Das gierige Ohr der Welt

Umgang mit der RAF Das Treffen zwischen Maier-Witt und dem Schleyer-Sohn versprach wenig Erkenntnis. Seine Inszenierung bediente lediglich die Bedürfnisse des Medienmarktes
Ausgabe 49/2017
Wenn etwas die völlig zerstrittene Ex-RAF geeint hat, dann das Übereinkommen, dass keiner den anderen „verpfeift“
Wenn etwas die völlig zerstrittene Ex-RAF geeint hat, dann das Übereinkommen, dass keiner den anderen „verpfeift“

Foto: Keystone/Getty Images

Allgegenwärtig war das Bild des „Sprungs“ in den 1970er Jahren. Im Wettlauf mit dem chinesischen „großen Sprung nach vorn“ wollte auch die selbsternannte Avantgarde im Westen nicht nachstehen und erfand ständig politische Selbsterweiterungen. Auch die RAF, so Karl-Heinz Dellwo in einer bemerkenswerten Selbstreflexion, die im Rahmen einer therapeutischen Gruppenbegegnung mit Ex-Kombattanten Anfang des Jahrtausends entstand, sei gesprungen, aber nirgendwo angekommen. Geblieben, so der einstige Besetzer der Stockholmer Botschaft, seien nur Traumatisierungen: die der ehemaligen RAF-Leute, aber auch die der Gesellschaft insgesamt.

Die RAF springt schon lange nicht mehr, nicht einmal in den eigenen Tod. Doch die Toten, die ihren Weg säumen, geistern wie Untote durch eine Zeit, die kaum mehr etwas von ihnen weiß, in der sie aber hochgehalten werden wie Tribut fordernde Signaturen. Jedes traurige Jubiläum fordert die ritualisierte Mahnung heraus, Schluss zu machen mit dem Schweigen, über den eigenen Schatten zu springen und zu sprechen.

Doch die Mediengesellschaft nötigt kein katholisches Bekenntnis im Beichtstuhl ab, das therapeutische Sprechen ist ihr zu privat, denn das gierige Ohr der Welt ist überall und reicht bis ins mazedonische Skopje, wohin sich die heute 67-jährige Silke Maier-Witt nach Verbüßung ihrer Haft zurückgezogen hat. Dass sie sich im Oktober in einem Brief bei Jörg Schleyer, dem jüngsten Sohn des 1977 entführten und ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, entschuldigt hat und so der Aufforderung des Bundespräsidenten gefolgt ist, war ein Akt privater Devotion: „Ich möchte Sie, wenn das überhaupt geht, um Verzeihung bitten.“ Dass die Bild daraufhin ein Treffen zwischen Maier-Witt und dem Schleyer-Sohn arrangierte und das Nichts ihrer Aussage in mehreren Folgen großmäulig vermarktet hat, folgt den Regeln des Medienmarktes.

Denn auch Maier-Witt hat entgegen allen Verlautbarungen nicht gesagt, wer am Abzug war, als Schleyer erschossen wurde. Sie war damals nur die Überbringerin der inhumanen Nachricht an die Deutsche Presse-Agentur, dass dessen „korrupte Existenz“ nun beendet worden sei. Dafür schämt sie sich heute. Ob sie überhaupt etwas über den Todesschützen weiß oder ihn nicht preisgibt, ob sie 1977 Statistin oder doch an prominenterer Stelle aktiv war, wie nun wieder spekuliert wird, spielt keine Rolle.

Beileibe ist Maier-Witt nicht das erste RAF-Mitglied, das sich zu einer Entschuldigungsgeste durchringt. Anzunehmen, sie „packe aus“, wäre in einer Situation, in der die drei letzten gesuchten Mitglieder der dritten RAF-Generation polizeilich wieder ins Fadenkreuz rücken, dagegen naiv. Wenn etwas die inzwischen völlig zerstrittene und in alle Winde zerstreute Ex-RAF geeint hat, dann das Übereinkommen, dass keiner einen anderen „verpfeift“. Wenn dieses Tabu fiele, wäre auch der Mythos am Ende.

Im Unterschied jedoch zu früheren Jahrzehnten unterliegt das gegenwärtige Schweigen anderen Gesetzen, und sie haben nicht in erster Linie damit zu tun, dass die Betroffenen in die rechenschaftspflichtigen oder -willigen Jahre kommen. Das Wissen in der Rückhand unterliegt konjunkturellen Schwankungen, die Valuta wird möglicherweise sinken. Was aber gewönne die Gesellschaft, die sich mit der Selbstaufklärung über diese Jahre so immens schwertut, wenn nun einer spränge? Das Wissen um den Tathergang mag die Angehörigen beschäftigen. Es erklärt nicht, warum überhaupt geschossen wurde.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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