle wurden zu einer Zeit geboren – einige von ihnen wurden in der Zeit volljährig –, als Frauen in der Schweiz noch nicht wählen durften. Heute seien die Frauen froh, sagen sie, das meiste aus den ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zu machen.„Diese Gruppe von Frauen hat mich einfach inspiriert“, sagt Verena Steiner, die sich der Gruppe letztes Jahr angeschlossen hat. Die ehemalige Architektin sagte, sie sei schon seit 40 Jahren „klimabewusst“, aber erst kürzlich aktiver geworden.Die Gruppe sagt, dass sie nun auch mehr Respekt genieße. Einige Leute hätten sie in der Vergangenheit als „alte Weiber“ abgetan, aber ihre Notlage sei nun schwerer zu ignorieren. „Lange Zeit wurden wir nicht ernst genommen“, sagt Rita Schirmer-Braun, die dem Vorstand angehört. „Aber jetzt fangen sie langsam an, uns ernst zu nehmen, weil sie sehen, was um uns herum passiert“.
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