Fast schon wie bei den Republikanern: Der Aufstand der deutschen Provinz
Landtagswahlen Niederbayern gegen München, Frankfurt am Main gegen Vogelsberg – und alle gegen Berlin: Die Provinz will sich nicht länger als billige Ressource zur Erhöhung städtischen Wohlstands ausbeuten lassen – und setzt auf ein Parteienlager
Rot ist hier nur mehr der Regenschirm: Szene aus dem bayerischen Landtagswahlkampf 2023
Foto: Wolfgang Maria Weber/Imago
Kaum liefen die ersten Zahlen über den Ticker, hatten die professionellen Bescheidwisser auch schon eine simple Erklärung parat: Die ungelöste Migrationsfrage habe das Ampeldesaster in Bayern und Hessen verursacht. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sei die kongeniale Verkörperung des Regierungsversagens gewesen.
Eine solche Schuldzuweisung führt jedoch in die Irre, denn ausgerechnet dort, wo es nur wenige Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende gibt, erhielten die drei Ampelbestrafungsparteien Union, AfD und Freie Wähler sehr viel mehr Zuspruch als in Gegenden, in denen sich die Ankommenden „stauen“.
In den Großstädten sind die Grünen stark
Nein, das Problem, das die Wahlergebnisse vom 8. Oktober ausdrücken, ist ä
usdrücken, ist älter als der jüngste „Migrantenstrom“ und liegt tiefer: In Bayern und Hessen zeigte sich (erneut!) ein Aufstand der Peripherie gegen die Großstadtparteien, die vom Land „da draußen“ keine Ahnung haben oder kaltschnäuzig meinen, die Provinzler würden schon schlucken, was sich das Zentrum in Berlin (oder in München oder in Wiesbaden) für sie ausdenkt. Da kommt eine Zumutung zur anderen, und irgendwann erscheint die Belastung so unerträglich, dass man resignierend hinschmeißt oder an der Wahlurne randaliert.Wer die Wahlergebnisse in Bayern und Hessen genauer studiert, erkennt schnell, dass die Großstadtparteien Grüne, SPD, FDP (und die Rest-Linke) in der Provinz kaum einen Stich machten, und umgekehrt: dass die Provinzparteien AfD und Freie Wähler in der Großstadt nur wenig Chancen haben. Wie extrem die Polarisierung ausfällt, sieht man an Frankfurt am Main und München, wo die Grünen Direktmandate mit bis zu 44 Prozent der Erststimmen gewinnen, während sie im Outback der bayerisch-tschechischen Grenzregion bei vier oder fünf Prozent und im Mittelhessischen Bergland bei acht Prozent steckenbleiben. Umgekehrt erzielen die Freien Wähler im ehemaligen bayerischen Zonenrandgebiet und die AfD im Mittelhessischen Bergland bis zu 30 Prozent, während sie in München, Frankfurt und anderen Universitätsstädten oft unter der Fünfprozenthürde bleiben.Deutschland zerfällt – wie die USA – in zwei große „Parteienverbände“, die jeweils unter sich bleiben. In den Großstädten teilen sich die Ampelparteien SPD, Grüne und FDP, die zusammen das deutsche Pendant zu den US-Demokraten bilden, die Wählerschaft, während auf dem Land Union, AfD und Freie Wähler (das Pendant zu den US-Republikanern) um die Bürgergunst ringen. Beide Lager driften immer weiter auseinander und nehmen von den Problemen der anderen Seite kaum noch etwas wahr.Grundwasser, Flächenfraß, Pendeln in die StadtDiese territoriale Entflechtung hat nicht erst 2015 mit der ersten großen Migrationswelle begonnen. Sie ist vielmehr das Ergebnis eines 30-jährigen Wirtschaftsmodells, das die gleichmäßige Entwicklung aller Regionen durch das neoliberale Konzept der einseitigen Bevorzugung von Metropolregionen ersetzt hat. Das Prinzip lautet: die Starken stärken und die Schwachen abhängen. Die Metropolregionen um die Großstädte herum bekommen jede erdenkliche Förderung, von günstigen Bedingungen für internationale Investoren bis zur großzügigen Alimentierung von Exzellenzuniversitäten, während die Provinz das Nachsehen hat.So zapfen die Großstädte der Provinz das Grundwasser ab, zerschneiden und zerfasern Natur und Siedlungen mit Straßen, Schienen, Gewerbegebieten, Autohöfen und Parkplätzen, die in erster Linie den Städten dienen, beuten Sand- und Kiesgruben aus, nutzen Wälder und Seen als kostenlose Erholungsreviere und betrachten die Provinz als billige Ressource zur Erhöhung des eigenen Wohlstands. Der öffentliche Nahverkehr auf dem Land wird ausgedünnt, Arztpraxen und kleine Krankenhäuser verschwinden, Geschäfte und Kneipen schließen, der Glasfaserausbau stockt, höhere Schulen in der Nähe bleiben Mangelware, die Jugend flieht in die Großstadt.Und schließlich wird auch noch alles teurer und umständlicher: der Treibstoff für das Pendeln zur Arbeitsstelle in der Stadt (wenn man überhaupt noch in die Stadt fahren darf), das Bauen auf dem Land mit seinen tausend Vorschriften, der verlangte Heizungstausch, die fehlenden Ladesäulen für Elektroautos, die pingeligen Öko-Vorschriften für Landwirte und so weiter und so fort.Wer wird Kanzlerkandidat der Union?Kein einzelner Punkt davon hätte einen Aufruhr erzeugt, aber zusammengenommen reichte es, und da sich die Union um die Sorgen in der Provinz nicht mehr genügend zu kümmern schien, stießen Freie Wähler und AfD in die Lücke, so wie in den 1950er Jahren die Bayernpartei und der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE). Damals konnte die Union die rechtskonservative Konkurrenz wieder einfangen, doch diesmal könnte es misslingen. Erste Reaktionen zeigen bereits, wie routiniert ideenlos die Parteiführungen auf das Wahlergebnis reagieren.Die Union scheint zu glauben, sie dürfe sich – nach all der Aufregung um Brandmauern und antisemitische Flugblätter – wieder zurücklehnen, da sie ihre beiden Ministerpräsidentenposten ja souverän verteidigt hat: in Hessen durch unerwartet hohe Zugewinne, in Bayern durch eine schwer erkämpfte Stagnation auf hohem Niveau. Einen eindeutigen Hinweis, welche Wahlkampf-Strategie der Union denn nun besser wäre gegen die neuen Mitbewerber aus dem provinzbürgerlichen Lager, gibt das Ergebnis auch nicht her. Weder die Angela-Merkel-Variante Boris Rhein noch die Friedrich-Merz-Variante Markus Söder konnte den Aufschwung von AfD und Freien Wählern verhindern. In Hessen ist die AfD zwar um vier Prozentpunkte stärker als in Bayern, aber in Bayern gibt es neben der AfD noch eine spezielle Aiwanger-AfD.Der Brandmauer-Streit und die Koalition in BerlinDer Streit über Brandmauern wird also genauso fruchtlos fortgesetzt werden wie das notorische Beschweigen der gesellschaftlichen Spaltung zwischen Großstadt und Provinz. Die Union wird ignorieren, dass die Freien Wähler in Niederbayern und die AfD-Anhänger in Franken und Schwaben genauso wütend gegen ihr Oberzentrum München aufbegehrten wie die AfD-Anhänger in den Landkreisen Wetterau und Vogelsberg gegen ihr Oberzentrum Wiesbaden. Und ganz oben, im Superzentrum Berlin, wird weiterhin verdrängt, dass sich hier auch der Frust über eine Großstadtparteienregierung ausdrückt, die der deutschen Provinz fremder gegenübersteht als der Ukraine oder Israel.Diese Großstadtparteien, so erzählen es die rechten Wahlgewinner vom vergangenen Sonntag gern, reisen durch die Welt und verteilen Gelder und Förderprojekte, aber zu Hause scheuen sie die „dumpfe Provinz“, damit wollen sie nichts zu tun haben, das ist Ländersache. Immer wieder drücken sie der Bevölkerung unausgegorene Gesetze aufs Haupt, und die Länder und Kommunen sollen sich dann gefälligst um die Umsetzung kümmern und das heillose Stückwerk auch noch finanzieren. Dass sich die Bundesländer immer häufiger über alle Parteigrenzen hinweg gegen die amateurhaften Gesetze des Bundes zur Wehr setzen, scheint in Berlin nicht recht durchzudringen. Auch nicht, dass sich im Bundesrat viel Ärger über die mageren Hauptstadtleistungen angestaut hat.Realitätsverleugnung à la SPDDoch wie man den beratungsresistenten Kanzler so kennt, wird er mit einem Schmunzeln über alle Ergebnisse hinweggehen und prophezeien, dass der Spuk der Freien Wähler und der AfD im Wahljahr 2025 wieder vorbei ist. Denn er, Olaf Scholz, werde in den kommenden zwei Jahren eine „sehr, sehr gute Politik“ machen. Das Fatale an dieser Realitätsverleugnung ist, dass die SPD-Führung – die schwächste, die es in den letzten 50 Jahren gegeben hat – immer noch gute Miene zum bösen Spiel macht. Von ihr kommt seit Jahren keine Gestaltungsidee, die über Unterpunkte in Koalitionsverträgen hinausginge, weder von Kurzzeitrebell Kevin Kühnert noch von den DoppelspitzengenossInnen Lars Klingbeil und Saskia Esken. Auch Rolf Mützenichs Stillhalten der Fraktion lässt Außenstehende rätseln, ob er nur den Deckel auf den Fraktionstopf hält, damit dieser nicht überkocht, oder ob im Topf gar nichts mehr ist, was noch explodieren könnte. Man wird also das Ergebnis vom Sonntag „sehr sorgfältig analysieren“ und dann, wie üblich, zur Tagesordnung übergehen.Die Einzigen, die wirklich Konsequenzen aus dem Wahlergebnis ziehen könnten, sind die Freidemokraten. Die FDP könnte, entlang der Kubicki-Schäffler-Demarkationslinie, auseinanderbrechen und so das Ende der Koalition einläuten. Begründung: Die Ampelparteien haben in Bayern und Hessen fast eine Million Stimmen gegenüber 2018 verloren, genug, um das missglückte Regierungsexperiment endlich zu beenden. In der deutschen Geschichte waren die Liberalen stets die spaltungsfreudigste aller Parteien.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.