„Rottet die Bestien aus!“ von Sven Lindqvist: Der Pressluftbohrer der Geschichte
Kolonialerbe Sven Lindqvists großer Reportage-Essay „Rottet die Bestien aus! Eine Reise auf den Spuren des europäischen Völkermords“ kam für das breite Publikum zu früh. Gut, dass er nun neu verlegt wird
Belgische Kolonie Kongo – unzählige Hände wurden abgehackt, Kinder ermordet, ganze Dörfer in Brand gesteckt
Foto: Apic/Bridgeman via Getty Images
Im Jahr 1887 hatte der schottische Tierarzt J. B. Dunlop die Idee, das Fahrrad seines kleinen Sohns mit einem aufblasbaren Schlauch zu versehen. Das im Jahr darauf erteilte Patent löste eine Entwicklung aus, die er sich wohl in seinen schlimmsten Albträumen nicht hätte vorstellen können. Die Nachfrage nach Gummi wurde binnen kürzester Zeit so groß, dass die Produktion des zu seiner Herstellung benötigten Kautschuks in der belgischen Kolonie Kongo mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gesteigert wurde. Das Land befand sich in Privatbesitz von König Leopold II. Seine Repräsentanten verhängten eine Arbeits- und Lieferpflicht über die einheimische Bevölkerung, die mit äußerster Brutalität durchgesetzt wurde. Un
Unzählige Hände wurden abgehackt, Kinder ermordet und ganze Dörfer in Brand gesteckt. Mit dem auf diese Weise erzielten Gewinn baute man Monumente, die bis heute das Stadtbild von Brüssel prägen – darunter die zum Sightseeing-Programm gehörenden Arcades du Cinquantenaire.Wie wir Sven Lindqvists im schwedischen Original bereits 1992 erschienenem und in 15 Sprachen übersetztem Buch Rottet die Bestien aus! entnehmen können, waren die Beteiligten und Profiteure kolonialer Massaker bereit, ganze Völkerschaften zu vernichten, um sogenannten westlichen Werten auf dem gesamten Globus Geltung zu verschaffen. Der vor vier Jahren verstorbene Schriftsteller stellt heraus, wie der vielfache Massenmord an indigenen Völkern Amerikas, Afrikas, Australiens und weiter Teile Asiens nicht zuletzt auch mit Hilfe moderner Wissenschaft legitimiert wurde. In seinem 1871 veröffentlichten Buch Die Abstammung des Menschen hatte Charles Darwin erläutert, dass es zwischen den Affen und dem zivilisierten Menschen Zwischenformen wie Gorillas und „Wilde“ gebe, die zum Aussterben verurteilt seien. „In einer Zukunft“, so Darwin, „die in Jahrhunderten gerechnet nicht weit entfernt liegt, werden die zivilisierten Menschenrassen ziemlich sicher die wilden Rassen überall auf der Welt ausrotten und ersetzen“. Auf dieser Grundlage waren auch viele fortschrittlich eingestellte Zeitgenossen gestimmt, den vor ihren Augen durchgeführten Völkermord mit einem Achselzucken hinzunehmen oder das vermeintlich ohnehin unvermeidliche Aussterben nach Kräften zu beschleunigen, um die Leidenszeit der in kultureller Hinsicht offenbar zurückgebliebenen Artgenossen abzukürzen. Das war die Luft, schreibt Lindqvist, die Adolf Hitler „und all die anderen Menschen der westlichen Welt während seiner Kindheit atmeten“. Für die nationalsozialistische Eroberung von „Lebensraum im Osten“ habe die vorrangige Auslöschung indigener Bevölkerungsgruppen durch den europäischen Kolonialismus als eine Art Blaupause gedient.Schon 1904 hatten die nach imperialer Weltgeltung strebenden Deutschen in Südwestafrika gezeigt, dass sie sich ebenso gut auf Massenmord verstanden wie ihre europäischen Vorbilder während des zurückliegenden Jahrhunderts. „Nach nordamerikanischem Vorbild wurden dem Volk der Herero Reservate zugewiesen, ihr Weideland wurde an deutsche Einwanderer und Kolonialgesellschaften übergeben. Als die Herero Widerstand leisteten, erließ General von Trotha den Befehl, das Volk der Herero auszurotten. Jeder Herero, der innerhalb der deutschen Grenzen mit oder ohne Waffen angetroffen wurde, sollte erschossen werden. Aber die meisten starben gewaltlos. Die Deutschen trieben sie einfach in die Wüste hinaus und machten die Grenzen dicht.“Die kolonialen Ausrottungskriege, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus sicherer Distanz mit Maschinengewehren und schwerem Geschütz gegen Speere, Musketen und Pfeil und Bogen geführt wurden, erschienen beteiligten Kolonialoffizieren wie dem späteren britischen Premier Winston Churchill oder Robert Baden-Powell, dem Gründer der Pfadfinderbewegung, als vergleichsweise risikoloses Abenteuer. Gelang ein Sieg ohne Gemetzel, machte sich zuweilen Enttäuschung breit. „Ich habe den kleinen Ausflug wirklich genossen“, schreibt Baden-Powell an seine Mutter, „bedauere allerdings, dass es nie zum Kampf kam, was leider auch bedeutet, dass wir keine Medaillen bekommen werden.“In zeitgenössischen Romanen wie H. G. Wells’ Krieg der Welten finden wir das Grauen, das diese Haltung gegenüber vorgeblichen „Wilden“ unweigerlich hervorbrachte, auf eindrückliche Weise gespiegelt. So wie die Briten für sich beanspruchten, die Gebiete „kulturloser Völker“ zu beherrschen, machen sich hier die Marsianer daran, die technologisch weit unterlegene menschliche Zivilisation auszumerzen. „Und bevor wir sie zu hart beurteilen“, lässt Wells seinen Erzähler reflektieren, „müssen wir uns erinnern, mit welcher schonungslosen und grausamen Vernichtung unsere eigene Gattung nicht nur gegen Tiere wie den verschwundenen Bison und den Dodo, sondern gegen unsere eigenen inferioren Rassen gewütet hat“.„Zivilisierte“ WeißeWenn Lindqvist Wells’ Romane als Metaphern für die Grausamkeit der europäischen Kolonialherrschaft interpretiert, ist das höchst plausibel. Man staunt, wie sehr dessen vor weit mehr als 100 Jahren zu Papier gebrachten Erzählungen vor allem durch Hollywood-Filme nach wie vor prägend für unser kulturelles Gedächtnis sind. Das gilt natürlich auch für Joseph Conrads von Francis Ford Coppola als Apocalypse Now verfilmten Roman Das Herz der Finsternis, über den Lindqvist bei einem Zwischenstopp auf seiner Reise nach Niger in der kleinen algerischen Stadt Salah beim Minztee nachdenkt.Einmal beobachtet er, wie unmittelbar vor ihm ein neuer, schicker Peugeot 504 anhält. „Zwei junge Männer, wie Börsenmakler in glänzende Anzüge gekleidet, steigen aus und gehen zu einem alten Mann, der an einem kleinen blechverkleideten und mit zwei überkreuzten Briefen geschmückten Schreibpult sitzt. Sie hocken sich in den Staub und der Alte schreibt ihren Brief. Wer ist hier dem Untergang geweiht? Die jungen, glänzenden Analphabeten? Oder der des Schreibens kundige Alte?“ An dieser Stelle kommt eine andere Qualität seines Buchs zum Tragen. Lindqvist kombiniert seine Geschichtsbetrachtungen auf fesselnde Weise mit Elementen einer Reportage. Vieles erweist sich beim zweiten Hinsehen als anders, als es zunächst scheint. So sind die im „sudanesischen Stil“ von weißen Säulen, Zinnen und Mauerkronen aufgelockerten, rotbraunen Lehmfassaden im Stadtkern von den Franzosen für die Pariser Weltausstellung 1900 kreiert worden. Und die Fahrt mit dem Bus und auf der Ladefläche eines Lastwagens geht auf unbefestigten Wüstenpisten und Schotterpisten weiter nach Süden. Er übernachtet in drittklassigen Herbergen und wird beim Zelten im Schlafsack von einem Sandsturm überrascht. Es geht vorbei an Tamarisken, Dünen, bizarr geformten Felsformationen, unzähligen Autowracks. „Man sitzt“, schreibt Lindqvist, „wie auf einem hüpfenden Pressluftbohrer. Das Blutfett wird durch die Vibrationen vermutlich zu Butter geschlagen. Gleichzeitig muss man ständig bereit sein, sich im Sattel aufzustellen und die wilden Sprünge mit der Muskulatur der Oberschenkel und der Arme aufzufangen statt mit dem Rückgrat. Aber jedes fünfte oder zehnte Mal merke ich nicht rechtzeitig, dass der Fahrer vom Gas gestiegen ist und werde plötzlich und mit voller Wucht Richtung Erdmittelpunkt geschleudert.“ Mit seinen zufälligen Reisebegleitern sitzt er dicht an dicht. „Schlanke Tuaregjünglinge mit kupferviolettem Schleier und langen dunklen Wimpern, eingehüllt in unerschütterliches Schweigen, umfangen von Menschen mit herzlichem Lachen, breitem Lächeln und üppigen Hinterteilen, die Frauen rund und bunt. Sind das die Wilden, die wir ‚zivilisierten‘ Weißen laut Darwin ausrotten werden? Es fällt schwer, sich das vorzustellen, wenn man im selben Minibus sitzt.“Der haitianische oscarnominierte Regisseur Raoul Peck hat sich für seinen vierteiligen Filmessay Exterminate All the Brutes, der 2022 auf Arte ausgestrahlt wurde, von dem Buch inspirieren lassen. In seinem Vorwort schreibt er, dass er es als eine Geschichte des Kapitalismus liest. Das ist es zweifellos. Darüber hinaus ist es aber ein herausragendes Stück Literatur: bei aller Brutalität immer auch poetisch, getragen vom humanistischen Ethos seines Autors und für einen Literaturprofessor erstaunlich frei von akademischen Jargon. „Er erschüttert uns, zutiefst und im Wesen“, schreibt Peck über seinen 2019 verstorbenen Freund, „weil sein Werk zugleich das Hier und das Anderswo, das Selbst und den Anderen, das Zentrum und die Peripherie anvisiert.“Placeholder infobox-1
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