Sprengstoff für den Care-Diskurs

Die Buchmacher Die radikal-subversive Denkfabrik Kitchen Politics legt ein neues Buch über Reproduktion und Familie im 21. Jahrhundert vor. Nicht nur Akademiker sollten es lesen
Ausgabe 52/2015

Es war eine Provokation, als Marxistinnen in den 1970er Jahren nach den „blinden Flecken“ in der Theorie der politischen Ökonomie zu fahnden begannen. Dass Marx unbezahlte weibliche Reproduktionsarbeit schlicht als „naturhaft“ begriff und unter den „Familienlohn“ des männlichen Arbeiters subsumierte, empfanden linke Frauen als Skandal. Sie schufen damals das Fundament für die sich heute etablierende Theorie der Care-Arbeit.

Im Rahmen der neoliberalen globalen Arbeitsteilung sind Frauen immer noch für Sorgearbeit zuständig. Gleichzeitig übernehmen sie sogenannte klinische und reproduktionsmedizinische Tätigkeiten, die in den Wertkreislauf eingehen. Ob es sich nun um „Spenden“ von Körperstoffen, von Blut über Gewebe bis hin zu weiblichen Eizellen, handelt oder um Reproduktionsdienstleistungen wie die Leihmutterschaft, sie werfen ganz neue Fragen der Vertrags- und Familienverhältnisse auf.

Kitchen Politics, eine radikal-subversive Denkfabrik, interveniert seit kurzem mit einer gleichnamigen Buchreihe in der queerfeministischen Debatte. Das Kollektiv greift eine im angelsächsischen Raum schon weiter gediehene feministisch-marxistisch inspirierte Analyse des globalen Marktes für Reproduktionstechnologien auf, um über die Transformation von Arbeit, Reproduktion und Familie nachzudenken.

Dieses dritte Bändchen der Reihe, Sie nennen es Leben, wir nennen es Arbeit. Biotechnologie, Reproduktion und Familie im 21. Jahrhundert, birgt Sprengkraft. Die deutsche Übersetzung zweier richtungsweisender Aufsätze von Melinda Cooper und Catherine Waldby könnten die hiesige Diskussion beflügeln, gerade außerhalb akademischer Mauern.

Im ersten gehen die Autorinnen von den Auswirkungen aus, die die Krise des Fordismus auf den Familienlohn und die Reproduktionsverhältnisse hat. Auf dem globalen Markt werden nicht nur weibliche Körperstoffe für die klinische Forschung nachgefragt, sondern auch Eizellen und Leihmütter, um Kinderwünsche von Frauen in der westlichen Hemisphäre zu erfüllen. Bislang werden diese Märkte entlang sozialer und rassistischer Spaltungslinien reguliert. Der Besonderheit der Substanzen und der Tätigkeiten soll durch die Ideologie des Gabentauschs Rechnung getragen werden, obwohl es sich im Wertkreislauf um Produkte und um Arbeitsverhältnisse handelt. Das wirft Fragen etwa nach Eigentumsverhältnissen und Verfügungsrechten auf. Darüber hinaus nimmt Cooper das widersprüchliche Verhältnis von Vertrags- und Familienrecht im Hinblick auf Leihmutterschaft unter die Lupe und kritisiert das neue Bündnis zwischen Paternalismus und Liberalismus. In einem Interview konfrontieren Susanne Schultz und Felicita Reuschling die beiden Expertinnen anschließend mit kritischen Überlegungen und Einwänden: Sind Leihmütter und Eizellproduzentinnen klassische Arbeiterinnen, die auf ein Vertragsrecht pochen sollten? Gibt es tatsächlich strukturelle Ähnlichkeiten mit der Sexarbeit? Ist die deutsche Verbotsforderung von Eizellspende und Leihmutterschaft obsolet angesichts globaler Märkte? Oder gibt es doch ein „Surplus“ von Körperarbeit, die der Kapitalismus nicht unterwerfen kann?

Abschließend fasst Schultz noch einmal die Konfliktlinien in der aktuellen Debatte zusammen und verweist auf die strategischen Bündnisse zwischen Familienpolitik, Demografie und Reproduktionsmedizin. Reuschling dagegen fragt nach den utopischen Potenzialen der Reproduktionstechnologien für das menschliche Zusammenleben.

Info

Sie nennen es Leben, wir nennen es Arbeit Kitchen Politics Max Henninger (Übers.) edition assemblage 2015, 152 S., 9,80 €

Illustrationen zu dieser Ausgabe

Die Bilder der Ausgabe sind illustrierte Zukunftsvisionen von Klaus Bürgle aus dem vorigen Jahrhundert: „90 Prozent waren Forscherwissen, das andere Fantasie und Konstruktion.“ Mehr über den extraterrestrischen Grafiker erfahren Sie im Beitrag von Christine Käppeler

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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