Die Klassenfrage ist zurück in der deutschsprachigen Literatur
Foto: Anni Wilms/bpk
Wecker. Aufstehen. Rasieren. Kaffeemaschine. Auto. Meine frühesten Erinnerungen haben mit der Maloche meines Vaters zu tun“, erinnert sich der Kolumnist, Reporter und Literaturkritiker Martin Becker an seine Kindheit. Er kommt aus einer Arbeiterfamilie, der Vater fuhr in die Zeche, die Mutter malochte als Schneiderin. „Sie haben nicht gearbeitet, um zu leben. Sie haben gearbeitet, um noch mehr zu arbeiten.“
Die Klassenfrage ist zurück in der deutschsprachigen Literatur, auch dank der soziologisch grundierten Texte von Annie Ernaux, Didier Eribon oder Édouard Louis. Die soziale Herkunft hat in Zeiten der Identitätspolitik aber auch unabhängig vom französischen Vorbild an Bedeutung gewonnen. Autoren/Autorinnen wie Christian Baron, Deniz Ohde, Ma
z Ohde, Marlen Hobrack, Daniela Dröscher oder Domenico Müllensiefen gehen in ihren autofiktionalen Bestsellern Fragen der sozialen Prägung auf den Grund. Die in ihren Büchern beschriebenen Milieus sind mal kleinbürgerlich, dann wieder proletarisch, migrantisch oder prekär beziehungsweise alles irgendwie auf einmal.Die Arbeit der Eltern, ob dauerhaft, wechselnd oder fehlend, hat zweifelsohne eine enorme Bedeutung für die soziale Lage. Der von Wolfgang Schiffer und Dinçer Güçyeter herausgegebene Sammelband Türschwellenkinder gibt viele Einblicke in die Prägung von Kulturschaffenden durch die erlebte Arbeit der Eltern. Den Band kann man als facettenreiche Erweiterung von Güçyeters Deutschlandmärchen begreifen, für das der Autor und Verleger aus Nettetal vor wenigen Wochen den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat. In seinem wort- und bilderstürmenden Märchen legt der sympathische Peter-Huchel-Preisträger (der Freitag 06/2021) die Gastarbeiter-Erfahrung seiner Eltern offen.Die hier zusammengetragenen Texte steuern nun weitere Perspektiven zum Sub-Genre der Arbeitererzählung bei. Autoren/Autorinnen wie Henning Ahrens, Zoë Beck, Nadire Biskin, Lütfiye Güzel, Ulrike Almut Sandig, Tijan Sila oder Senthuran Varatharajah sowie Verleger wie Michael Faber oder Jörg Sundermeier erzählen facettenreich vom Leben und Überleben in der Arbeiterklasse, ohne klassenkämpferische Töne anzuschlagen. Entsprechend vielfältig sind die Erfahrungen und Perspektiven. Sie reichen von Schilderungen des Arbeitsalltags der Eltern über Karrierewege bis hin zu den Auswirkungen der Arbeit auf das Privat- und Familienleben, handeln von Arbeitsverhältnissen und Karrierebrüchen, (enttäuschten) Hoffnungen und Träumen sowie dem ebenso elenden wie unermüdlichen Kampf der Gastarbeiter:innen in Deutschland.Die Wut der Mütter über die HaushaltsarbeitViele Autoren/Autorinnen stellen (auch) die sonst übersehene Haushaltsarbeit der Mütter in den Vordergrund. So erhält nicht nur die „unsichtbare Gefangenschaft, in der sich das Private mit der tagtäglichen Arbeit kurzschloss“, Sichtbarkeit, sondern auch die Doppelbelastung jener Frauen, die einer Erwerbsarbeit nachgingen. „Samstags gehört Mutti mir. Pustekuchen“, erinnert sich der Lyriker Arnold Maxwill. „Sie gehörte der Waschmaschine, dem Wischmopp, dem Staubsauger, auch dem Flickzeug, den Schubladen, der Badewanne und allen dazugehörigen, teils widerspenstigen Körpern, dem Bettzeug, Kleiderschrank etc. Nach der Arbeit ist vor der Arbeit. Oder so ähnlich.“ Die Wut über die Ungerechtigkeit, dass das bisschen Haushalt immer an den Frauen hängenblieb, floss lange Zeit in den Schrubber, wie Lütfiye Güzel zeigt. „meine mutter macht tee, mein vater trinkt ihn, sie steht um sechs uhr auf & putzt die treppen, manchmal auch um unsere beine herum & hindurch, dann weiß ich, dass sie wütend ist & zu viel arbeitet.“Allein die aufwühlenden Texte, die sich mit migrantischen Schicksalen auseinandersetzen, lohnen die Lektüre dieses Bandes. Der Lyriker und Übersetzer José F. A. Oliver hat einen aufregenden Text beigetragen, der vom Ankommen in Land und Sprache handelt. „Aus Worten w:erden W:orte“, heißt es vielsagend darin. Senthuran Varatharajahs mit Tamil versetzter Gesang erzählt von seinem Vater, der in den 80ern als Flüchtling nach Deutschland kam und zwischen Schicht- und Gottesdienst hin- und herpendelte. taz-Autorin Doris Akrap sowie Rassismusexperte Ozan Zakariya Keskinciliç schreiben über den Arbeitseifer ihrer Väter, die als Gastarbeiter „noch mehr Geld verdienen“ mussten, „damit Nene und Dede, und Hala und Eniste und Teyze und Amca auch ein schönes Leben haben“. Der Fortschritt durch Arbeit galt eben nicht nur dem eigenen Schicksal, sondern war auch „für das Leben all der anderen um einen herum“ bestimmt. In Geschichten wie diesen wird die besondere Lage der Migranten in der arbeitenden Bevölkerung deutlich, da entwickelt der Band eine fast soziologische Kraft. Bourdieu würde sich angesichts dieser Erzählungen die Hände reiben, da sie seine Theorien zur sozialen Ungleichheit bestätigen.Die hier versammelten, vom Leben geschriebenen Geschichten reichen von der Nachkriegszeit bis in die 90er Jahre. So bilden sie auch die Modernisierung der Arbeitswelt ab, die ganze Berufe ausradiert, Umschulungen verordnet und Neuanfänge erzwungen hat. Dabei stellen die Texte mal mehr auf die persönlichen, dann wieder auf die zeithistorischen Verhältnisse ab, wobei die Schwelle zwischen Privat und Beruf sowie Familie und Gesellschaft permanent wechselseitig überschritten wird. In der großteils akademischen Literaturlandschaft lohnt es sich, den Berichten und Erinnerungen der Türschwellenkinder Aufmerksamkeit zu schenken. In ihnen erfährt man aus erster Hand, wie Herkunft die Wahrnehmung der Welt prägt. Sie sch:reiben sich eindrucksvoll dieser Welt ein.Bei aller Unterschiedlichkeit vereint die hier versammelten Arbeiter- und Bauernkinder ein Bewusstsein dafür, wie die Arbeit der Eltern das eigene Sein und Handeln bis heute prägt, auch wenn die eigene Arbeit schon lange nichts mehr mit der der Eltern zu tun hat. „Ich bin woanders“, schreibt Verbrecher-Verleger Jörg Sundermeier. „Doch selbst da, wo ich gerade bin, komme ich immer von dort her, wo ich anfangs war.“Placeholder infobox-1