Macht und Kontrolle: Algorithmische Angst

Kolumne In den sozialen Medien spüren wir die ständige Präsenz der Algorithmen, denen wir uns anpassen müssen. Diese Unruhe, die das oft auslöst, geht nicht weg, denn Plattformen sind auf sie angewiesen
Das Handy ist der neue Goliat
Das Handy ist der neue Goliat

Foto: Robyn Beck/AFP/Getty Images

Ein Kernversprechen des sozialen Internets ist, dass man immer ein Publikum haben kann. Die Plattformen versichern uns glaubwürdig, dass da immer jemand sein wird, der zuguckt, der uns wahrnimmt und uns bestätigt: Du bist da, ich sehe dich! Dieses Versprechen hat über die Jahre einen bedrohlichen Unterton erhalten, als Stück für Stück ins allgemeine Bewusstsein trat, wie wörtlich es gemeint ist. Im Plattform-Zeitalter guckt wirklich ständig jemand zu: Es ist die Plattform selbst, deren Roboterauge durch unsere Bildschirme hindurchlugt wie durch den halbdurchlässigen Polizeispiegel im Verhörraum einer amerikanischen Krimiserie. Es ist der Algorithmus, der uns ständig beobachtet.

Spätestens meine Generation – die letzten Ausläufer der Millennials bis hin zu den Anfängen von Gen Z (Zillennials) – ist sich dieser lauernden Präsenz ständig bewusst. Wenn wir ein Foto auf Instagram posten, sorgen wir uns, ob der Algorithmus es Leuten auch anzeigen wird oder zugunsten viraler Inhalte aus den Feeds unserer Freund:innen sortiert. Wird das neue TikTok womöglich vom Empfehlungssystem geschluckt, ein digitaler Ladenhüter in der letzten Plattformecke, ohne Likes? Lösch‘ mal lieber. Es ist dieselbe Nervosität, wie wenn man auf dem Weg in den Club noch am Türsteher vorbei muss: Bin ich cool genug, um zu den schönen, lässigen Menschen drinnen dazugehören zu dürfen? Ich glaube schon. Aber nur seine Meinung zählt.

Auch wenn wir nur konsumieren, ist er ständig da. Ich habe in der letzten Kolumne geschrieben, dass Instagram oder TikTok am liebsten passive Konsument:innen haben, die stundenlang einfach nur durch Inhalte (und Werbung) scrollen. Das ist nur die halbe Wahrheit, denn tatsächlich sind wir währenddessen keineswegs passiv: Wir kuratieren ständig. Alles, was wir tun, ist ein Signal, Futter für die App, die versucht, mehr über uns zu lernen. Wir müssen unser Verhalten ständig kontrollieren und uns fragen: Was wird der Algorithmus von mir denken? Er will uns ein digitaler Spiegel sein – also posieren wir, zeigen uns im bestmöglichen Licht: Auf gar keinen Fall zu lange auf dem falschen Video verweilen, Likes nur bedacht verteilen, besser nicht auf dieses Profil klicken, sonst spuckt der Algorithmus mehr davon aus, und repräsentiert mich falsch oder – was noch schlimmer wäre – womöglich korrekt.

Rituale für den Algorithmus

Für dieses Gefühl, das Algorithmen auslösen, gibt es einen Begriff. In seinem neuen Buch Filterworld nennt der US-Journalist Kyle Chayka es Algorithmic Anxiety. Anxiety ist heute so allgegenwärtig, dass das Wort fast eingedeutscht ist. Es beschreibt einen auslaugenden Stress, eine pochende Sorge, die sich nicht auf nichts Bestimmtes richten muss, sondern ständig an uns nagt. Intuitiv würde man es als „Unruhe“ übersetzen, aber eigentlich, obwohl es zu dramatisch klingt, ist „Angst“ korrekt.

Der dänische Existenzialist Søren Kierkegaard unterscheidet zwischen Angst und Furcht. Furcht bezieht sich auf einen bestimmten Gegenstand, wir fürchten uns vor etwas. Doch Angst ist abstrakter, weniger greifbar, wir haben sie oft einfach, sie bezieht sich nicht immer auf etwas Konkretes. Wir umgehen sie durch Rituale, die wir uns aus einer Mischung aus Hörensagen und gelebter Erfahrung erfinden. Um beim Türsteher-Beispiel zu bleiben: wir tauchen zu bestimmten Uhrzeiten auf, tragen bestimmte Klamotten, stellen uns in kleinen Gruppen an, immer so viele Männer mit so vielen Frauen.

Algorithmische Angst kreiert seine eigenen Rituale: Viele posten zu bestimmten Uhrzeiten, unterlegen Videos mit „trending“ Sounds, liken nur bestimmte Videos und stellen gelegentlich ein Selfie in die Story mit dem Beisatz „für den Algorithmus!“ Mal klappt das, mal klappt das nicht, aber das Ritual gibt Sicherheit, das ist sein Zweck. Solange wir jedoch keine Ahnung haben, wie die Algorithmen der Plattformen exakt funktionieren, muss die Angst bleiben. Solange der Club nicht aufschreibt, welche zehn Punkte man erfüllen muss, um an der Tür durchzukommen, sind wir in der Schlange weiter unruhig. Doch beides passiert nicht, denn wahr ist auch: Sollte der Club eine solche Liste veröffentlichen, verschwindet das Erfolgsgefühl, dass man es reingeschafft hat und damit sein Anreiz. Und auf dieselbe Weise funktionieren die Plattformen nur, solange wir den Algorithmus spüren – und immer ein wenig Angst vor seinem Urteil haben.

Maschinentext

Titus Blome beschäftigt sich in seiner Kolumne Maschinentext mit neuen Technologien.

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