Ungleichheit wirkte an Schulen vor der Krise

Coronakrise Privatschulen bleiben auch digital fortschrittlich, während „Brennpunktschulen“ nicht nur hinterherhinken, sondern zur gesundheitlichen Bedrohung werden
Ausgabe 17/2020
Im hessischen Heppenheim holen Kinder und Eltern Unterrichtsmaterialien an der geschlossenen Grundschule ab
Im hessischen Heppenheim holen Kinder und Eltern Unterrichtsmaterialien an der geschlossenen Grundschule ab

Foto: Alex Grimm/Getty Images

Die Krise bringt es an den Tag und verstärkt die negativen Effekte, schrieb eine amerikanische Freundin kürzlich und meinte damit die ungleiche Risikoverteilung bei der Pandemie für die Armen und Reichen des Landes. Etwas Ähnliches lässt sich in Deutschland beobachten. Zumindest an den Schulen offenbaren sich nun die lange nur wegverwalteten Missstände, von maroden sanitären Einrichtungen über Baumängel bis hin zum Lehrermangel. Während die Privatschulen im digitalen Bildungswettlauf vorwärtsmarschieren und die Nach-Corona-Elite heranbilden, ächzen „Brennpunktschulen“ nicht nur wie üblich hinterher, sondern entwickeln sich, wie eine Lehrerin aus Nordrhein-Westfalen drastisch formulierte, zu „Durchseuchungs-Orten“.

Denn offenbar gibt es nicht nur systemrelevante Berufe, sondern auch mehr und weniger systemrelevante Kinder und Jugendliche. Für letztere wird der Schutzauftrag des Staats obsolet, weil es weder genügend Pädagogen gibt, um die abstandsgebotenen kleinen Gruppen zu unterrichten, noch Wasser, Seife und Luft – schulpädagogische Basalbestände des 19. Jahrhunderts! –, um die notwendige Hygiene zu gewährleisten. Das gilt sogar für jene wenigen Klassen, die nun die Schule wieder besuchen.

Über die Wiedereröffnung von Kitas und Schulen ist ein heftiger Streit entbrannt. Während die einen die Beschulung der altersmäßig vernünftigeren Kinder für vertretbar halten, pochen andere mit vielen guten Gründen auf die pädagogisch adäquate Verwahrung der Jüngeren. Die Empfehlung der Nationalen Akademie Leopoldina, die Kitas bis auf Weiteres geschlossen zu halten, hat viel Empörung ausgelöst, weil, wie etwa die Leiterin des Wissenschaftszentrums Berlin, Jutta Allmendinger, kritisiert, den Kindern dadurch der Kontakt zu anderen Kindern und das soziale Lernen vorenthalten würde. Sie verweist aber auch auf die Situation der Alleinerziehenden und Frauen, die wegen der Zwangsbespaßung des Nachwuchses berufliche Nachteile erleiden. Unterstützung kommt von ungewöhnlicher Seite: Unter dem Motto „Bildung muss gerechter werden“ reklamiert Michael Hüther vom arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft die baldige Wiederbeschulung der Jüngeren. Kinder bildungsferner Schichten würden abgehängt, da Platz, Computer und Lehrmaterial fehlen.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung wiederum fordert ein Corona-Elterngeld als staatliche Lohnersatzleistung zwecks Arbeitszeitverkürzung. Die Wirtschaft sorgt sich: um den Arbeitsnachwuchs, die erwerbstätigen Eltern, die die Wirtschaft braucht, aber auch wegen der Produktivitätsausfälle der Beschäftigten, für die die Unternehmen nicht aufkommen wollen. Ein Zielkonflikt, der auf den Staat abgewälzt werden soll. Dass sich 16 Bundesländer jetzt nicht einmal darüber einigen können, welche Berufsgruppen systemrelevant und per Kinder-Notbetreuung zu entlasten sind, gehört zu den Possen eines Föderalismus, der in dieser Krise ohnehin nicht die beste Figur macht.

Die Dänen sind einen klareren Weg gegangen und haben unter strengen Auflagen Kitas und Schulen bis zur Klassenstufe 5 wieder geöffnet. In Deutschland wären davon rund 4,2 Millionen Kinder betroffen – doch wer soll die in kleinen Gruppen betreuen, wo der Staat dies nicht einmal in normalen Zeiten zufriedenstellend schafft, wie der Wettbewerb um Kita-Plätze zeigt? Die Krise verstärkt eben nicht nur die negativen Effekte der Ungleichheit, sondern auch die falscher politischer Weichenstellungen – nicht nur im Gesundheitssystem.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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