Antisemitismus Während der Haft lernt Markus Berg schnell, dass sein Jüdischsein im Gefängnis keinen Platz hat. Täglich kämpft er gegen Antisemitismus – und mit seiner eigenen Schuld
Das Ploppen der Bierflasche hat sich ihm eingebrannt. Was für viele Erfrischung und Entspannung ist, signalisierte für das Kind Gefahr: Beschimpfungen, Erniedrigung und schlimmste Prügel. Noch bei den Pflegeeltern springt der Siebenjährige anfangs unter den Tisch bei diesem Geräusch: „Dät der Herr Berg jetzt suffe?“, brüllt er voller Angst in breitem Kölner Platt. Bis ihm irgendwann bewusst wird: Der Onkel ist tot. Er kann ihm nichts mehr antun.
Als mich dieser biografische Erinnerungstext im November 2023 erreicht, kenne ich den Verfasser noch nicht persönlich. Teil einer Bewerbung für den Ingeborg-Drewitz-Preis für Gefangene, ist die verstörende Geschichte unter dem Titel „Die Suche nach der Schuld und darü
örende Geschichte unter dem Titel „Die Suche nach der Schuld und darüber sein Leben zu verlieren“ auf vier linierten Seiten in sauberer Handschrift niedergelegt. Beim Lesen der Zeilen wird mir kurz flau: Er wird diesen Onkel doch nicht totgeschlagen haben? Erst später erfahre ich, weswegen Markus Berg* in Haft ist. Keine Tat gegen das Leben, kein Kinderschänder. Erleichterung.Fünf Monate zuvor hatte ein Brief in meinem Redaktionspostfach gelegen. Mit der aufgemalten Israel-Fahne auf dem Umschlag setzte er schon äußerlich ein Fanal. Im Rahmen eines Frei-Abonnements für Gefangene war Berg zufällig an den Freitag geraten, hatte das Interview mit dem Holocaust-Forscher Dieter Pohl gelesen und wandte sich an uns, um auf seine Situation als Jude in der Justizvollzugsanstalt Werl in Westfalen aufmerksam zu machen. Schon da monierte er, dass Inhaftierten mit muslimischem Hintergrund ein Gebetsteppich erlaubt sei, was er auch richtig findet, er aber angehalten worden sei, seine Kippa nicht öffentlich zu tragen.Was es für einen Juden bedeutet, in einem deutschen Gefängnis zu sitzen, zumal nach dem 7. Oktober, dem Beginn des Krieges im Nahen Osten, ist für Außenstehende kaum nachvollziehbar. „In deutschen Gefängnissen hat das Judentum keinen Platz“, schreibt Berg in seinem ersten Brief. Knast bedeutet auch Rechtlosigkeit, Ausgesetztsein und mühsame Verteidigung seiner Souveränität, selbst in einem Rechtsstaat. „Ich könnte hier einiges über meinen Rechtsanwalt einklagen. Das würde aber dazu führen, dass ich mit Repressalien zu rechnen habe. Wenn ein Beamter fragt: ‚Sie sind Jude?‘, sieht man auch seinen Blick und hört nicht nur die Worte.“Placeholder image-2Zwischen uns entspinnt sich ein lebhafter Briefwechsel, soweit dies die analoge Schwerfälligkeit, auf die wir angewiesen sind, zulässt. Denn Zugang zu Computer oder gar Internet gibt es in der Haft nicht, Berg verfügt nicht einmal über eine Schreibmaschine. Um das Gefälle formal zu mindern, benutze ich fortan eine Computer-Schreibschrift. Berg schreibt offenbar gerne und viel, in einem Brief erklärt er mir, dass er sich auf diese Weise von sich und seiner Situation distanzieren könne. Schreiben als Therapie.Die katholische PflegefamilieDen ersten Eindruck von dieser so ganz anderen Welt bekomme ich, als klar wird, dass jeder meiner Briefe geöffnet wird, bevor er den Adressaten erreicht, und umgekehrt. Als ich dem damals 53-Jährigen, der seine vierjährige Haftzeit dazu nutzt, sein Abitur nachzuholen, ein paar Reclam-Hefte schicken will, wird mir vom Sicherheitsbeamten am Telefon mitgeteilt, Päckchen oder Pakete von Privatpersonen seien verboten. Später erfahre ich, dass sich Süchtige Drogen, flüssiges Spice, auf Papier aufträufeln lassen und es ablecken. Die aufwendigen Kontrollen sind nicht leistbar. Ich bin perplex. Bald wird mir klar, dass Drogen das Hauptproblem sind im Knast, nicht nur in Werl. „Wir sind 17 Gefangene auf der Abteilung“, teilt mir Berg im Dezember mit, „wovon die Hälfte alle zwei Wochen für mehrere Tage wie Zombies durch die Flure geistert, nachdem sie Spice konsumiert haben. Zwei Gefangene sind in den letzten Monaten in eine Psychose gefallen.“ Die Gefangenen würden dann in einen besonderen kameraüberwachten Haftraum und nach zwei, drei Wochen wieder in den normalen Vollzug verlegt.Im Laufe des monatelangen Hin und Her lerne ich Berg ein bisschen näher kennen. Er ist offen, auskunftsfreudig und hält sich mit seinen Ansichten nicht zurück, egal ob es sich um die JVA handelt, Israel oder die Rechten in Deutschland. Aus den Fragmenten, die er mir mitteilt, setze ich mir ein vorläufiges Bild zusammen. Seine inzwischen verstorbene leibliche Mutter war eine aus Tel Aviv stammende Jüdin, der Vater katholischer Rheinländer. Die Eltern verschwinden, das Kind wächst zunächst bei der Großmutter und dem besagten gewalttätigen Onkel auf. Als Markus in die Schule kommt, nimmt ihn eine pädagogisch ambitionierte Pflegefamilie auf, er wird katholisch erzogen: „Sie wollten mich schützen.“ Von den Pflegeeltern, die eine so wichtige Rolle spielen werden, spricht er selbstverständlich als von seinen Eltern, er hat zwei Brüder, mit 14 nimmt er den Familiennamen an. Doch sein in Bayern lebender Großvater väterlicherseits habe ihn „früh spüren lassen, was er von mir als Enkel hält“, schreibt Berg. Das Kind versteht es nicht. „Heute bin ich ihm dankbar dafür, denn ohne ihn hätte ich mich wahrscheinlich nie so intensiv mit meiner Familiengeschichte auseinandergesetzt.“ Wegen des Großvaters habe er sich entschlossen zu konvertieren, nach jüdischem Recht ist er ohnehin Jude. „Es war so etwas wie meine Rache an ihm.“ Es wird dauern, bis ich diese komplizierte Familiengeschichte wirklich verstehe.Im Oktober der brutale Überfall der Hamas. Die Lage in Israel und Gaza liege ihm wie „Engelchen und Teufelchen im Kopf und auf der Seele“. Doch in seine in früheren Briefen sehr deutlich formulierte Kritik an der Politik Netanjahus schleicht sich ein neuer Ton: „Die Kritik hört für mich am Existenzrecht Israels auf.“ Er habe Mitleid mit den Palästinensern, doch „manche UN-Resolutionen machen mich sprachlos“. Seitenlang wägt er die Situation ab und konstatiert enttäuscht: „Mich verstört es, wie die Politik mit der Situation umgeht und was hier auf unseren Straßen passiert. Letzte Woche waren 10.000 Menschen in Berlin auf einer Kundgebung für Israel. In einer Stadt mit 3,5 Millionen Menschen! Das ist unsere Solidarität gegen Antisemitismus!“Die Hamas, Israel und der Krieg werden in der Folgezeit viel Raum in Bergs Briefen einnehmen. „Seit dem 7. 10. 2023 stelle ich mir jeden Tag die Fragen: Wer hat Schuld?“, schreibt er in einem der drei Beiträge für den Drewitz-Preis. „An diesem Tag spielt es für mich plötzlich keine Rolle mehr, wie mein Knastalltag aussieht, dass ich die nächsten Jahre in Haft verbringe. Den Schuldigen sehe ich jeden Tag im Spiegel. Meine Schuld!“ Wer aber, fragt er sich, trägt die Schuld an der Situation im Nahen Osten? Ist nicht auch der Westen mitverantwortlich, der Benjamin Netanjahu nicht in den Arm gefallen ist?Zwischendurch schlägt der Knastalltag dann wieder über ihm zusammen. Im Unterricht gibt es eine neue Regel: Wer während der Unterrichtszeit auf die Toilette will, darf nicht zurückkehren und bekommt die verpassten Stunden auch nicht bezahlt. „Ein klarer Verstoß gegen die Menschenwürde“, schreibt Berg empört. Er beschwert sich beim Justizministerium NRW, es gibt eine offizielle Untersuchung, die Bestimmung wird aufgehoben. Als wir uns Ende Januar endlich treffen, erzählt er, dass ihn diese Sache in tagelange Depressionen gestürzt habe. Die Willkür, mit der ein Bereichsleiter eine solche Verfügung durchgesetzt hat und Lehrer dem willfährig nachkamen, entsetzte ihn.In dieser Phase entschließe ich mich, Berg in Werl zu besuchen. Die JVA ist davon nicht begeistert, das entnehme ich auch Bergs Briefen. Mein offizielles Gesuch wird verschleppt, immer wieder vertröstet mich der zuständige Beamte für Sicherheit und Ordnung: Man habe wegen Bergs Eingabe beim Ministerium viel Trouble, wird mir bedeutet, und deshalb keine Zeit, über meinen Antrag zu entscheiden. Offenbar hofft man, mich so loszukriegen. Ich bleibe hartnäckig und überlege schon, an welchen Abgeordneten in NRW ich mich wenden kann. In Werl, schrieb Berg, „ist alles etwas komplizierter“.Ende November schließlich überraschend die Zusage. Ein Gespräch unter vier Augen ohne Aufpasser. In Bergs Briefen ist mittlerweile von seiner Angst vor Weihnachten die Rede. Bald endet der Unterricht, und über die Feiertage ist weitgehend „Einschluss“, die Häftlinge müssen viel Zeit in ihren Hafträumen verbringen. Festivitäten außer Kirchgang finden nicht statt. Die benachbarte Kirchengemeinde darf auch keine Geschenke mehr verteilen wie früher. „Was da draußen Feiertage sind, sind hier eher Tage der ‚Bestrafung‘“, schreibt Berg. „Man merkt deutlich, wie die Anspannung wächst. Alle sind gereizter, denn jeder weiß, was kommt.“ Zu gerne würde ich ihm etwas Gutes tun. Gleichzeitig ist da immer der Gedanke: Distanz halten.Auf dem Arm ein Israel-Tattoo31. Januar 2024, ein Dienstag. Fast wäre der lange geplante Besuch dem Bahnstreik zum Opfer gefallen. Einen Tag vor dem geplanten Streikende setzen sich die Züge nach Westfalen wieder in Bewegung. Vom Bahnhof in Werl, trist wie jeder beliebige Provinzbahnhof, geht es an diesem windigen Januartag über die Gleise, durch ein Wohngebiet. Zehn Minuten zu Fuß, hatte mir der Beamte etwas euphemistisch gesagt. Niedrige Wohnhäuser rechts und links, ein Kindergarten, Normalität. Nach der Kirche endlich der Weg, der nicht aussieht wie der Zugang zu einem Gefängnis. Eine Frau mit Kinderwagen geht neben mir, ja, ich sei schon richtig. Ich laufe an einer hohen Backsteinmauer entlang, Überwachungskameras. Ein kleines Tor, ich stehe vor der Pforte. Beklemmung.In der 1906 erbauten JVA Werl sitzen zu dieser Zeit 754 Strafgefangene und 134 Sicherheitsverwahrte ein. Um den viergeschossigen Kreuzbau schmiegen sich hübsche denkmalgeschützte Dienstwohnungen. Medial bekannt ist die JVA vor allem durch Joe Bausch, von 1986 an hier Anstaltsarzt, der im Kölner Tatort den glatzköpfigen Gerichtsmediziner Joseph Roth spielt. Schon im Vorgespräch war ich eindringlich auf Verhaltensregeln hingewiesen worden. Kein Handy zum Aufnehmen, kein Computer, keine Tasche, rein gar nichts. „Ach, die Journalistin!“, begrüßt mich der Beamte an der Pforte, sagt aber nichts von den Wertkarten, die ich hier erwerben muss, wenn ich Süßigkeiten oder Getränke kaufen will. Ich bin überpünktlich und warte erst mal in einem Vorraum, wo darauf hingewiesen wird, dass es in der JVA für Besucher keine Toiletten gibt.Die Beamten, die mich in Empfang nehmen, sind auffallend freundlich und hilfsbereit, offenbar gebrieft. Die mitgebrachten Bücher für Berg darf ich zwar nicht mitnehmen, sie versprechen mir aber, dass ich sie beim Weggehen hinterlassen kann. Bei der Visitation finden sie zwei Zehn-Euro-Scheine in meinen Hosentaschen, puh, ein Gefühl wie einst am Grenzübergang zur DDR. Als alles verstaut ist, mache ich mich mit Kuli und einem alten Aufnahmegerät auf den Weg durch lange Gänge und über Treppen. Die Besucherzonen für normale Inhaftierte und Sicherheitsverwahrte sind strikt getrennt. Plötzlich aufgeregt wie bei einem Blind Date, versorge ich uns erst einmal mit Automaten-Junkfood. In der regulären Besucherzone sitzt ein Inhaftierter mit seiner Familie. Ein spielendes Kleinkind, das hier ganz fehl am Platz wirkt. In einem Glaskäfig eine Sicherheitsbeamtin.Dann stehen wir uns gegenüber in dem kleinen, kahlen Besprechungsraum, ein Tisch, zwei Stühle, in dem wir die nächsten drei Stunden eingeschlossen verbringen werden. Markus Berg ist mittelgroß und kräftig. Auf dem runden Gesicht ein freundliches, etwas unsicheres Lächeln. Ich renne noch mal schnell los, um Kaffee zu holen. Als Erstes fällt mir das riesige Tattoo auf seinem Arm auf, eine Karte von Israel, die in eine Uhr reicht. Seine Vorstellung von der Zwei-Staaten-Lösung, wird er mir später erklären.Wie anfangen?, habe ich mich auf der Fahrt nach Werl gefragt, als ich die Briefe durchsah. Aber es geht ganz einfach, Berg erzählt von seiner Erleichterung, dass die Weihnachtstage vorbei sind. Ich frage nach dem Tagesablauf. Wecken um 5.30 Uhr morgens, um 6 Uhr der Aufschluss, dann Frühstück. Ab 7.15 Uhr, wenn die Vollzugsbeamten Besprechung haben, wird die Zelle wieder geschlossen. Danach beginnt für die Knastschüler der sechsstündige Unterricht, unterbrochen von Pausen und Mittagessen. Einschluss. Wer möchte, kann mittags eine Stunde im Innenhof spazieren gehen, um 17 Uhr Freizeit, in der man Leute treffen oder spielen kann. Um 20.30 Uhr ist Einschluss bis zum nächsten Morgen. In der elf Quadratmeter großen Zelle, von der mir Berg eine Skizze geschickt hat, gibt es TV und Radio, Wasserkocher und Kaffeemaschine. Außerhalb dürfen sich die Häftlinge nur in Anstaltskleidung zeigen, „damit man uns unterscheiden kann von normalen Besuchern. Man störte sich auch daran, dass ich Ohrringe trage. Und eigentlich möchte man, dass ich meine Tattoos unter langärmeliger Kleidung verberge.“Die Kippa wird einkassiertDoch Berg will sich „nicht verstecken und verbiegen“, das hatte er in seinen Briefen bekräftigt. Am ersten Tag hängt er eine große israelische Fahne über dem Bett auf, was eine Diskussion mit einem Beamten provoziert. Die Kippa wird ihm zuerst verboten, dann erlaubt, dann wieder einkassiert, weil das Geschenk der jüdischen Gemeinde, mit der er in Verbindung steht, doppelwandig war. Verboten, es könnte ja was darin versteckt sein. Die Muslime, erzählt Berg, dürften 40 Tage Ramadan feiern, Seelsorge für Juden sei nicht vorgesehen. Von den 200 Fernsehprogrammen kommen 142 aus dem Ausland, 60 bis 80 aus dem arabischen Raum, „da wird teilweise Propaganda in übelster Form betrieben, die Leute radikalisieren sich hier“. Die russischen Sender seien deshalb abgeschaltet worden. Ein Programm aus Israel gebe es überhaupt nicht. Manchmal schlägt Berg mit der Hand auf den Tisch, wenn ihn etwas empört. Man prüfe derzeit den Empfang eines israelischen Senders, schreibt mir die Pressesprecherin später.Placeholder image-3Als Berg nach Werl verlegt wurde, fragte man ihn nach dem Essen. Koscher? Man könne Lebensmittel kommen lassen, es wäre aber Aufwand. „Wenn die das richtig hätten machen wollen, müssten sie auch zwei Kühlfächer, zweimal Geschirr usw. vorhalten. Funktioniert hier nicht. Und ich bin auch nicht so streng gläubig, dass ich das draußen so halte. Das geht in meinem Beruf ohnehin nicht.“ Berg ist gelernter Koch, erfahre ich nun, in der JVA Neumünster, wo er vorher war, durfte er kochen. Die Massenabfütterung für 2,40 Euro am Tag und Person ist schlecht, deshalb kocht Berg manchmal für Mitgefangene. Doch die Lebensmittel, die er bei einem Großhändler, der viele Gefängnisse beliefert, bestellen muss, sind völlig überteuert. Auch darüber kann sich Berg aufregen. Von den 130 Euro monatlich, über die ein Inhaftierter verfügt und von denen er seine persönlichen Bedürfnisse decken muss, geht der Löwenanteil an den Großhändler.Mit den „Jungs“ in seiner Abteilung kommt Berg relativ gut klar, selbst mit einem Inhaftierten aus der rechten Szene kann er diskutieren. „Die hatten hier Angst, wir könnten aufeinanderprallen, aber mit der Zeit kamen wir gut miteinander aus und reden sogar über Politik.“ Witze über Juden auf seine Kosten nimmt er hin, aber wer ihm richtig dumm kommt, so mit „Na, mein jüdischer Freund?“, „Na, du Zionist?“, gegen den weiß er sich zu wehren. Überleben im Knast bedeutet, Härte und Stärke zu zeigen, auch körperlich. Berg ist gut beieinander. In seinem Text mit dem Titel „Schuld“ sinniert er: „Du bist schuld und schuldig. Doch dein Kopf macht dir sehr schnell klar, dass du dir hinter Mauern keine Schwäche leisten kannst und vor allem keine Schuldgefühle. Dein Kopf übernimmt die Führung und du hast keine Zweifel daran, dass dir deine Schuld nichts ausmacht. Im Gegenteil, sie ist deine Eintrittskarte. Je uneinsichtiger du bist, desto mehr respektieren dich. Du giltst dann als harter Hund.“Inzwischen sind fast zwei Stunden vergangen. Der Kaffeerest in den Pappbechern ist kalt geworden. Wir reden und reden und tauchen ein in die schwierigen Kernzonen, die Schuld, die auch etwas mit Bergs Familienverhältnissen zu tun hat. „In einer JVA muss man sich Ziele setzen“, erklärte er mir anfangs, als wir auf das geplante Abi zu sprechen kamen. Selbst wenn er früher entlassen werde, wegen guter Führung, müsse er ausharren, denn er erlangt erst im Sommer 2026 seine „Reife“. Das Abi, merke ich, ist mehr als nur sinnvolle Ablenkung im Knast. Alle in seiner Familie hätten Abitur, erzählt er. Er meint seine Pflegeeltern und die beiden Brüder. „Wenn ich das Abi habe, kann ich vielleicht noch mal nach Hause gehen. Es ist nie zu spät.“Dabei weiß Berg gar nicht, ob seine Pflegeeltern noch leben, der Kontakt ist irgendwann abgebrochen. Es gäbe einiges gutzumachen. Seiner Familie, sagt er, habe er alles zu verdanken, vor allem der Adoptivmutter: „Wir schaffen das, Markus“, sagte sie immer. Trotzdem haut er mit 16 ab, hält es nicht mehr aus, kommt in ein Kinderheim. Phasen der Kriminalität folgen. Dann wieder Normalität mit einer Freundin, für deren zwei Kinder er den Papa ersetzt. Die Beziehung zerbricht. Wieder Absturz. Es ist eine lange Enttäuschungsgeschichte, die nachzuzeichnen ein halbes Buch füllen würde. „Du bist gut so, wie du bist“, hat ihm der Vater immer gesagt. „Aber ich wurde wieder kriminell, habe betrogen, Eigentumsdelikte begangen. Ich meinte, nur durch das, was ich mir leisten konnte, nach außen wirken zu können. Ich habe gemeint, die Leute können mich nicht mögen, so wie ich bin.“Markus Berg hat einiges auf dem Kerbholz. „Und ich war nicht so clever, wie ich dachte. Das muss man sich eingestehen. Sie kriegen dich immer. Und wer mir sagt, dass Verbrechen sich lohnt, das ist Bullshit.“ Die Vorstellung, noch zweieinhalb Jahre in der JVA verbringen zu müssen, macht ihm manchmal Angst, die Einsamkeit ist oft quälend. „Wir hatten, seitdem ich hier bin, drei Suizide. Deshalb muss man etwas haben, womit man sich ablenken kann.“ Wäre er nicht wieder straffällig geworden und über eine abenteuerliche Ausreißer-Odyssee nach Schleswig-Holstein schließlich in der JVA Werl gelandet, hätte er sich sicher weiter engagiert in den KZ-Gedenkstätten, wo er öfter Jugendliche begleitet hat. Eine Weile lebte er auch in Berlin-Neukölln, da fühlte er sich wohl. Er hätte gegen die Rechten demonstriert, denn die Vorstellung, Björn Höcke könnte in Thüringen Ministerpräsident werden, macht ihn genauso verrückt wie das, was mit Israel passieren könnte: „Ich habe Angst um Israel“, sagt er.Im Sommer 2026: nach IsraelPlötzlich ist die Zeit um, viel zu schnell. Der Abschied ist etwas hektisch, ich muss zurück nach Berlin. Viel lieber würde ich jetzt mit Markus Berg zusammensitzen, bei einem Essen, das er gekocht hat, vielleicht sogar mit seinen Kumpels, die mir ihre Geschichte erzählen. Doch ich werde auf demselben kinoreifen Weg zurückgeleitet, mein Rucksack hat sich im Tresor verhakt, wieder eine hilfreiche Beamtin. Die Bücher fallen eingepackt in den Briefkasten, kommen zur Kontrolle. Werl ist noch trister als mittags, und mit einigen Jugendlichen warte ich im Dunkeln auf den Zug nach Unna, der dann ausfällt.Wir bleiben in Kontakt, haben wir versprochen. Gerne hätte ich auch mit dem Leiter der JVA gesprochen, doch das Interview, das ich zwischendurch beantragt hatte, wurde nicht genehmigt. Die Antworten der Pressesprecherin, die sie mir auf meine schriftlich eingereichten Fragen hin geschickt hat, fallen dürr aus. Sie handeln auch von den Angeboten für Drogensüchtige, die nicht so recht zusammenpassen mit dem, was ich gehört habe.Schon in einem Brief hatte mir Berg geschrieben, was er sich vorstellt, wenn sich im Sommer 2026 die Tore der JVA hinter ihm schließen. Am Abend in der JVA wiederholte er es: „Ich möchte, wenn ich hier rauskomme, weg aus Deutschland und nach Israel gehen. Und mein Traum ist es, dort mit meinen jüdischen und muslimischen Freunden zusammen im Café zu sitzen ohne Angst.“ Bis dahin wird Berg wahrscheinlich noch einige Beschwerden schreiben. Eine hat er mir kürzlich geschickt: Er will nicht hinnehmen, dass er die Beamten, die ihn vor seiner Entlassung probeweise „ausführen“, für 30 Euro verköstigen muss. Von 130 Euro im Monat.Placeholder infobox-1
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