Psychologin Christina Guthier über Erholung: „Putzen kann entspannend sein“
Interview In Krisenzeiten ist es besonders schwierig, abzuschalten. Wie das geht und warum es extrem wichtig ist, dass wir uns hin und wieder Inseln der Ruhe schaffen, erklärt die Psychologin Christina Guthier
Planschen, in der Sonne liegen – einfach mal glücklich sein. So wünschen wir uns den Urlaub. Wenn wir unser Handy in die Hand nehmen, holt uns die Welt jedoch ein: Dürfen wir das? Mitten in den Krisen die Zehen ins Meer halten? Christina Guthier ist Wirtschaftspsychologin und erklärt, warum Erholung auch aus politischer Perspektive wichtig ist.
der Freitag: Frau Guthier, in der Ukraine tobt der Krieg, im Mittelmeer ertrinken Hunderte Menschen, und klimamäßig sind wir auf dem Vier-Grad-Pfad. Können wir jetzt einfach an den Strand und abschalten?
Christina Guthier: Ich kann es gut verstehen, wenn da Gewissensbisse aufkommen. Aber wenn wir uns selbst die Erholung rauben, werden wir krank, und damit ist niemandem geholfen. Dann haben wir keine Energie daf
, werden wir krank, und damit ist niemandem geholfen. Dann haben wir keine Energie dafür, für eine positivere Zukunft zu sorgen.Das ist einfacher gesagt als getan. Sobald wir ins Internet schauen, ploppen die Meldungen auf: Bomben in Kiew, Prügeleien in Berliner Schwimmbädern ...Ja, in Krisenzeiten ist es schwierig, abzuschalten. Aber manchmal verlieren wir auch das Urteilsvermögen dafür, was wirklich dringend ist – und was nicht. Bei Eilmeldungen geraten manche in den Nachrichtentunnel, verbringen Tage auf Twitter. Es ist wichtig, sich zu fragen: Was bedeutet dieses Ereignis wirklich für mein Leben? Was würde es ändern, wenn ich erst am nächsten Tag Bescheid weiß? Das gilt nicht nur für den Urlaub. Auch im Alltag ist es wichtig, Erholungsroutinen zu entwickeln.Das ist ja ein linkes Vorurteil gegenüber der Psychologie: Sie raten zu entspannendem Yoga – und derweil geht die Welt unter.Dann räumen wir mit dem Vorurteil mal auf. Denn in der Erholungsforschung hat sich in den letzten 15 Jahren einiges getan, Erholung ist nicht einfach Yoga, sondern eine sehr politische Frage! Sabine Sonnentag, Professorin für Arbeitspsychologie an der Universität Mannheim, hat mit ihrer Kollegin Charlotte Fritz vier verschiedene Arten von Erholungserfahrungen identifiziert. Nummer eins: geistiges Abgrenzen von der Stressquelle. Während der Freizeit nicht an die Arbeit denken.O ja! Schwierig.Die zweite Erholungserfahrung: Entspannung des Körpers. Sport, Bewegung. Nummer drei: Selbstwirksamkeit erleben, Mastery, also in der Freizeit etwas meistern, sei es, auf dem Berg zu wandern – oder auch eine erfolgreiche Demonstration zu organisieren! Hauptsache, und das ist der vierte Punkt: Man hat die Kontrolle darüber, was man in seiner Freizeit macht. Das scheint mir auch der Grund zu sein, warum junge Eltern sich weniger erholen, denn ein Kleinkind braucht eben 24/7 Betreuung, auch im Urlaub.Einfach am Strand rumzuliegen erfüllt fast all diese Punkte, oder? Zumindest, wenn wir auch noch ein Kreuzworträtsel meistern und ab und an schwimmen gehen.Eine Zeitlang ja, aber die Forschung hat noch einen weiteren wichtigen Punkt für Erholung erforscht: Meaning, also etwas Wertvolles im Leben erfahren. Beim Wandern kann es die Verbundenheit zu den anderen sein, oder zu sich selbst. Bei einer Demonstration das Gefühl, eine politische Botschaft verstärkt zu haben. Erholung ist nicht Nichtstun.Viele scheitern schon daran, im Urlaub nicht an Arbeit zu denken.Auch hier ist aus psychologischer Perspektive wichtig, dass man sich nicht stresst: O mein Gott, ich zerstöre mir gerade die Erholung! So erholt man sich nicht. Wie schwer das Abschalten fällt, ist auch abhängig von den Arbeitsbedingungen. Hier wird Erholung hochpolitisch: Es muss möglich sein, sich krankzumelden oder im Urlaub keine E-Mails zu lesen.Dafür braucht es Personal: Urlaubsvertretungen.Das ist ganz entscheidend. Mitarbeiter*innen sollten nie das Gefühl haben, dass entscheidende Aufgaben nicht erledigt werden, wenn sie mal fehlen. Dann gerät man schnell in die Falle, doch was im Urlaub zu erledigen – oder in der Krankschreibung! Neben einer guten Vertretung müssen wir aber auch selbst lernen: Wann kann ich mein Handy abstellen?Ist die Schwierigkeit, das Handy abzuschalten, ein Symptom der Krisenhaftigkeit unserer Zeit?Ja, Bedrohung stresst uns. Eine der entscheidenden Stresstheorien der vergangenen Jahrzehnte ist das Transaktionale Stressmodell von Lazarus und Folkmann aus den 1980ern: Eine bedrohliche Situation erzeugt Stress. Das kann ein wichtiges Examen sein oder die Klimakrise. Wir fragen uns: Kann ich diese bedrohliche Situation bewältigen oder nicht? Wenn man glaubt, der Studienabbruch droht unausweichlich, ist der Stress negativ. Wenn eine Studentin sich aber sagen kann: Ich habe mich jetzt so gut vorbereitet, das Examen wird schon klappen, dann kann der Stress positiv sein.Beim Klimawandel haben wir nicht gerade das Gefühl, gut vorbereitet zu sein.Im Gegenteil, in den Medien schwirren Erzählungen herum, die eher Hoffnungslosigkeit verbreiten oder uns unter Druck setzen: Wir müssen verzichten, also Verlust erleben. Wir haben nicht das Gefühl, diese Bedrohung bewältigen zu können. Da ist es nur plausibel, dass Menschen aktuell mehr negativen Stress empfinden.Aber als Journalistin wüsste ich nicht, wie ich positiv über den Klimawandel berichten sollte.Das war auch gar kein Vorwurf. Aber für den Umgang mit Krisen hilft uns eine andere Verhaltenstheorie: die Prospect-Theorie, für die der Psychologe Daniel Kahneman 2002 den Nobelpreis gewann. Sie besagt: Wir Menschen bewerten erwartete Verluste wesentlich stärker als erwartete Gewinne. Wenn Sie einmal davon berichten, dass wir wegen der Klimakrise verzichten müssen – auf Autofahren, Fliegen, Energieverbrauch –, dann müssten Sie fünf bis zehn positive Berichte dazustellen, um den Leser*innen eine neutrale Bewertung zu ermöglichen.Welche Folgen hat der dauerhafte negative Stress der Krisen?Rein medizinisch gesprochen: Das Cortisol-Level steigt, was dauerhaft zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen kann. Außerdem droht eine Depression. Am Ende des Tages sind wir auch nur biochemische Körper. Und wenn die Stoffe in einem Ungleichgewicht sind, funktionieren unsere Mechanismen nicht mehr.Wir müssen also mal ausspannen, um Cortisol abzubauen?Genau. Dafür müssen wir aber nicht immer auf den Berg oder an den Strand. Es können auch kleinere Aktivitäten für Erholung sorgen – sogar Kochen und Putzen können eine Erholungserfahrung sein, aber eben nur dann, wenn man dazu motiviert ist.Und wenn wir uns nicht erholen?Dann kann Stress zu Erschöpfung führen. In unserer Studie 2022 fanden wir heraus, dass jeder zweite Mensch in Deutschland unter Erschöpfung leidet, sogar 73 Prozent der zwischen 30- und 40-Jährigen. Aber auch in Krisenzeiten kann es uns gelingen, Stress zu reduzieren, indem wir über Bewältigungsstrategien sprechen. Wir sind dem Klimawandel nicht tatenlos ausgeliefert. Wir können unser Handeln ändern, dann erfahren wir Selbstwirksamkeit. Das ist eine wichtige Ressource für uns alle.Aber auch die andauernde Arbeit an unserem Handeln kann stressig werden!Auch hier gelten die fünf Momente der Erholung: Abgrenzung, Mastery (Selbstwirksamkeit), Selbstbestimmung, soziale Verbundenheit und die Erfahrung von Bedeutungsvollem. Wenn diese Punkte fehlen, kann auch Freizeit stressig werden. Und wenn sie in der Arbeit erfüllt werden, kann Arbeit auch erholen! Es steht uns nichts im Weg, Arbeitsbedingungen zu schaffen, die Selbstbestimmung fördern. Ich bin überzeugt: Arbeit kann erholsam sein!Ein Fleischarbeiter, der im Akkord Schweine zerschneidet, wird bei seiner Arbeit wohl kaum Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung erfahren.Das stimmt. Sie haben mich beim Träumen erwischt. Aber gerade am Beispiel der Fleischarbeiter sehen wir, wie viel sich bei den Arbeitsbedingungen tun muss, damit es den Arbeitenden gut geht.Nur lässt ein Unternehmer seine Arbeiter ja nicht aus Boshaftigkeit bis zur Erschöpfung arbeiten. Da spielt Profitlogik eine Rolle ...... und das ganze kapitalistische Marktsystem, ja. Hier sehen wir: Die Vorstellung, dass jemand selbst schuld ist, wenn er nicht glücklich und erholt ist, ist falsch. Wir müssen ein neues System errichten, um Bedingungen zu schaffen, unter denen die Leute gesund sind. Körperliche Unversehrtheit ist ein Grundrecht! Ich wünsche mir einen Diskurs darüber, was passieren muss, damit Arbeit nicht krank macht. Und dafür brauchen wir Utopien: Stellen wir uns Arbeit vor, die erholsam für uns ist. Was brauchen wir dafür?Placeholder infobox-1