Sexuelle Übergriffe in Pflegeeinrichtungen: Die Hand gehört an den Rollator
Gewalt Alltag in deutschen Einrichtungen: Heimbewohner zeigen der Nachtschicht Pornos oder fassen sie an. Das Sexbedürfnis verschwindet im Alter nicht. Doch nicht wenige Senioren werden selbst zu Opfern
Mehr noch als häusliche Gewalt ist sexualisierte Gewalt in Pflegeeinrichtungen ein Tabuthema
Foto: Michael Malyszko/plainpicture
Die Staatsanwaltschaft in Ennepetal geht derzeit einem Fall nach, in dem ein 51-jähriger Mitarbeiter beschuldigt wird, in einem Pflegeheim neun dementen und widerstandsunfähigen Bewohnerinnen schwere sexuelle Gewalt angetan zu haben. Ein Jahr zuvor wurde in einem Psychiatrischen Pflegeheim in Rinteln der Verdacht laut, dass mehrere Pflegerinnen und Pfleger die ihnen anvertrauten Menschen in nicht akzeptabler Weise verbalsexuell attackiert haben sollen. Im Rotenburger Seniorenheim „Haus Stadtgarten“ ermittelte die Polizei 2021 gegen einen 35-jährigen Pfleger wegen „groben“, auch sexuell motivierten Verhaltens.
Es sind wohlgemerkt nur vereinzelte Fälle, die überhaupt aktenkundig werden und an die Öffentlichkeit kommen, meist stehen Mitarbe
en Mitarbeiter im Fokus. Denn mehr noch als häusliche Gewalt ist sexualisierte Gewalt in Pflegeeinrichtungen ein Tabuthema. Das gilt umso mehr, wenn es um ältere Menschen geht.Denn was sich hinter den Mauern von Heimen abspielt, will sowieso niemand so genau wissen. Angehörige, die mit diesem Thema konfrontiert werden, reagieren eher abwehrend.Es gibt auch die umgekehrten Fälle, etwa wenn männliche Heimbewohner Pflegerinnen in der Nachtschicht mit Pornos oder einschlägigen Handlungen „überraschen“ oder sie jungen Mitarbeiterinnen auf den Hintern klopfen, Witze oder schlüpfrige Bemerkungen loslassen. Entweder werden sie von der Umgebung nachsichtig belächelt – oder einfach ignoriert.Es gehe in beide Richtungen, sagt Christine Kunesch, die den Bereich „Alter und Pflege“ der Caritas Heilbronn-Hohenlohe verantwortet. Im Heim träfen Menschen aufeinander, die unterschiedliche Biografien mitbringen. „Es gibt die Pflegekraft, die schon häusliche Gewalt erfahren hat und sensibel auf derartige Übergriffe reagiert. Oder den hochaltrigen Pflegebedürftigen, der vielleicht ein Kriegstrauma mitbringt.“ Jeder Mensch habe durch seine Biografie sehr unterschiedliche Toleranzgrenzen.Das zuvor gelebte Leben, die Art und Weise, mit Sexualität umzugehen, folge mit ins Heim. „Wenn ich es zu Hause gewohnt war, Pornos zu schauen oder nackt in der Wohnung rumzulaufen, ist es schwer, das im stationären Bereich einfach abzulegen.“ Pornografie spiele in der Altenhilfe eine besondere Rolle: „Wenn man im Nachtdienst unterwegs ist, weiß man ganz einfach, was einen in manchen Zimmern erwartet. Wir hatten aber auch mal den Fall, dass ein Angehöriger Fotos vom Gesäß weiblicher Pflegekräfte gemacht hat.“Die Täter sind meist männlichDie Caritas hat gerade einen Aufklärungsfilm ins Netz gestellt, der sich an professionelle und ehrenamtliche Mitarbeiter in der Altenpflege wendet. Im Umgang zwischen Pflegenden und Gepflegten, so einleitend, gelte es immer, „die Balance zwischen Nähe und Distanz“ auszuloten. Die Animationsszenen thematisieren alltägliche Grenzüberschreitungen, die einmalig und nicht beabsichtigt sein können: zum Beispiel die nicht unbedingt nötige Berührung an intimen Stellen oder auffallend überflüssige Umarmungen. Aber auch sprachliche Entgleisungen und bewusste Übergriffe werden behandelt: Hände, die an bestimmte Stellen nicht hingehören, oder Angehörige, die intime Details über Bewohner:innen ausplaudern.„Das kann anfangen bei anzüglichen Bemerkungen“, berichtet Kunesch, „oder konkrete Pflegesituationen betreffen, etwa wenn eine bettlägerige Frau sagt, man solle im Intimbereich ‚mal fester rubbeln‘. Das kann falsch aufgefasst werden, als Nötigung oder als Einladung.“ Aber gerade in der Hektik des Pflegealltags wird dies oft gar nicht wahrgenommen, einfach verdrängt oder provoziert Frust. „Man kommt da als Pflegende auch an seine Grenzen“, erklärt Kunesch. „Geht man in ein Zimmer und hört Gestöhne, weiß man genau, jetzt muss man den Menschen komplett umziehen und das Bett neu beziehen. Man möchte den Betroffenen den Sex ja schon gönnen, aber es bedeutet auch viel Arbeit.“Wie in anderen Bereichen von sexualisierter Gewalt ist die Datenlage dürftig. Es gibt ein hoch einzuschätzendes Dunkelfeld. Die WHO geht davon aus, dass 0,7 Prozent der über 60-Jährigen von sexueller Gewalt betroffen sind. Generell gilt, dass Pflegebedürftige mit steigendem Alter, zunehmender Demenz und Mobilitätseinschränkung gefährdet sind. Nicht zuletzt ihr Bedürfnis nach Zuwendung macht sie zu Opfern sexueller Übergriffe. „Unabhängig davon, ob es sich um Mitarbeiter, Pflegebedürftige oder Angehörige handelt, so das Ergebnis einer im Februar dieses Jahres abgeschlossenen Studie des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) und der Deutschen Hochschule der Polizei, seien die Opfer meist weiblich und die Täter vorwiegend männlich.Wobei der Verdacht noch lange keinen Nachweis nach sich zieht, denn häufig finden die Übergriffe in den Abend- und Nachtstunden statt und es gibt keine Zeugen. Bei den ausgewerteten Fallakten traten vor allem Mitarbeiter:innen als Täter:innen in Erscheinung, die das Machtgefälle, das ihre Rolle mit sich bringt, ausnutzten. Ob das allerdings die tatsächliche Realität spiegelt, sei dahingestellt.Prostituierte im HeimImmerhin hatten 69 Prozent der in der ZQP-Umfrage befragten Leitungspersonen schon einmal mit einem entsprechenden Vorfall zu tun, wobei gewaltförmige Verhaltensweisen zwischen Heimbewohner:innen dominierten. Einer Studie der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege zufolge haben 62,5 Prozent der befragten Mitarbeiter:innen innerhalb von zwölf Monaten mindestens einmal nonverbale, 67,1 Prozent verbale und 48,9 Prozent körperliche sexuelle Belästigung und Gewalt durch von ihnen gepflegte oder betreute Personen erlebt. Verbale Gewalt würde von den Betroffenen als „besonders belastend“ wahrgenommen.Offenbar bringen die Beschäftigten solche Fälle seltener zur Anzeige. In der Praxis von Kunesch, die seit 2010 in der stationären Pflege arbeitet, ist das jedenfalls noch nie vorgekommen.Natürlich, räumt sie ein, wisse man nicht, was hinter verschlossenen Türen passiere – vor allem bei Menschen, die sich nicht mehr äußern können. Doch wenn sich Anhaltspunkte für einen Verdacht ergäben, würden Lösungen gesucht. Man ändert etwa Dienstpläne oder erörtert solche Probleme in Teamsitzungen. Seitens der Pflegekräfte, sagt Kunesch, sei die Haltung entscheidend. „Ich klopfe immer an, bevor ich in ein Zimmer gehe. Im stationären Bereich hat man eine enge Bindung mit den Bewohner:innen, man kennt sie und weiß, wie man sich verhalten muss.“Sinnvoll ist es, mit dem Thema Vertraute von außen miteinzubeziehen. Denn nichts ist schlimmer für eine Einrichtung als der Eindruck, man wolle einen solchen Fall unter den Tisch kehren. Das größte Problem sieht Christine Kunesch darin, dass Sexualität im Alter in der Gesellschaft einfach ausgeblendet wird. „Auch alte Leute haben sexuelle Bedürfnisse. Und unter Umständen muss man es ihnen ermöglichen, eine Prostituierte zu bestellen.“Doch: „Wer sich falsch verhält, egal von welcher Seite, muss zur Rechenschaft gezogen werden. Und da ist es manchmal auch sinnvoll, Anzeige zu erstatten.“