Mehr als 24 Prozent der ukrainischen Bevölkerung ist verarmt
Kriegsfolgen Krieg als schwere soziale Bürde: Tausende strömen in die Pfandhäuser, um persönlichen Besitz aus Bargeldmangel zu beleihen. In Kirchen, wie in der Stadt Irpin, werden Tafeln zur Verteilung von Brot und Nahrungsmitteln eingerichtet
Aus Bachmut Evakuierte in Tschassiw Jar, April 2023
Foto: Yan Dobronosov/Global Images Ukraine/Getty Images
In eines der Kiewer Pfandhäuser ist Oleksandra (40), eine gut gekleidete Frau in Wollmantel mit Kapuze und Nike-Turnschuhen, gekommen, um ihre Nähmaschine einzulösen. Wie alle Besucher an diesem Ort möchte sie ihren Familiennamen nicht nennen, aber ungeachtet dessen etwas von sich erzählen. Als der Krieg im Februar 2022 begann, habe sie als Buchhalterin für eine Firma gearbeitet, die damals 14 Mitarbeiter beschäftigte. Inzwischen seien alle entlassen, sie selbst habe Mühe, wieder eine geregelte Arbeit zu finden. Als ihre Ersparnisse wie die vieler anderer zur Neige gingen, begann sie, ihren Besitz zu verpfänden, um über die Runden zu kommen. Erst jetzt habe sie wieder einen Job gefunden, sodass sie ihre Maschine zurückfordern könn
;nne.Als Oleksandra gegangen ist, freilich ohne auch ihr Mobiltelefon einzulösen, bemerkt der Kassierer Oleksandr Stepanow hinter seinem Glasfenster, „an einem geschäftigen Tag“ kämen bis zu 50 Leute in das Pfandhaus, um vorwiegend Haushaltsgeräte abzugeben. Wer es sich leisten könne, tauche nach zwei oder drei Wochen wieder auf, um einzulösen, was vorübergehend verpfändet war. Fast die Hälfte seiner Kunden, fügt Stepanow hinzu, könne dies nicht. Es bleibe ihm dann überlassen, die Artikel aus seinem Lager weiterzuverkaufen, Displays von Telefonen, teure Uhren oder auch Kaffeemaschinen. „Die Menschen kämpfen mit dem Krieg. Ihnen fehlt das Geld, weil sie ihre Arbeit verloren haben. Die Preise sind ja derart in die Höhe geschossen und selbst für die kaum zu bezahlen, die noch ein festes Einkommen haben.“Die Szene im Pfandhaus zeugt von wachsender Armut und offenbart Realitäten, die so gar nichts mit dem oberflächlich vitalen Treiben in Kiews Restaurants und Bars zu tun haben, wo es schwierig ist, einen Tisch zu bekommen, und ein prekäres Leben weit weg zu sein scheint. Laut einem aktuellen Bericht der Weltbank erfasste soziale Not Ende 2022 24,2 Prozent der ukrainischen Bevölkerung nach 5,5 Prozent ein Jahr zuvor. 7,1 Millionen Menschen seien von Armut betroffen, was besonders für ländliche Regionen gelte, die jedoch außer Sichtweite seien. Dies korrespondiert mit einer Arbeitslosenquote von 36 und einer Inflationsrate von fast 27 Prozent. Arup Banerji, Regionaldirektor der Weltbank für Osteuropa, warnt davor, dass sich diese Tendenz für Jahre verstetigt.Preisanstieg von 40 bis 50 ProzentHinter seinem Schalter im Pfandhaus beschreibt Oleksandr Stepanow die allgemeine Lage derer, die bei ihm etwas hinterlassen müssen. „Wenn die Preise allenthalben steigen, dann am krassesten bei Lebensmitteln und Treibstoff, ein Plus von 40 bis 50 Prozent. Vor dem Krieg ging meine Frau zum Einkaufen in den Supermarkt und es kostete 200 Griwna, jetzt zahlt sie für die gleichen Waren 400 bis 600.“ Viele sind auf Almosen angewiesen, egal in welcher Größenordnung.In der Stadt Irpin vor den Toren Kiews, wo zu Beginn des Krieges heftig gekämpft wurde, als russische Panzerkolonnen versuchten, die Hauptstadt einzunehmen, wird gerade eine zerstörte Brücke aufgebaut. Gleiches trifft auf beschädigte Gebäude zu, Kräne und Arbeitstrupps sind im Einsatz. Auch wenn der Bodenkrieg in Irpin lange vorbei scheint, sind die Folgen für die Stadt allein schon deshalb gravierend, weil die Bevölkerung durch Binnenvertriebene, die den Fronten im Süden und Osten entkamen, enorm gewachsen ist. Ein sichtbares Zeichen für Armut und Not findet sich in einer Kirche, wo Priester kostenlos Brot verteilen. Sie tun das an einem der derzeit belebtesten Orte der Stadt. Tagsüber stehen immer mindestens 500 Menschen nach einem Laib Brot an. Der Andrang ist so groß, dass ein Zelt und mehrere Tische außerhalb des Gotteshauses aufgebaut wurden, um den Bedürftigen auch gebrauchtes Schuhwerk, Kleidung und Kinderspielzeug zukommen zu lassen.Weronika Prawyk, eine Bewohnerin Irpins, sucht nach Windeln für ihr kleines Kind, die manchmal verfügbar sind, heute aber nicht. Sie erzählt eine typische Geschichte. Die 30-Jährige, die vor dem Krieg im Einzelhandel arbeitete, verlor ihren Job und floh mit ihrer Familie für sechs Monate nach Spanien, „wo meine Ersparnisse regelrecht verbrannt sind, sodass ich im Herbst in die Ukraine zurückkehrte. Augenblicklich arbeite ich nicht, nur mein Mann tut das. Doch kann man von einem Gehalt sehr viel weniger kaufen, als das früher der Fall war. Wir mussten viel Geld ausgeben, um unsere Wohnung im zurückliegenden Winter heizen zu können. Ich hätte nie gedacht, dass wir einmal so leben würden. Vor dem Krieg haben wir alles geschafft. Wenigstens müssen fast alle gleich leiden“.Viele Menschen arbeiten in der Ukraine für einen HungerlohnIn seinem Büro schildert Pfarrer Witali Kolesnyk, der mit seinem Kollegen Wasyli Ostrij die Brotverteilung organisiert, wie er die Lage in Irpin sieht. Einen der größten privaten Arbeitgeber habe es mit einem Betrieb der Holzverarbeitung gegeben, der etwa 400 Mitarbeiter beschäftigte, doch seien die Fabriken an ihren drei Standorten während der Kämpfe schwer beschädigt worden. Daraufhin sei die Firma in die Westukraine umgezogen und die Arbeiter in Irpin wurden entlassen. „Viele Leute hier sind bereit, für einen Hungerlohn zu arbeiten. Was bleibt ihnen übrig? Die Gehälter sind jetzt viel niedriger, als sie einmal waren. Aber die Leute schlucken alles, um etwas Geld zu verdienen.“Während der Geistliche in seiner Kirche die Brotverteilung für die Binnenvertriebenen verfolgt, kommt er auf eine symptomatische Anekdote zu sprechen. „Wir sehen, dass einige Leute in ihren Autos vorfahren, um sich ein kostenloses Brot geben zu lassen, welches sonst umgerechnet einen Dollar kosten würde. Wir sprechen und beten mit den Menschen, damit sie ertragen, was passiert. Ich denke, dass es vor allem für Jüngere schwieriger wird. Die Rentner, die Sie hier sehen, bekommen Beihilfen. Es sind zwar nur 50 Dollar im Monat, aber immerhin etwas.“Die Ökonomin Olena Bilan sieht ebenfalls eine sich verschärfende Krise. „Die Situation wäre ohne riesigen finanziellen Beistand der internationalen Gemeinschaft, inklusive der Zusagen für 43 Milliarden Dollar, noch viel schlimmer. Wir haben einen Rückgang des Bruttoinlandsproduktes um 30 Prozent. Der Ukraine fehlen die Häfen, über die sie früher Waren exportiert hat. Zudem hat unsere Währung gegenüber dem Dollar um 20 Prozent an Wert verloren.“Placeholder authorbio-1
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