Kindergrundsicherung: Essen oder lernen? Armselige Alternative für arme Kinder

Kolumne Für Kinder von angeblich arbeitsunwilligen Eltern gilt Sippenhaft. Lebenschancen fehlen, weil erwachsene, elitäre Politiker Einfachstes nicht begreifen: Auch unbezahlte Arbeit ist welche, und Kinder brauchen beides, Bildung und Ernährung
Ausgabe 36/2023
Hier wurde sich für Essen entschieden. Mindestens so wichtig wie gute Bildung, sollte man meinen
Hier wurde sich für Essen entschieden. Mindestens so wichtig wie gute Bildung, sollte man meinen

Foto: Imago/photothek

Marlen Hobrack schreibt die monatliche Freitag-Kolumne „Mutti Politics“. Zuletzt erschienen von ihr das Buch Klassenbeste: Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet und der Roman Schrödingers Grrrl

Wer nicht arbeitet, der soll nicht essen. So zitierte einst Franz Müntefering das Motto der Sozialdemokratie, das er offenbar der Bibel entnommen hatte. Doch nicht nur die SPD hat einen Arbeitsfetisch; auch die wochenlangen Debatten um die Kindergrundsicherung waren beherrscht von der Idee, Kinder, deren Eltern nicht arbeiten, hätten im Grunde genommen kein gutes, gesundes Essen verdient. Oder wie soll man das permanente Schwadronieren Christian Lindners über Arbeitsanreize verstehen?

Man dürfe keine falschen Anreize setzen, das Ziel müsse es sein, Alleinerziehende in Arbeit zu bringen. Diese Aussage ignoriert nicht nur, dass in den letzten Jahrzehnten der Anteil der arbeitenden Alleinerziehenden kontinuierlich gestiegen ist und erst 2020, im Jahr der Corona-Pandemie, leicht zurückging. Er ignoriert, dass Menschen in Deutschland arm sind trotz der Arbeit. Christian „Wenn-ich-in-Elternzeit-gehe-habe-ich-endlich-Zeit-zum-Angeln-und-Imkern-und-Schreiben“ Lindner wirft obendrein Jahrzehnte der Debatten um Care-Arbeit, die – Überraschung! – ebenfalls Arbeit ist, über Bord.

Ignoranz gegenüber basalen Zusammenhängen

Dass nicht alle im selben Maße in der Lage sind, der Erwerbsarbeit nachzugehen, liegt auf der Hand. Etwa wegen der Kinderbetreuung. Selbst wenn alle Bedingungen für Vollzeitarbeit erfüllt sind, ist es möglich, dass das erarbeitete Einkommen für eine drei- oder vierköpfige Familie schlicht nicht ausreicht, man also aufstocken muss. Diese basalen Zusammenhänge sollten selbst im Finanzministerium bekannt sein.

Die Idee, wonach Arbeit die beste Sozialhilfe sei, ist urdeutsch und bildete den gebetsmühlenartigen Sound der 2000er. Sie koppelt letztlich die Lebenschancen von Kindern an die Arbeitsmarktsituation für ihre Eltern. Schlechte Konjunktur, schlechte Jobaussichten – schlechte Lebenschancen. Denn die Rede von der Kinderarmut ignoriert, dass Armutserfahrungen in der Kindheit langfristige Konsequenzen haben. Wie überhaupt der Begriff der Kinderarmut verschleiert, dass Kinderarmut stets Elternarmut voraussetzt.

Armut kann Kinder einsam und depressiv machen

50 Prozent der Kinder, die ihren sozialen Status als niedrig einschätzen, leiden unter Einsamkeit und fühlen sich sozial ausgegrenzt, so zeigte es jüngst der DAK-Präventionsradar. Die Hälfte der Kinder mit niedrigem sozialem Status gibt zudem an, schlecht zu schlafen, allgemeine Erschöpfung ist ein weit verbreitetes Problem. Schlaflosigkeit, Erschöpfung und Einsamkeit – bei einem Erwachsenen würde man von einer Vorstufe einer Depression sprechen. Im Falle armer Kinder schweigen wir betroffen. Noch eine Zahl: Laut Eurostat, dem europäischen Statistikamt, können sich zwanzig Prozent der Deutschen keinen Urlaub leisten, darunter sehr viele Alleinerziehende. Sehr viele Kinder, die sich einsam und erschöpft fühlen, waren dieses Jahr nicht an einem Ostseestrand, um Burgen zu bauen; sie unternahmen keine ersten Tauchversuche in einem chlorierten Swimmingpool auf Mallorca.

Geht es um Kinder und deren Lebenschancen, werden wir mit einer Pseudowahl konfrontiert: „Wäre es nicht besser, gute Schulen und gute Kitas, gute Bildung also, zu finanzieren, statt das Geld in Transferleistungen zu stecken?“ Gegenfrage: Wäre es nicht denkbar, dass Menschen gleichermaßen essen und lernen wollen? Mit etwas Glück setzt sich diese Erkenntnis eines Tages auch im Finanzministerium durch. Wir dürfen gespannt sein!

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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