Kindergrundsicherung: Die FDP will zementieren, dass jedes fünfte Kind in Armut lebt
Sozialstaat Finanzminister Christian Lindner und seine Partei blockieren das Koalitionsversprechen der Kindergrundsicherung – es geht der FDP dabei längst nicht nur um 5.000 zusätzliche Beamtenstellen
Familienministerin beim Fremdschämen: Lisa Paus neben Christian Lindner
Foto: Imago/photothek
Mit dem Satz, wir würden uns viel zu verzeihen haben, wird der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wohl in die Annalen eingehen. Schlecht für ihn, denn ganz so hat er, der die brisanteste Phase der Pandemie zu managen hatte, das nicht verdient. Man kann das Corona-Management in vielerlei Hinsicht kritisieren, aber niemand weiß, wie viel mehr Menschen gestorben wären, wäre es in einem dicht besiedelten Flächenstaat anders verlaufen. Die FDP war lange fast immer mit dabei. Aber jetzt kommen allenthalben die Besserwisser, die aus einer Katastrophe politischen Mehrwert einheimsen wollen.
Ein viel größeres Mea Culpa könnten sich der FDP-Vorsitzende Christian Lindner und seine Parteifreunde bald abringen müssen, soweit es um die Kinder
ie Kinder geht. Die Partei wird nämlich erklären müssen, warum sie Kindern in miesen sozialen Lagen keine Chance gibt, indem sie seit Monaten die Kindergrundsicherung blockiert. Sie wird erklären müssen, warum sie deren Eltern aus dem Bürgergeld bugsieren will, obwohl bekannt ist, dass der Prozentsatz wirklich Arbeitsunwilliger minimal ist. Und sie wird allen Kindern mit Großeltern, die nicht mehr können, weil sie lange malocht haben, sagen müssen, warum sie für den „Standort“ unverzichtbar sind und deshalb nicht früher in Rente gehen dürfen. Manchmal sind es gerade die Großeltern, die die nachkommende Generation unterstützen, was hierzulande oft vergessen wird. Die Kinderarmut, konstatierte der Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands kürzlich wieder einmal, hat jedenfalls einen neuen Rekord erreicht: Jedes fünfte Kind in Deutschland ist davon betroffen. Die FDP ist gerade dabei, diesen Zustand zu zementieren.Lisa Paus liefert MunitionDie Kindergrundsicherung ist das große sozialpolitische Projekt der Ampelkoalition und insbesondere der grünen Familienministerin Lisa Paus – oder sollte man lieber sagen, es war es, denn viel bleibt nicht davon übrig, selbst wenn es noch realisiert wird. „Wir wollen Kinder aus der Armut holen“, heißt es unmissverständlich im Koalitionsvertrag. Dass die zersplitterten Leistungen für Kinder zusammengefasst und entbürokratisiert werden sollten, war nur ein Aspekt, den die FDP nun aber totreitet, unter hilfreicher Zuarbeit der Ministerin, der nichts Besseres einfällt, als ihr Projekt mit 5.000 zusätzlichen Beamtenstellen für den neuen Familienservice zu bewerben, der die dann zentralisierten Ansprüche berechnen und auszahlen soll. Eine bessere Munition, um ihrer Herzenssache den Todesstoß zu geben, hätte sie kaum liefern können. Allerdings hat nicht sie die Kugeln gedreht, sondern die Bundesanstalt für Arbeit, die mit dieser Zahl schon seit November hausieren geht. Sie war lange bekannt.Der Skandal begann jedoch schon viel früher und geht nicht auf Paus’ Konto, sondern auf das der FPD. Denn Kinder aus der Armut holen, bedeutet auch, sie besser zu alimentieren, als das derzeit der Fall ist. Paus hatte dafür zwölf Milliarden Euro veranschlagt und vom Finanzminister sofort eins auf die Nase bekommen: Mit ihm nicht zu machen. Angesichts der 2,4 Milliarden Euro, die am Ende übrig geblieben sind, wären die 500 Millionen, den die neuen Staatsdiener vom Kuchen bekämen, sofern sie nicht anderweitig finanziert würden, ein ordentlicher Happen. Aber dass die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung in fast jedem Bereich im Neandertalerstadium steckt, hat sicher nicht die Familienministerin zu verantworten. Im Gegenteil könnte die Kindergrundsicherung das Pilotprojekt der Ampel werden, um zu zeigen, dass intelligenter Technikeinsatz die staatliche Bürokratie zu entschlacken hilft. Und bislang hat auch niemand ausgerechnet, wie viel Personal in Jobcentern, Arbeitsagenturen und Familienkassen durch die Zentralisierung der Kinderleistungen entlastet würde. Man hat auch nicht davon gehört, dass Frankreich durch die Caisse Familiale, die zentral alle Kinder- und Familienleistungen organisiert, pleitegegangen wäre. Im Gegenteil.Doch Lindner und seine FDP entrüsten sich vor allem über die Umkehrung der Verantwortung, die Lisa Paus ins Spiel gebracht hat, als sie statt von einer „Holschuld“, die einzutreiben den Familien obliegt, von einer „Bringschuld“ des Staates gesprochen hat und damit diesen dafür zuständig macht, dass das Geld zu den Kindern kommt.Die Freidemokraten fürchten nicht nur die Mehrausgaben, die mit voraussichtlich steigenden Anträgen auf den Staat zukommen, sondern den Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik, der damit einhergeht. Er fände es „verstörend“, ließ Lindner stellvertretend sofort nach Paus’ Interview wissen, „dass der Staat eine ‚Bringschuld‘ bei Sozialleistungen“ habe. Die Vorstellung, sich staatliche Leistungen erst einmal „verdienen“ zu müssen, indem man – nur in Bezug auf die Kinder! – bis zu acht Anträge stellen, seine Einkommenssituation entblößen und sich nötigen lassen muss, jeden Job anzunehmen, wie das von FDP und Union gerade wieder in Bezug auf das Bürgergeld gefordert wird, prägt bis heute die Philosophie des deutschen Sozialstaats. Nach dem Motto: Wer nicht arbeitet, darf auch nicht essen. Im Fall von Kindern, denen das kaum zugemutet werden kann, ist das besonders absurd.Nationalliberal ablebenDass der Gesetzesentwurf aus dem Hause Paus nicht perfekt ist, wurde in der Anhörung im Familienausschuss des Bundestags nur zu deutlich, viele Einwände waren berechtigt. Doch handwerkliche Mängel, die auch in anderen Ressorts an der Tagesordnung sind, können ausgebügelt werden. Der Widerstand der FDP gegen die Kindergrundsicherung ist so grundsätzlicher Art wie gegen das vereinfachte Bürgergeld und die Rente mit 63, zwei Räder, an denen die Partei momentan ebenfalls dreht beziehungsweise sie ausbremsen will. Und das ist nur teilweise mit politischem Kalkül zu erklären. Den fraglosen Überlebenskampf der Partei ausgerechnet mit dem Thema Kindergrundsicherung wenden zu wollen, ist ein Vabanque-Spiel, über das Lindner auch stolpern könnte.In der langen und stolzen Tradition des Liberalismus gab es eine Richtung, die sich ihrer sozialpolitischen Verantwortung stellte, angefangen von der Deutschen Fortschrittspartei im 19. Jahrhundert bis zu den Freiburger Thesen, die abgelöst wurden von den wirtschaftsliberalen Kieler Thesen, die den progressiven Teil der Partei ins Abseits drängten.Wie sehr sich die nationalliberale Grundstimmung, die zweite liberale Wurzel, durchgesetzt hat, lässt sich in einem Interview mit dem FDP-Bundestagsfraktionschef Christian Dürr in der Welt am Sonntag zum Bürgergeld nachlesen, in dem jede dritte Antwort mit dem Begriff „Verteidigungsfähigkeit“ flankiert ist. Man weiß nicht so richtig, wen er da vor allem im Blick hat: die Kinder als zukünftige Soldaten an der litauischen Grenze, die faulen Bürgergeld-Empfänger, die gefälligst den Standort erhalten sollen, oder die Rentner, die zu kostspielig sind, wenn sie – inzwischen mit 64 plus – in Frührente gehen? Ausruhen für die Erwachsenen ist künftig jedenfalls nicht, so die Ansage. Aber die Kinder! Wie gesagt, vielleicht wird die FDP noch einmal den Kotau machen. Nur ist dann vielleicht endgültig die Geschichte über sie gegangen.
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