Vom Balkon im fünften Stock ihres Wohnhauses in Cherson kann Alina Spyrydonova das von russischen Truppen gehaltene Ostufer des Dnepr sehen. Sie lebt in der südukrainischen Stadt an einem besonders gefährlichen Ort. Ihre Fenster wurden durch Beschuss in Mitleidenschaft gezogen. Nachts sei es am schlimmsten, sagt Spyrydonova, 27 und bis zur Schließung Sekretärin im Theater von Cherson: „Man kann genau hören, was an den Ufern passiert, wenn die Maschinengewehre feuern.“ Sie beschreibt einen Krieg im Schatten, der im Delta des Dnepr geführt wird, weil die Gefechte selten solche Ausmaße erreichen, dass Frontkommuniqués es für wert erachten, davon Notiz zu nehmen. Obwohl es sich um das Vorspiel eines größeren Schlagabtausch
schs handeln kann. Seit dem 1. Mai gilt für die Stadt eine nächtliche Ausgangssperre. Das nährt Spekulationen, die viel beschworene Frühjahrsoffensive stehe unmittelbar bevor. Blickt man zur Uferpromenade hinunter, glitzert das Wasser des Stroms und taucht die Frontlinie in ein versöhnliches Licht. Aber der Horizont ist grau, Möwen schrauben sich in die Luft, als garantierten sie das Leben in dieser Gegend. Auf der Westseite liegen die Rayons, aus denen russische Truppen im November abgezogen sind, um am gegenüberliegenden Ufer Stellung zu beziehen und den Gegner unter Feuer zu nehmen – vor allem das der Scharfschützen. Vor einer Woche wurde ein ukrainischer Journalist getötet. Er hatte sich zu nah an die Antoniwka-Brücke gewagt.Feuergefecht auf dem Dnepr: Boot im SchilfUm mehr über die Lage zu erfahren, kann auf Botschaften ukrainischer Presseoffiziere wie russischer Militärblogger zurückgegriffen werden oder auf Social-Media-Kanäle, über die Anwohner posten, was sich abspielt. Fest steht, der Kampf um Inseln, Sümpfe und Buchten des Dnepr-Deltas unterscheidet sich um einiges von den zermürbenden Schlachten der sonstigen Ostfront. Hier sind häufig kleine Kommandos in Schlauchbooten mit starken Motoren unterwegs, um sich einem tödlichen Katz-und-Maus-Spiel auszusetzen.War es allein verstärkter medialer Aufmerksamkeit zuzuschreiben, dass es vor Tagen hieß, ukrainische Trupps hätten Stellungen am anderen Ufer bezogen? Ein Zeichen mehr, dass ein ukrainischer Großangriff bevorsteht? Dem mochten nicht alle Beobachter folgen. Konfliktanalysten des US-amerikanischen Institute for the Study of War bedachten Bewegungen rings um Chersons Hafen mit der Aussage, Ausmaß und Absicht dieser ukrainischen Operationen blieben unklar, während Dmytro Pletenhuk, Militärsprecher der Stadt, erklärte: „Die Russen haben am Ostufer alle Arten von Waffen: Raketensysteme, Mörser und Artillerie. Sie sind zu Luftangriffen fähig, und das zwei- bis dreimal am Tag. Der Fluss bleibt die natürliche Barriere, die den Status quo zwischen beiden Seiten aufrechterhält.“ Ein gewalttätiger Status quo. Velykyi Potomkin – eine Insel, die den Fluss in zwei Arme teilt – war einst ein angenehmer Ort, an dem Menschen das Wochenende auf ihren Datschen verbrachten. Heute markiert sie eine strategische Bastion, die das Zeug zum Schlachtfeld hat, sollte demnächst um jeden Quadratmeter gekämpft werden.Videos zeigen, was sich bereits jetzt abspielt. In einem entspinnt sich ein nächtliches Feuergefecht auf dem Wasser, man sieht aufblitzendes Mündungsfeuer, begleitet von heftigem Schreien. Zu sehen ist, wie ein russischer Soldat aus seinem Boot geschleudert wird, als das unter Beschuss gerät. Die Crew rast davon und lässt ihn im Wasser zurück. In einer anderen, noch grausameren Sequenz sieht man im Schilf ein kleines Boot mit Besatzung liegen, bevor eine Explosion alles zerfetzt.Selbst wenn erkämpfte Geländegewinne der Ukrainer ins Gewicht fallen, sind im Gegenzug Angriffe russischer Jets möglich, die Bomben fallen lassen, damit ganze Inseln verschwinden. Jury Sobolevsky, Verwaltungsleiter in Cherson, meint, der Fluss sei Frontlinie und „Grauzone“ zugleich, ein Ausdruck, der verwendet wird, um umkämpftes Gebiet zwischen den beiden Streitkräften zu beschreiben. „Einerseits ist der Dnepr ein wirksames natürliches Hindernis gegen den Feind, andererseits ist es auch für die Ukrainer schwierig, den Fluss zu überqueren und auf der anderen Seite Fuß zu fassen.“Während das ukrainische Militär angekündigt hat, durch intensives Artilleriefeuer russische Streitkräfte aus ihren Stellungen am Ostufer zu vertreiben, bestehe die Gefahr, dass den eigenen Truppen am Westufer Gleiches widerfährt. „Mit meinen ehemaligen Nachbarn habe ich jeden Tag Kontakt“, sagt der 64-jährige Jury Pogrobveny. „Das Dorf liegt etwa einen Kilometer vom Fluss entfernt. Als sie Cherson räumten, gab es dort nur wenige russische Soldaten. Jetzt leben sie in sämtlichen Häusern und haben die Kühe getötet, um sich zu versorgen.“