Stadt versus Land: Nicht überall haben die Linken die Arbeiterklasse verloren
Analyse Ist der Rechtsruck unvermeidlich? Sind die Arbeiter für Progressive verloren? Die französischen Star-Ökonomen Julia Cagé und Thomas Piketty haben tief in die Geschichte geschaut. Und zeigen, wie die Linke wieder stärker werden kann
300 Kilometer von Paris, und (noch) Welten von manch Linken entfernt: das 70-Einwohner-Dorf Brachay, bei einem Treffen, zu dem der Front National geladen hatte
Foto: Romain Beurrier/Rea/Laif
Italien, Ungarn, Finnland, Griechenland: In ganz Europa gewinnen Rechte an den Wahlurnen. Regierungen rücken nach rechts, die Linke bricht ein. Ist die Rechtstendenz inzwischen unvermeidlich?
Wir haben Wahldaten bis zurück zur Französischen Revolution untersucht – und die Ergebnisse, die wir im September in unserem BuchUne histoire du conflit politique veröffentlicht haben, bieten einen optimistischeren Ausblick auf die nächsten Jahre. Sie zeigen zum einen die potenzielle Stärke der linken Wählerbasis. Zum Anderen weisen sie darauf hin, dass der Versuch, die Arbeiterklasse mit einem migrationspolitischen Rechtsruck zurückzugewinnen, eine Sackgasse wäre.
Untersucht haben wir die für das Wahlverhalten ausschlaggebenden Faktoren anhand vo
ck zurückzugewinnen, eine Sackgasse wäre.Untersucht haben wir die für das Wahlverhalten ausschlaggebenden Faktoren anhand von kommunalen Daten, die alle französischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zwischen 1848 und 2022 betreffen – wie auch die wichtigsten Volksabstimmungen zwischen 1793 und 2005. Aufschlussreich sind solche lokalen Daten, weil sich die 36.000 „Communes“ der Republik in ihren Wählerprofilen sehr unterscheiden: Es gibt sehr, sehr arme und sehr reiche Bezirke – wie auch ein breites Spektrum hinsichtlich der Berufe, der Ausbildungen, der Einwanderer und so weiter. Das ermöglicht ein sehr detailliertes Verständnis langfristiger Wahlmuster. Darüber hinaus konnten wir das Zusammenspiel vieler Faktoren untersuchen – neben Einkommen, Vermögen, Bildung und Beruf auch die Größe der Stadt oder des Dorfes und die Art des geografischen Gebiets. All das ist über Umfragen aufgrund der begrenzten Stichprobengröße nicht zuverlässig möglich.Die Bobo-Linke? Das stimmt so nichtIn jüngeren Jahren hat sich die Ansicht durchgesetzt, die Arbeiterklasse habe sich komplett von der Linken abgewendet, wenn diese nicht sogar zu einer Sache für „Bobos“ geworden sei, also Bourgeoise Bohemiens: Ist es nicht so, dass vor allem vermögendere bürgerliche Schichten für die Linke stimmen? So will es ein Tenor, der von rechten Medien und konservativen Eliten verbreitet und gefördert wird.Wir zeigen dagegen, dass die These einer prinzipiellen Abwendung der Arbeiterklasse von den Linken nicht zutrifft – und auch nie zutraf. Die Untersuchung der fast 50 Parlaments- und Präsidentschaftswahlen seit 1848 ergab, dass die reichsten Kommunen stets und systematisch deutlich weniger für linke Parteien – historisch die Kommunistische und Sozialistische Partei, heute zunehmend La France Insoumise – gestimmt haben als für die Rechte, Mitte-rechts oder die Rechtsextremen.Zugleich neigten die ärmsten Wahlkreise im Allgemeinen deutlich stärker zur Linken, besonders in den Städten. Das ist bis heute so. Dieses – oft absichtliche – Missverständnis rührt daher, dass Kommentatoren die Arbeiterklasse oft nur mit den Arbeitskräften im verarbeitenden Gewerbe in Verbindung bringen. Sie vergessen, dass der Durchschnittslohn an Supermarktkassen, in der Gastronomie, bei Reinigungsunternehmen, in der Pflege und anderen Dienstleistungsberufen seit Jahrzehnten unter den der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe gefallen ist.Die politische Landschaft Frankreichs sieht so aus: Niedrigverdienende urbane Schichten, die tendenziell in der Dienstleistungsbranche arbeiten und zur Miete wohnen, wählen links, während der Teil der Arbeiterschicht, der außerhalb der großen Städte lebt, in Industrie und Gewerbe beschäftigt ist sowie über Wohneigentum verfügt, mit größerer Wahrscheinlichkeit Parteien am rechten Rand wählt.Stadt und Land – der neue KonfliktEine so scharfe Trennung zwischen Geringerverdienenden in großen und kleineren Städten sowie auf dem Land gab es nicht schon immer. Doch wird der politische Konflikt in Frankreich seit den 1990er-Jahren – wie auch schon Ende des 19. Jahrhunderts – vor allem durch zwei Faktoren bestimmt: durch den Gegensatz zwischen Stadt und Land sowie durch den sozioökonomischen Status – also Einkommen, Vermögen, Bildung, Wohneigentum. Anders gesagt: Die Linke hat die Stimmen der ärmeren Bevölkerung in urbanen Gebieten behalten – aber eben auch nur diese. Wir können zeigen, dass ein Faktor noch nie so wichtig war wie heute, den wir „geosoziale Klasse“ nennen: Der sozioökonomische Charakter einer Kommune in Kombination mit ihrer Größe erlaubt es, zu 70 Prozent zu erklären, warum in den letzten Präsidentschaftswahlen unterschiedlich abgestimmt wurde. Im Vergleich war diese Größe 1981, als François Mitterrand gegen Valéry Giscard d’Estaing gewann, „nur“ zu 50 Prozent ausschlaggebend – 1848 nur zu 30 Prozent. Vielleicht noch überraschender ist, dass die Aussage fast gleich bleibt, wenn man die Aspekte Identität und Einwanderung hinzufügt. Was heißt das?Nicht einmal für Rechtswähler ist Migration allentscheidendZunächst einmal widerspricht dieser Befund der meist ohne jede Empirie vorgebrachten These, dass das Thema Migration bei Wahlen ausschlaggebend sei. Das stimmt nicht einmal für diejenigen, die für die Rechtspartei RN (Rassemblement National) stimmen. Tatsächlich haben sozioökonomische Fragen den größten Einfluss auf die Wahlentscheidung. Wenn Lohnbeschäftigte seit den 1990ern nach rechts tendierten, lag das vor allem daran, dass sie überproportional von Globalisierung und Deindustrialisierung betroffen waren, sowie am fehlenden Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen. Daher fühlten sie sich von der Linken im Stich gelassen, die in den 40 Jahren zuvor in Frankreich an der Macht war. Natürlich können wir daraus Lehren für das ziehen, was derzeit in anderen Ländern geschieht. In ganz Europa muss die Linke die Wähler davon überzeugen, dass sie Schutz gegen Sozial-, Steuer- und Öko-Dumping bietet – nötigenfalls durch unilaterales Handeln.Unsere Studie gibt also Hoffnung: Der Mangel an öffentlichen Dienstleistungen in ländlichen Gebieten, die Deindustrialisierung, der ungleiche Zugang zu Eigentum und die zunehmende Ungleichheit können durch geeignete Maßnahmen angegangen werden. Identitätspolitik dagegen führt nur zu verschärften Spannungen und Konflikten in der Gesellschaft.Linke Parteien sollten sich darin bestärkt sehen, mehr für ärmere Leute in ländlicheren Gebieten zu tun. So können sie wieder stärker werden. Denn ärmere Menschen auf dem Land wie in der Stadt haben mehr gemeinsam, als oft angenommen wird. Das gilt hinsichtlich des schlechten Zugangs zu öffentlichen Dienstleistungen im Vergleich zu den reichsten Gemeinden. Wir stützen unsere Beobachtung, wie gesagt, auf den Anteil Eingewanderter in den jeweils betrachteten Wahlkommunen.Nun könnte man einwenden, dass im Gegensatz dazu den Wählern die Einwanderungsfrage durchaus wichtig ist, wenn sie gefragt werden. Ist das ein Widerspruch? Wir glauben nicht, und zwar aus zwei Gründen. Erstens bieten Umfragen nur eine begrenzte historische Perspektive. Deshalb haben wir uns auch entschieden, für unser Buch auf Wahldaten zurückzugreifen. Und auf dieser Basis ist es schwierig, verlässlich zu behaupten, dass sich Menschen heute „mehr“ über Einwanderung sorgen als in der Vergangenheit. Zweitens ist wichtig zu sehen, dass in Frankreich die rechtsextremen Wähler tatsächlich zweimal über das Einwanderungsthema abgestimmt haben: 1965 bei der Präsidentschaftskandidatur von Jean-Louis Tixier-Vignancour und 1974 mit Jean-Marie Le Pen. Seither hat sich jedoch die Beziehung zwischen rechtsextremen Wählern und dem Anteil an Eingewanderten offenbar verändert, zumal in den jüngsten 20 Jahren. Dieser Umstand wurde lange übersehen.Es geht um Infrastrukturen, Öffentliche DiensteNatürlich gibt es rechtsextreme Wähler, die in erster Linie gegen Migranten eingestellt sind – in Frankreich besonders die Anhänger Éric Zemmours. Aber diese Wählerschaft kommt nicht aus der Arbeiterklasse, sie ist eine der „bürgerlichsten“ Wählergruppen der Geschichte, wenn man auf Einkommen und Vermögen schaut. Auch sagen wir nicht, dass die Einwanderungsfrage einfach ist oder die Flüchtlingskrise leicht lösbar.Können unsere Ergebnisse auf andere Länder übertragen werden? Natürlich muss dafür die Methodologie ausgeweitet werden, das haben wir vor. Aber warum sollten sich die armen Wähler in Frankreich ganz anders verhalten als woanders? Sie stehen ja vor ähnlichen Bedrohungen – Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit, Lebenshaltungskosten, Klima. Womöglich überschätzen Parteien und Medien überall die Migrationsfrage – und haben den Blick dafür verloren, was den Wählern wirklich wichtig ist. Wir hoffen, zu einer Neuausrichtung beitragen zu können.Placeholder authorbio-1
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