Sitzen Sie gerade? Nicht, weil ich gleich etwas Schockierendes sagen werde. Sorry, ich sollte Sie nicht erschrecken. Ich wette, Sie sitzen. Das tue ich auch. Denn Sitzen ist das, was wir hauptsächlich tun, nicht wahr? Sitzen ist schön. Es ist ein einfaches und dauerhaftes Vergnügen, es sei denn, man ist durch Krankheit oder Behinderung dazu gezwungen. Eigentlich eine Schande, denn es bringt mich, Sie und alle anderen um.
Sie wissen das wahrscheinlich längst. Die Botschaft „Sitzen ist schlimmer als Rauchen“ gibt es etwa seit dem Jahr 2010. Sitzen an sich ist zwar nicht schlimmer als Rauchen, wird aber mit einer höheren Sterbewahrscheinlichkeit in Verbindung gebracht, wie Forscher der Universidad de Santiago de Chile unlängst herausfanden. „Mens
#8222;Menschen, die mehr als 12 Stunden pro Tag sitzen, haben ein höheres Risiko für einen [vorzeitigen] Tod“, so einer der Autoren der jüngsten und viel beachteten Studie über das Sitzen und seine negativen Auswirkungen, in der die Daten von vier groß angelegten Studien analysiert wurden.Von all den düsteren Enthüllungen über die menschliche Gesundheit der letzten Jahrzehnte hat mich diese am meisten getroffen – schlimmer als die Infos über Insomnia, die einen langsam umbringt – obwohl es lustig ist, sich um 4 Uhr morgens den Kopf darüber zu zerbrechen, dass Schlafentzug einen schneller tötet. Ich hasse es, weil ich das Gefühl habe, dass es fast unmöglich ist, etwas dagegen zu tun. Ich sitze fast jeden Tag mehr als 12 Stunden. In einer kürzlich erschienenen Studie wurde vorgeschlagen, dass 22 Minuten „moderate bis hohe körperliche Aktivität“ pro Tag das erhöhte Risiko eines vorzeitigen Todes beseitigen können, aber wissen die Forschenden eigentlich, wie sehr ich mit dem Sport im Rückstand bin?Denn wer hat schon 22 Minuten Zeit? Zugegeben, das ist nur ein Bruchteil der Zeit, die ich damit verbringe, leere Wände anzustarren, aber das ist mein kreativer „Prozess“. Meine täglichen Gesundheitstouren sind zu kurz und zu langsam, und selbst bescheidenere Verbesserungen fühlen sich als Herausforderung an. Ich kann nicht zu einem „Spaziergang mit mir“ im Seitenflügel einladen, wenn ich allein in einem winzigen Heimbüro arbeite. Und bevor jemand einen Stehschreibtisch vorschlägt: Die Erfahrung zeigt, dass ich in aufrechter Position genauso wenig funktioniere wie auf einem Tabletttisch am Sofa oder im Bett.Malta, das Land der DauersitzerAlso sitze ich und genieße es sehr. Es ist meine Hauptfreizeitbeschäftigung – ich setze mich sogar zum Zähneputzen hin -, und fühle mich dabei auf untypische Weise rebellisch. Normalerweise halte ich mich an die generellen Gesundheitstipps: Ich esse viel Grünzeug und benutze diese kleinen Interdentalbürsten. Aber nicht mehr sitzen? Danke, nein.Ich könnte leicht der Helmut Schmidt des Sitzens werden, der als Dauerraucher trotzig weiter qualmte und die grafischen Warnungen vor Amputationen und verstopften Herzen cool ignorierte. Vielleicht würde ich mich dann in ein Land zurückziehen, in dem das Sitzen noch respektiert wird. Vielleicht Malta, das 2012 laut einer Studie des medizinischen Fachmagazins Lancet die Liste der Länder weltweit anführt, wo noch herzhaft herumgesessen wird: über 70 Prozent der Erwachsenen sind dort inaktiv, wie das Fachmagazin es nennt. Sie kommen also nicht auf ihre 20 Minuten moderate bis starke Aktivität am Tag.Jahrhundertelang haben Bergleute, Landwirte, Müllwerker und Bauarbeiter schwere körperliche Arbeit verrichtet. Jetzt hat man festgestellt, dass die Beschäftigten in Fulfillment-Zentren, der modernen Form der Schwerstarbeit, unter körperlichen Problemen wie Muskel- und Skelettschäden leiden und verletzungsanfälliger sind. Einem Bericht des Strategic Organizing Center, einem Zusammenschluss von Gewerkschaften in Nordamerika, zufolge zogen sich Amazon-Mitarbeiter*innen in den USA im Jahr 2022 39.000 Verletzungen zu.Das lange Stehen ist nicht viel besser als das Sitzen: Krankenschwestern und Einzelhandelsangestellte leiden unter Rückenschmerzen sowie Herz- und Kreislaufproblemen. Da ist es wohl nur recht und billig, dass diejenigen von uns, die bequemer arbeiten, nicht verschont bleiben. Aber es trägt auch zu meinem wachsenden Verdacht bei, dass Arbeit – jede Arbeit – schlecht für uns ist. Niemand scheint eine umsetzbare Alternative fürs Arbeiten im Stehen oder Sitzen gefunden zu haben.Ich würde ein weltweites Sit-in vorschlagen, aber Sie wissen ja, schlecht für den Körper.Eine App zum AufstehenWenn ich einen friedlichen, unkomplizierten, leicht verfrühten Tod auf meinem Sofa garantieren könnte, während ich mir eine mehrteilige Dokumentation über einen Prominenten anschaue, der mir egal ist, dann würde ich dem Tod entspannt entgegensehen wie der rauchende Alt-Bundeskanzler, der knapp hundert Jahre alt wurde. Aber die Realität sieht so aus, dass ich wahrscheinlich gebrechlich, wütend und eine enorme Belastung für meine Mitmenschen sein werde; das meiste davon bin ich bereits. Außerdem habe ich zunehmend Schmerzen: das ganze Programm von Ischias bis zu stechenden Schulterschmerzen.Schweren Herzens – und zweifellos ungesund – habe ich also eine manipulative App auf meinem Telefon installiert, die mich regelmäßig auffordert, aufzustehen. „Wir wollen, dass Sie länger leben“, heißt es. Bisher ist die einzige Bewegungspause, die mich nicht den Lebenswillen verlieren lässt, die Suche nach Snacks in der Küche. Aber kleine Schritte sind auch Schritte.